Weniger Pflegende müssen immer mehr Aufgaben übernehmen. Das führt zu hektischen Abläufen. Eine neue Initiative des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe will zum Nachdenken im pflegerischen Alltag anregen. Wie „Slow Care" konkret aussehen soll, haben wir die beiden Initiatorinnen gefragt.
Frau Dr. Müller, Frau von Spee, Sie haben gemeinsam eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich dem Thema Entschleunigung in der Pflege widmet. Warum?
Müller: Pflegende sind immer unzufriedener mit ihrem Job. Der Zeitdruck steigt und damit nimmt auch die Schnelligkeit der Prozesse zu. Die pflegerische Kunst liegt darin, eine Geschwindigkeit zu finden, der die auf Pflege angewiesenen Menschen folgen können und die professionelle pflegerische Wahrnehmung sowie Beobachtung zulässt.
von Spee: Und das geht am besten mit Bedacht. Deshalb haben wir gemeinsam mit einem Kollegen die Aufmerksamkeitskampagne Slow Care auf den Weg gebracht.
Wie definieren Sie Slow Care?
von Spee: Slow Care versteht sich als eine Bewegung, die Pflege in angemessener Geschwindigkeit anstrebt und Raum für wechselseitige Resonanz lässt. Denn Pflege ist stets interaktive Beziehungsarbeit.
Woher stammt die Idee für Slow Care?
Müller: Sie entstand am Rande einer Mitgliederversammlung unseres Regionalverbands des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe in Stuttgart. Damals ging es um eine Analyse des Ist-Zustands in der Pflege. Schnell kam die Idee auf, den ständigen Rationierungs- und Beschleunigungsprozessen etwas entgegenzusetzen.
von Spee: Die Arbeitsverdichtung und der Stellenabbau in der Pflege nehmen seit Jahren zu. Im Prozess der Ökonomisierung häufen sich die Situationen, in denen Pflegende gegen ihr eigenes Wertesystem arbeiten. Das macht über längeren Zeitraum krank und gefährdet langfristig die professionelle pflegerische Versorgung der Bevölkerung.
Zum Thema Slow Care haben Sie eine entsprechende Broschüre veröffentlicht. Darin beschreiben Sie die Bewegung mit den Merkmalen „gut, fair, nachhaltig, regional". Was meinen Sie damit im Einzelnen?
Müller: Mit den Schlagworten orientieren wir uns an der erfolgreichen Bewegung „Slow Food". Da Pflege fast genauso flächendeckend wie Nahrung das Leben einer Gesellschaft sichert, fanden wir diese Werte sehr passend. Gut meint dabei, dass Pflege eben nur gut sein kann, wenn die Rahmenbedingungen den Pflegenden eigenverantwortliche Entscheidungs- und Handlungsspielräume lassen, wenn Pflegende bedürfnisorientiert die Pflegeprozesssteuerung übernehmen.
von Spee: Gut kann Pflege auch nur sein, wenn die finanzielle Ausstattung einer theoriegeleiteten Pflegefachlichkeit entspricht und wenn der Selbstpflege der Pflegenden Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Was bedeutet faire Pflege?
von Spee: Faire Pflege ist heute sehr komplex. Menschen mit sehr verschiedenen Qualifikationen arbeiten zusammen und bedürfen eines qualifikationsentsprechenden Einsatzes. Faire Pflege baut auf einen verbindlichen Dienstplan auf und wird angemessen entlohnt. Sie ermöglicht individuelle berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und fördert individuelle Potenziale.
Inwiefern kann Pflege nachhaltig sein?
Müller: Nachhaltig kann Pflege nur sein, wenn den demografischen Entwicklungen frühzeitig konzeptionell begegnet wird. Sie versteht sich als vernetztes Handeln über institutionelle und disziplinäre Gräben hinaus. Nachhaltig kann Pflege aber auch nur sein, wenn sie Anschluss an neue Technologien erhält.
Und wie sieht regionale Pflege aus?
von Spee: Regionales Pflegen lebt von der Vernetzung mit den Akteuren vor Ort und fördert einen sinnvollen Ressourceneinsatz. Mit einer guten Verzahnung der Angebote werden Synergieeffekte gemeinsam genutzt und aufeinander abgestimmt. Regionale Pflege ermöglicht eine langfristige Begleitung und Unterstützung der Menschen mit Hilfebedarf.
Wie wollen Sie den Gedanken von Slow Care verbreiten?
Müller: Ende April haben wir zunächst unseren Mitgliedern im Regionalverband die neue Broschüre und das Konzept dahinter ausführlich vorgestellt. In einem weiteren Schritt ist angedacht, weitere Akteure aus der Pflegeszene mit ins Boot zu holen. So wollen wir Landes-pflegeräte, Dachorganisationen der Pflegeverbände und Verantwortliche der bundesweit neu entstehenden Pflegekammern einbeziehen. Auch die Referate für Pflege in den einzelnen Landesministerien für Gesundheit und Soziales hoffen wir, von unserem Konzept überzeugen zu können, ebenso aber auch die gesundheitspolitischen Sprecher der großen Parteien.
Welche konkreten Maßnahmen wollen Sie im Rahmen von Slow Care umsetzen?
von Spee: Zunächst einmal: Wir sind gespannt, ob sich außer Pflegende auch andere Berufsgruppen angesprochen fühlen – schließlich brodelt es derzeit überall im Gesundheitssystem. Daher finden wir es wichtig, für verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten offen zu sein.
Was können Pflegende tun, um im Sinne von Slow Care zu pflegen?
Müller: Wir wollen zunächst einmal Stein des Anstoßes sein und das Bewusstsein für die Situation schärfen. Schön wäre es natürlich, wenn aus der Initiative eine bundesweite Aktion werden würde. Jede Pflegefachkraft ist aufgerufen, das Thema in ihr Arbeitsfeld zu tragen und dort zu diskutieren. Unsere Broschüre kann dabei helfen, sicher zu argumentieren. Ideal wäre es überdies, wenn ein Ruck durch die Gesellschaft gehen würde und aus Slow Care genauso eine bundesweite Bewegung werden könnte wie aus Slow Food und anderen Slow-Initiativen. Die Zeit dafür ist jedenfalls reif.
Was erhoffen Sie sich, wird sich mit Slow Care ändern?
von Spee: Slow Care bricht mit der Überzeugung, dass mehr geleistet wird, wenn man schneller agiert. Vielmehr gilt das Sprichwort „Wenn Du es eilig hast, gehe langsam", also Tempo drosseln. Slow Care kann durch ein sensibles Bewusstsein für die eigene Geschwindigkeit die professionelle Wahrnehmung und Beobachtung verbessern. Bei frühzeitig wahrgenommenen Veränderungen kann agiert und nicht erst verspätet zur Schadensbegrenzung reagiert werden. Slow Care verbessert sowohl die Fremd-, als auch die Selbstwahrnehmung. Damit ist letztlich Pflegen in der Zeit und nicht gegen die Zeit möglich.
Für Ihre Initiative viel Erfolg und vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Müller und Frau von Spee.
Die Broschüre „Slow Care – Pflegebewegung in der Zeit" steht unter https://www.dbfk.de/de/ueber-uns/region-suedwest/index.php zum kostenfreien Download zur Verfügung.

Dr. phil. Elke Müller, 66, war bis vor kurzem stellvertretende Vorsitzende des geschäftsführenden Vorstands im Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe Südwest. Sie ist Lehrerin für Krankenpflege (Diplom) und Pflegewissenschaftlerin. Mail: elkemueller.pflewiss@t-online.de

Adelheid von Spee, 48, ist Vorstandsmitglied im Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe Südwest. Sie ist Germanistin und Gerontologin. Mail: avspee@web.de