In Kliniken und Pflegeheimen wird zu wenig bewegt. Dabei ist das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Bewegungsförderung zwar oft vorhanden, aber es mangelt schlicht an Zeit, beklagt Prof. Dr. Angelika Zegelin, pensionierte Professorin der Universität Witten/Herdecke. Sie plädiert dafür, jede Chance der Bewegungsförderung im Pflegealltag zu nutzen – und ein Umfeld zu schaffen, das Menschen motiviert, ihr Bett und ihr Zimmer zu verlassen.
Frau Professor Zegelin, es ist jetzt etwa zehn Jahre her, dass Ihre Dissertation zum Thema Bettlägerigkeit erschienen ist. Was war das zentrale Ergebnis dieser Arbeit?
Ich habe in meiner Dissertation den Prozess des Bettlägerigkeit-Werdens beschrieben. Eine ganz wichtige Erkenntnis war dabei, dass die Ortsfixierung – als Vorstadium der Bettlägerigkeit – viel häufiger ist als die Bettlägerigkeit selbst. Den Begriff Ortsfixierung gab es zuvor gar nicht, mittlerweile ist er in alle Lehrbücher aufgenommen worden.
Was meinen Sie mit Ortsfixierung genau?
Das heißt, die Leute können den Ort, an dem sie sich aufhalten, nicht mehr selbstständig wechseln. Sie brauchen Hilfe, um vom Bett in den Sessel, vom Sofa in den Rollstuhl, von dort auf die Toilette zu gelangen und so weiter. Die Betroffenen fühlen sich „festgenagelt" – so beschreiben sie das auch selbst – und bleiben viel sitzen. Sie verlernen das Stehen und Gehen immer weiter. Erschreckend ist vor allem, dass bei alten Menschen dieses Stadium der Ortsfixierung oft sehr schnell erreicht wird – manchmal reicht schon eine Woche Krankenhausaufenthalt – und dass es vielfach von Ärzten und Pflegenden einfach so hingenommen wird. Die Leute können nach einer Woche nicht mehr laufen, und das wird einfach so akzeptiert!
Wie sieht der typische Prozess des Bettlägerig-Werdens aus?
Dieser Prozess vollzieht sich in fünf Phasen. Er beginnt mit Instabilität: Die Personen sind in ihrer Bewegung leicht eingeschränkt, haben im Winter Angst, nach draußen zu gehen, brauchen vielleicht einen Rollator. Dann folgt ein Ereignis, zum Beispiel ein Krankenhausaufenthalt, ein Heimeinzug, ein Sturz oder auch Beinahe-Sturz. Danach wird die Beweglichkeit dieser Personen plötzlich rapide schlechter – meist innerhalb weniger Tage. Es kommt zur Immobilität. Die Personen bewegen sich wenig, es sind aber noch einige Schritte selbstständig möglich. Schließlich kommt es zur Ortsfixierung als viertes Stadium, in der die Betroffenen nicht mehr selbstständig aufstehen können und nur noch im Stuhl oder Rollstuhl sitzen. Die Bettlägerigkeit ist erst die letzte Phase. Hier lassen sich je nach Liegestunden am Tag eine leichte, mittlere und schwere Form unterscheiden.
Lässt sich diese Spirale durchbrechen?
Ja, die lässt sich jederzeit durchbrechen. Nur: Je länger man wartet, desto größer ist der Aufwand. Die besten Chancen, die Mobilität effektiv zu fördern, bestehen in der Phase der Immobilität, in der die Betroffenen noch wenige Schritte selbst gehen können. Aber auch eine bestehende Bettlägerigkeit kann rückgängig gemacht werden. Das dauert allerdings sehr lange.
Was hat sich rückblickend in den letzten zehn Jahren im Bereich der Bewegungsförderung getan?
Eine Menge. Zunächst war es wichtig, dieses neue Wissen in die Praxis zu tragen. Ich habe zusammen mit anderen Mitarbeitern der Universität Witten/Herdecke rund 200 Vorträge und Hunderte Seminare zum Thema Bewegungsförderung gehalten und etwa 40 Artikel veröffentlicht. Wir haben das Thema in alle Lehrbücher gebracht und viele Praxis-, aber auch Forschungsprojekte angestoßen.
Und hat sich dadurch in den Kliniken und Pflegeinrichtungen etwas geändert?
Ja, das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Bewegungsförderung ist auf jeden Fall gestiegen. Aber die Handlungsmöglichkeiten sind gleichzeitig gesunken. Bewegungsförderung kostet Zeit, man muss Patienten und Bewohner dabei begleiten. Diese Zeit ist durch den Personalabbau aber nicht mehr da.
Wie schätzen Sie die Situation im Moment ein? Wird ausreichend mobilisiert?
Ich würde klar sagen: Nein. Einige Einrichtungen haben sich zwar auf den Weg begeben, aber noch erhält die Bewegungsförderung lange nicht die Aufmerksamkeit, die ihr gebührt. Hier wird der neue Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mobilität" hoffentlich einiges ändern. Die stiefmütterliche Rolle der Bewegungsförderung wird auch daran deutlich, dass sie weder in den Qualitätsberichten der Heime noch bei den MDK-Prüfungen eine Rolle spielt. Der MDK hinterfragt auch bis heute den Einsatz des Rollstuhls nicht. In vielen Pflegeheimen werden Bewohner einfach in den Rollstuhl gesetzt und verbringen dort den ganzen Tag. Dabei handelt es sich oft um reine Transportrollstühle, die in keiner Weise individuell angepasst sind. Es scheint vor allem darum zu gehen, tagsüber keine Transfers mehr durchführen und nur noch den Rollstuhl bewegen zu müssen. Rollstühle sind damit definitiv ein Zeichen für eine nicht ausreichende Bewegungsförderung und sollten sehr kritisch betrachtet werden. In der ambulanten Pflege ist die Be-wegungsförderung sogar überhaupt nicht vorgesehen, sie kann hier gar nicht abgerechnet werden.
Wie ist die Situation im Krankenhaus?
Ganz düster, einfach, weil die Zeit nicht ausreicht. Zum Glück liegen die Patienten nicht so lange im Krankenhaus, aber hier wird eine Immobilität oft initialisiert. Der Muskelabbau geht gerade bei älteren Menschen sehr schnell. Da reichen oft wenige Tage.
Was raten Sie Pflegenden, die Ihnen sagen: Wir würden gerne mobilisieren, aber wir haben zu wenig Zeit?
Es gibt einige Dinge, die Pflegende tun können. Sie können die Angehörigen einbinden und ihnen zeigen, wie man Menschen aus dem Bett mobilisiert. Sie können darauf drängen, dass mehr Physiotherapie verordnet wird. Und sie können ihre eigenen pflegerischen Tätigkeiten überprüfen und überlegen, welche sich davon reduzieren oder um einen Tag verschieben lassen. Ein Beispiel: Das Waschen des Patienten oder Bewohners wird heute meist immer noch als wichtiger angesehen als das Bewegen. Dabei hat es deutlich schwerwiegendere Folgen, wenn ich eine immobile Person einen Tag nicht bewege, als einen Tag nicht wasche. Hier könnte ich bei Zeitmangel überlegen, nur eine Katzenwäsche durchzuführen und die gewonnene Zeit für eine Bewegungsförderung zu nutzen.
Sie empfehlen, aus jeder Pflegeintervention eine Bewegungsaktion zu machen. Wie kann das aussehen?
Das ist ganz einfach. Wenn ich zum Beispiel mit einem Bewohner oder Patienten ohnehin zum Waschbecken gehe, drehe ich einfach nochmal eine zusätzliche Runde durchs Zimmer. Das ist wenig zeitaufwendig, hat aber einen sehr positiven Effekt. Wenn ich das Essen zum Patienten bringe, kann ich den Patienten dabei unterstützen, sich auf den Stuhl an den Tisch zu setzen. Oder wenn ich eine Infusionsflasche wechsle, kann ich den Patienten gleichzeitig bitten, mal die Arme an die Decke zu strecken oder die Füße kreisen zu lassen. Bei allen pflegerischen Tätigkeiten, die ohnehin erfolgen, sollte ich mich bemühen, gleichzeitig eine Bewegung zu initiieren. Dazu kann man sich auch im Team ein gemeinsames Konzept überlegen oder kleine Anleitungen schreiben.
Sie setzen sich für das „Drei-Schritte-Programm" ein. Was ist das genau?
Das heißt, dass im Rollstuhl sitzende Menschen bei allen ohnehin notwendigen Transfers die letzten Schritte mit Hilfe gehen. Diese Methode ist aus meiner Sicht äußerst erfolgreich und eignet sich wirklich für alle immobilen Menschen, damit diese überhaupt mal wieder stehen oder ein paar Schritte gehen.
Viele Pflegeheime bieten heute Balance- und Krafttraining an. Ist das aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Alles, was die Bewegung fördert, ist sinnvoll. Die Bewegungsförderung ist dann aber sozusagen „outgesourct". Es ist eher ein medizinisches oder physiotherapeutisches Konzept. Wichtig ist aber gerade die Bewegungsförderung im Pflegealltag. Diese sollte mit Sinn, Freude und der Biografie des Einzelnen verknüpft sein. Eigentlich sind wir alle als Couch potatoes programmiert. Wir bewegen uns nur zielgerichtet. Es muss also ein Anreiz da sein, damit wir uns überhaupt bewegen. Im häuslichen Umfeld müssen sich die Leute ja auch bewegen, allein um den Briefkasten zu leeren oder sich aus dem Kühlschrank etwas zu trinken zu holen. Das entfällt im Pflegeheim. Der Servicegedanke, der mit dem Heimkonzept einhergeht, ist also schädlich.
Wie lässt sich das ändern?
Wir können im Pflegeheim beispielsweise die Bewohner ihre Blumen im Zimmer selbst gießen lassen, ihnen sinnvolle Aufgaben übertragen, vielleicht auch auf anderen Wohnbereichen, damit sie mal einen anderen Ort aufsuchen müssen. Bewegung kann anstrengend sein und Schmerzen verursachen. Alte Leute bewegen sich nicht einfach so, wir müssen ihnen schon etwas Interessantes anbieten, damit sie motiviert sind. Wir müssen also Leben in die Bude bringen.
Um mehr Leben ins Krankenhaus zu bringen, haben Sie das Konzept der Klinikspaziergänge entwickelt. Was ist das Ziel?
Die Klinikspaziergänge sind so etwas Ähnliches wie ein Rundgang oder ein Parcours, der durchs Krankenhaus führt. Dieser umfasst verschiedene Stationen oder Haltepunkte, an denen es etwas Interessantes zu lesen oder zu schauen gibt, aber auch eine Gelegenheit zum Ausruhen. Mit diesen Klinikspaziergängen kann die Bewegungsförderung im Krankenhaus unterstützt werden, auch können Besucher eingebunden werden. Mittlerweile haben viele Krankenhäuser solche Klinikspaziergänge – oft auch unter einem speziellen Motto – etabliert.
Was kann im Krankenhaus weiter getan werden, um auch bei knappen Personalressourcen die Mobilität der Patienten zu fördern?
Wichtig ist, dass sowohl Ärzte als auch Pflegende die Wichtigkeit der Bewegung in Gesprächen immer wieder betonen und beispielsweise sagen: „Sie müssen viel herumlaufen" oder „Es ist wichtig, dass Sie auch im Bett Bewegungsübungen machen." Man könnte auch eine regelrechte „Bewegungszeit" ausrufen, die beispielsweise täglich von 14 bis 16 Uhr gilt. Pflegende können die Besucher bitten, mit dem Patienten durch die Klinik oder über die Station zu laufen. Grundsätzlich sollte überdacht werden, ob wirklich alles – wie Essen und Medikamente – ans Bett gebracht werden muss. Dieses Service-Denken, aber auch die Architektur eines Krankenhaus blockieren eine gute Bewegungskultur.
Warum die Architektur?
Auf fast allen Stationen gibt es lange Flure ohne Sitzmöglichkeit. Viel besser wäre, wenn alle paar Meter eine Sitzecke wäre, sodass sich Patienten, die über den Flur laufen, auch mal hinsetzen können. Sinnvoll wäre auch ein großer Essensraum, damit die Patienten zum Essen aufstehen, in einen anderen Raum gehen und sich dort an den Tisch setzen müssen. Aber dafür gibt es keine Räumlichkeiten. Ich würde auch für eine zentrale Medikamentenverteilung plädieren. Es ist wichtig, nicht alles ans Bett zu bringen, zumindest bei Patienten, die noch aufstehen können.
Was muss sich sonst noch ändern?
Bewegung ist für mich die zentrale ATL, von der viele weitere abhängen. Sie ist lange als Stiefkind behandelt worden und muss viel stärker als Schwerpunkt betrachtet werden. Bewegung ist zentral für die Stimmung, die Kommunikation, das Denken. Gerade Denken und Bewegen hängen eng zusammen, und es deutet alles daraufhin, dass Immobilität zu einem kognitiven Abbau führt. Diese Zusammenhänge sollten allen, die in der Pflege arbeiten, klar sein. Raussetzen allein reicht nicht. Jeder Bewohner und jeder Patient sollte wenigstens ein paar Schritte am Tag gehen. Gerade im Krankenhaus gibt es viel Nachholbedarf, was die Bewegungsförderung betrifft. Allerdings weiß ich auch nicht, wie das besser werden soll, wenn im Frühdienst gerade mal drei Pflegende für 40 Patienten zuständig sind.
Ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Professor Zegelin.

Dr. Angelika Zegelin ist pensionierte Professorin und Pflegewissenschaftlerin der Universität Witten/Herdecke. Sie hat in ihrer Dissertation zum Thema Bettlägerigkeit geforscht und beschäftigt sich seitdem mit dem Thema Bewegungsförderung.