Pflege überschreitet oft Grenzen – die der Nacktheit, der Privatheit, der Intimität. Hier kann leicht unsere Würde oder die eines anderen Menschen verletzt werden. Dann empfinden wir oder der andere Scham. Nehmen wir diese Scham bewusst wahr, kann sie ihre schützende Funktion als „Wächterin menschlicher Würde" entfalten.
Wenn wir Menschen in die Situation kommen, auf die Hilfe anderer für unsere täglichen Verrichtungen angewiesen zu sein, dann brauchen wir ein Gegenüber, das unsere dabei aufkommenden Schamgefühle achtet und beachtet. Wenn wir auf der anderen Seite sind, also die Hilfe leisten, dann brauchen wir das Wissen und die Kompetenz, mit Schamgefühlen umzugehen – denen des anderen und den eigenen. Dazu ein ganz alltägliches Beispiel: Ein junger Auszubildender geht in das Krankenzimmer einer jungen Patientin, die sich nach ihrem Fahrradunfall und multiplen Frakturen nicht selber versorgen kann. Sie braucht dringend und schnell die Bettpfanne. Als sie fertig ist, sieht er, dass er die Bettpfanne so untergeschoben hat, dass das Bett nass wurde. Der junge Mann und die junge Frau schämen sich.
Dass sie sich schämen, wissen wir, weil wir die Scham alle kennen – Scham ist universell. Wie stark sie die Scham empfinden, wissen wir aber nicht, denn Scham ist auch individuell. Kommen beide aus unterschiedlichen Kulturen, kann auch dies das Schamerleben beeinflussen, Scham ist kulturell verschieden.
Wie auch immer, beide müssen nun etwas tun, um mit der Scham umzugehen. „Undoing shame" nennt das Heimerl (2006, S. 388) in ihrer Studie zu Intimwäsche auf Intensivstationen. Wenn der junge Mann erschrocken und mit hochrotem Gesicht die Frau um Entschuldigung bittet, weil ihm das passiert ist und sie ihm verzeiht, haben sie Großes geleistet. Die Scham ist nämlich eine der schmerzhaftesten Emotionen, die wir Menschen kennen. Darum gehen wir häufig nicht offen damit um, sondern versuchen, sie zu vermeiden oder zu kaschieren. Etwa indem wir betont lässig auftreten, den Blick abwenden, schweigen, bagatellisieren, den anderen beschämen oder beschimpfen – um nur einige mögliche Schamreaktionen zu nennen. Damit schützen wir uns, denn die Scham ist nicht nur schmerzhaft, sie schützt uns auch, wenn unsere Grenzen überschritten werden. Einen Fehler zu machen – wie hier die Bettpfanne nicht korrekt unterzuschieben –, mit Ausscheidungen oder Nacktheit umzugehen, überschreitet unsere natürlichen Schutzgrenzen. Die Scham ist das Gefühl, das uns davor warnt, diese Grenzen weiter zu verletzen. Wurmser (1997) spricht hier von der Scham als der „Wächterin menschlicher Würde".
Nun müssen Pflegende aber ständig die Grenzen der Patientinnen und Patienten überschreiten. Sie müssen sie ausziehen, berühren, anschauen, nach Ausscheidungen oder anderen intimen Dingen fragen. Damit überschreiten sie auch ihre eigenen Grenzen. Essenziell wichtig ist, WIE sie das machen. Es geht nicht darum, dass Scham vermieden werden könnte, sondern es geht darum, überflüssige Scham zu vermeiden. Davon hängt ab, ob die Würde der auf Hilfe angewiesenen Personen geachtet wird.
Die Würde ist (unan)tastbar
Die Würde von Menschen wird nicht nur verletzt, wenn sie gedemütigt oder gefoltert werden. In der Pflege brauchen wir ein differenzierteres Verständnis von Würde. Da wird die Würde verletzt, wenn etwa bei der Visite jemand entblößt wird, ohne auf den nötigen Sichtschutz zu achten. Oder wenn das Bedürfnis, von gleichgeschlechtlichen Pflegekräften versorgt zu werden, missachtet wird, obwohl dies möglich wäre.
Ebenso wichtig für die Vermeidung überflüssiger Scham sind strukturelle Bedingungen, zum Beispiel dass es Räume gibt, in denen Intimität geschützt ist. Oder dass genügend Personal vorgehalten wird, um den Versorgungsauftrag professionell erfüllen zu können. Es gibt unzählige Beispiele in der Pflege, bei denen deutlich wird, dass Fingerspitzengefühl, Wissen und Können gebraucht werden, um die Würde zu wahren – die Würde ist eben nicht immer unantastbar, wie es im Grundgesetz heißt, sondern oft auch tastbar.
Marks (2010, 2013) nennt vier Grundbedürfnisse, die unsere Würde schützen: Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität.
Das Bedürfnis nach Anerkennung: Wir Menschen brauchen es, gesehen und anerkannt zu werden. Werden wir missachtet, das heißt, jemand wird wie Luft behandelt, übergangen, oder bloßgestellt, spricht man von Missachtung auf individueller Ebene. Sie kann aber auch strukturell geschehen, indem bestimmte Personen oder Gruppen als minderwertig behandelt oder ausgegrenzt werden. Dies drückt sich zum Beispiel auch in dem Bild aus, das wir gesellschaftlich von alten Menschen oder von Menschen mit Behinderung haben.
In der Pflege setzt die Anerkennung darum auch auf beiden Ebenen an. Im direkten Kontakt geht es darum, die Bedürfnisse eines auf Hilfe angewiesenen Menschen anzuerkennen und soweit möglich zu berücksichtigen. Das können beispielsweise Wünsche nach einem bestimmten Essen, religiöse Bedürfnisse, oder auch vertraute Körperpflegeprodukten und -gewohnheiten sein. Dazu gehört auch, dass Menschen ihre vorhandenen Fähigkeiten, zum Beispiel zur Intimpflege, einsetzen können und diese nicht abgenommen bekommen, weil es schneller geht.
Auch Pflegekräfte haben das Bedürfnis nach Anerkennung. Sie können sich gegenseitig anerkennen, nicht, wie ein Stationsleiter in einer Studie sagte „Wir brauchen keine Feinde, wir machen uns selber fertig" (Wettreck, 2001, S. 24). Dazu ist nötig, sich selber an-zu-er-kennen, das heißt die eigenen Grenzen, die eigene Scham zu kennen, in den jeweiligen Situationen zu erkennen und sich damit auch anzuerkennen.
Strukturell kann die häufig belastende Arbeit von Pflegekräften anerkannt werden, indem ihnen Möglichkeiten der professionellen Reflexion wie Supervision zur Verfügung gestellt werden, Auszeiten nach sehr belastenden Tätigkeiten oder schöne Räumlichkeiten für Pausen. Und indem gesellschaftlich die Anerkennung für diese Arbeit ihren Ausdruck in ausreichenden Ressourcen findet.
Das Bedürfnis nach Schutz: Das Bedürfnis nach Anerkennung drückt unser Bedürfnis aus, gesehen zu werden. Demgegenüber balanciert das Bedürfnis nach Schutz diese Offenheit aus, indem es anzeigt, dass andere uns nicht immer und nicht alles von uns sehen sollen. In der Pflege kann dieser Schutz vor den Blicken anderer gewährt werden, indem zum Beispiel Zimmertüren geschlossen gehalten oder ein Sichtschutz aufgestellt wird.
Pflegende können vor dem Zugriff anderer schützen, indem sie darauf achten, dass zum Beispiel jemand auf dem Toilettenstuhl nicht von der Visite überrascht wird. Schutz hat viel mit der Regulierung von Nähe und Distanz zu tun. Wir Menschen sind unterschiedlich in unseren Bedürfnissen nach Nähe und Distanz. Eine Grundvoraussetzung für Schutz ist deshalb, das eigene Bedürfnis nach Nähe nicht unreflektiert oder ungefragt auf andere zu übertragen. Aber auch für seinen eigenen Schutz zu sorgen, ist wichtig und kann bedeuten, jemandem freundlich und mit Anerkennung die eigene Grenze deutlich zu machen.
Nicht nur in der Kriegsgeneration sind Frauen vergewaltigt worden. Davon auszugehen, dass die Intimpflege für jemanden schwierig sein kann, den nötigen Schutz dabei zu gewähren, hilft, überflüssige Scham zu vermeiden.
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit: Wenn wir ausgegrenzt werden, dann ist das sehr schmerzhaft für uns Menschen. Auch hier ist wieder das „Sehen" zentral, nämlich das Ansehen, das wir in der Öffentlichkeit genießen. Wenn wir etwas getan haben, was in den Augen der anderen falsch war, entziehen sie uns manchmal die Zugehörigkeit. Dann werden wir ausgegrenzt, an den Rand gestellt. Nicht über die Menschen zu reden, sondern mit ihnen, beispielsweise in der Pflege oder im Mehrbettzimmer darauf zu achten, dass niemand ausgegrenzt wird, vermittelt ein Gefühl von Zugehörigkeit. Gegen die Ausgrenzung von Andersartigkeit können wir uns immer einsetzen, zum Beispiel im Team.
Das Bedürfnis nach Integrität: Während es beim Bedürfnis nach Zugehörigkeit um die Erwartungen der anderen geht, zeigt das Bedürfnis nach Integrität die Übereinstimmung des Seins mit den eigenen Werten an. Diese Scham wird auch die „Gewissensscham" genannt. Wir verletzen dieses Grundbedürfnis immer dann, wenn wir unsere Werte verletzen, sei es durch Handlungen oder durch Unterlassungen. Wenn wir Zeugen von Unrecht werden und nicht eingreifen, können wir Scham empfinden, weil wir damit unsere Integrität verletzt haben. Oder wenn wir selber entgegen unseren inneren Überzeugungen handeln.
Die Integrität zu wahren, ist für viele Pflegekräfte in der heutigen Zeit schwierig, weil sie nicht entsprechend ihren Werten pflegen können. Eine Studie der FH Münster (Buxel 2011) beschreibt das erschreckende Ergebnis, dass „über zwei Drittel der Befragten (Pflegekräfte) bemängeln, dass sie zur Erledigung der Aufgaben und für die Zuwendung zum Patienten nicht ausreichend Zeit haben und die anfallende Arbeit in der dafür vorgesehenen Zeit kaum zu schaffen ist." (S. 6) Diese hohe Zahl an Pflegekräften kann mit Schamgefühlen zurückbleiben, weil sie „etwas schuldig geblieben sind", den Patientinnen und Patienten, aber auch sich selber. Hier kann es wichtig sein, für die eigene Integrität zu sorgen, indem Missstände an entsprechenden Stellen angezeigt werden, man sich für die Veränderung einsetzt und zusammenschließt.
Umgang mit Sexualität und Wahrung der Würde
Diese vier Grundbedürfnisse soweit wie möglich bei sich selber zu wahren, ist die Grundvoraussetzung, dass sie auch bei anderen gewahrt werden können. Pflegende können viel tun, indem sie Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität innerhalb der Berufsgruppe und in interdisziplinären Teams leben. Dann werden sie sensibel sein für die Wahrung dieser Grundbedürfnisse bei den ihnen anvertrauten Menschen und werden sich dafür einsetzen.
Ein besonders sensibler Bereich pflegerischer Arbeit ist der Umgang mit der Sexualität. Dieses zentrale Thema wird hier nur angerissen, empfohlen wird aber eine vertiefte Auseinandersetzung damit, zum Beispiel mithilfe unseres Buches (Marks & Immenschuh, 2014).
In dieser Hinsicht können drei Bereiche, die Pflegende professionell bewältigen müssen, unterschieden werden:
- aufkommende Erotik und sexuelle Bedürfnisse, ausgelöst durch Pflegesituationen,
- sexuelle Bedürfnisse als existenzieller Teil der zu pflegenden Menschen,
- Umgang mit sexistischem Verhalten in der Pflegesituation.
Erotik und Sexualität sind elementare Bedürfnisse von uns Menschen. Da ist es nur natürlich, dass sie auch aus Pflegesituationen nicht wegzudenken sind. Mit einer Erektion bei der Intimpflege würdevoll umgehen zu können, setzt voraus, dass Schamgefühle bei sich selber und beim Patienten/Bewohner nicht verleugnet, sondern wahrgenommen werden. Und dass die körperliche Reaktion darauf als normal akzeptiert ist.
Aber auch Bedürfnisse nach Nähe und Zuwendung, sowohl auf der Seite der Pflegenden als auch der zu Pflegenden bedürfen des professionellen Umgangs mit Nähe und Distanz. Diese reflektieren und damit einordnen zu können, ist grundlegend, damit aus der Abhängigkeit der Pflegesituation keine unangemessenen Beziehungen mit schlimmen Folgen kreiert werden (Schäperkötter 2006).
Dass wir Menschen sexuelle Bedürfnisse haben, so lange wir leben, wissen wir. Dass die, die auf pflegerische Hilfe angewiesen sind, diese auch haben, ist noch nicht so lange im Bewusstsein und in den Lehrplänen der Pflege. Der Umgang damit ist, so meine Beobachtung, noch sehr unbeholfen. Während das Anklopfen, bevor ein Krankenzimmer betreten wird, inzwischen zum Standard gehört, gibt es doch selten Räume, in welchen Intimität ungestört möglich ist. Ein Schild an der Zimmertür, auch im Krankenhaus, oder ein schöner Raum dafür, wären Möglichkeiten, um sexuelle und erotische Gefühle in die Normalität holen und damit aus der Tabuzone herausführen zu können.
Ein schwieriger Bereich ist immer wieder, wenn vor allem weibliche Pflegekräfte mit sexistischen Äußerungen, vorwiegend von männlichen Patienten, umgehen müssen. Und wenn sie dafür nicht selten auch noch verantwortlich gemacht werden, nach dem Motto: „So wie du auch auftrittst ...". Es braucht ein kollegiales Klima, Möglichkeiten, diese Situationen im professionellen Rahmen zu besprechen, und klare Vorgehensweisen der Wertschätzung allen Beteiligten gegenüber.
Sexualität ist ein Grundbedürfnis wie Essen und Trinken und muss darum genauso Beachtung finden. Der Umgang damit ist von Heimerl unter dem Begriff „undoing shame" sehr gut beschrieben. Diese Gefühlsarbeit zu beherrschen, ist Teil des professionellen Anspruchs an Pflege und darf nicht im Tabubereich der Negierung von Gefühlen verborgen bleiben.
Würdevolle Pflege – auch eine Frage der Strukturen
Scham, Würde und Pflege gehören untrennbar zusammen. Würdevolle Pflege zu gewährleisten, hat damit zu tun, dass sich jede Pflegekraft mit ihrer eigenen Scham(biografie) und mit der Scham in Pflegesituationen auseinandersetzt und dass sie diese Gefühlsarbeit im Alltag leben kann. Reflexionsfragen für Alltagssituationen leiten sich aus den vier Grundbedürfnissen ab: dem Bedürfnis nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität.
Das reicht aber nicht, wenn Strukturen, in denen Pflege geleistet wird, unwürdig sind. Rahmenbedingungen wie Supervision oder andere Formen professioneller Reflexion, genügend Personal und adäquate räumliche Ausstattung bestimmen mit, ob würdevoll gepflegt werden kann. Rahmenbedingungen sind nicht ohne den gesellschaftlichen Rahmen zu denken, der entscheidend dafür ist, welche Ressourcen bereitgestellt werden.
Scham und Würde in der Pflege geht alle an, denn: Wenn die Scham als „Hüterin menschlicher Würde" (Wurmser 1997) aus der Tabuzone heraus ans Licht geholt wird, kann sie uns bei den in der Pflege unvermeidlichen Grenzverletzungen warnen und damit überflüssige Scham vermeiden helfen. Bei denjenigen, die Pflege leisten genauso wie bei denjenigen, die sie in Anspruch nehmen (müssen). Es wird fühlbar würdevoller – die Würde in der Pflege ist tastbar geworden.
Buxel, H. (2011): Jobwahlverhalten, Motivation und Arbeitsplatzzufriedenheit von Pflegepersonal und Auszubildenden in Pflegeberufen. Ergebnisse dreier empirischer Untersuchungen und Implikationen für das Personalmanagement und -marketing von Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen. Studienbericht, FH Münster: www.fh-muens ter.de/oecotrophologie-facility-management/downloads/buxel/2011_Studie_Zufrieden heit_Pflegepersonal.pdf (letzter Zugriff am 23.02.2016)
Heimerl, B. (2006): Choreographie der Entblößung: Geschlechterdifferenz und Personalität in der klinischen Praxis. Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 5, Oktober, S. 372–391
Immenschuh, U. & Marks, S. (2014): Scham und Würde in der Pflege. Ein Ratgeber. Mabuse-Verlag, Frankfurt
Marks, S. (2010): Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Marks, S. (2013): Scham – die tabuisierte Emotion. Ostfildern: Patmos (4. Aufl.)
Schäperkötter, H. (2006): Sexueller Kontakt zwischen Pflegenden und Patienten – ein Tabuthema? In: Psych Pflege 12, S. 198–204
Wettreck R. (2001): Am Bett ist alles anders. Perspektiven professioneller Pflegeethik. LitVerlag, München
Wurmser, L. (1997): Die Maske der Scham. Zur Psychoanalyse von Schamaffekten und Scham-konflikten, Berlin: Springer-Verlag (3. Aufl.)