Neue Formen der Zusammenarbeit, bessere Arbeitsbedingungen und veränderte Qualifikationsprofile sind erforderlich, um die steigende Zahl an Pflegebedürftigen künftig angemessen zu versorgen. Der aktuelle Pflege-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt hierzu Lösungswege auf.
Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland wird in den kommenden Jahren deutlich steigen. Die gesellschaftliche Bedeutung der Pflege wird damit immens zunehmen. Es hat lange gedauert, bis die Pflege als eigenständiges wissenschaftliches Themenfeld akzeptiert worden und in der Mitte des gesellschaftspolitischen Diskurses angekommen ist. Der Pflege-Report 2016 will vor diesem Hintergrund dazu beitragen, dass die Pflege auf eine Weise Beachtung findet, wie es ihrer immensen Bedeutung gebührt. In zehn Fachbeiträgen werden Herausforderungen, die mit dem Berufsbild Pflege in Verbindung stehen, systematisch analysiert und Lösungswege aufgezeigt.
Hintergrund
Der Pflege-Report ist eine neue jährliche Publikationsreihe des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). In diesem Jahr erschien der Pflege-Report zum zweiten Mal. Ziel ist es, Entwicklungen, Bedarfe und Lösungsstrategien für die pflegerische Versorgung aufzuzeigen. Am Pflege-Report wirken eine Vielzahl renommierter Experten aus Pflege, Medizin, Ökonomie, Gesundheitswissenschaft und Politik mit.
Grenzen überwinden
Um künftig eine bestmögliche pflegerische Versorgung zu gewährleisten, kommt es entscheidend darauf an, einerseits die Pflegebedarfe sowie andererseits die Potenziale ehrenamtlicher Helfer und professionell Pflegender sinnvoll aufeinander abzustimmen. Zu diesem Schluss kommen die Autoren Görres, Seibert und Stiefler. Die Literaturlage lasse den Schluss zu, dass ein hoher Bedarf an einem sektoren- und berufsgruppenübergreifenden, systematischen und evidenzbasiertem Versorgungsmix besteht. Darauf müssten sich Einrichtungen und Angehörige der Gesundheitsberufe künftig einstellen. In diesem Zusammenhang werden neue Technologien aller Voraussicht nach erheblich an Bedeutung gewinnen, wenngleich das Ausmaß heute noch nicht abschätzbar ist. Fest steht aus Sicht der Autoren aber schon heute, dass das Potenzial des Technikeinsatzes im Gesundheitswesen längst nicht ausgeschöpft ist. So könnte beispielsweise mithilfe moderner Kommunikationstechnologien eine faktische Anwesenheit von Angehörigen selbst bei großer Distanz erreicht sowie die Mündigkeit und Autonomie von Pflegebedürftigen mittels multimedialer Informationssysteme gestärkt werden. Der integrierte Einsatz von Telecare, Telenursing und Telemedizin werde die Versorgungsprozesse zudem deutlich umstrukturieren. Dies werde auch zu einer veränderten Rollenverteilung und Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen und pflegenden Angehörigen führen. Diesem Wandel müssten sich, so die Autoren, alle Beteiligten stellen. Die wohl wichtigste Weichenstellung bestehe darin, die vielfältigen Grenzen innerhalb der Versorgungsstruktur zu überwinden, die einer zielgerichteten Koordination von Gesundheitsleistungen im Wege stehen.
Arbeitsbedingungen verbessern
Der notwendige strukturelle Wandel erfordert auch eine Auseinandersetzung mit der Qualifikation der eingebunden Berufe, allen voran der Pflegeberufe. In der Pflegebildung ist derzeit vieles in Bewegung, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Die Autoren Kälbe und Pundt sehen die geplanten Reformen der Pflegeberufe allein jedoch nicht als ausreichend an, um die Attraktivität des Pflegeberufs zu steigern. Flankierend müssten auch die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse verbessert werden. Die zunehmende Akademisierung der Pflege sei mit Blick auf die Qualität der Versorgung positiv zu bewerten, wenngleich sie aktuell immer noch durch die vielfach als unattraktiv empfundenen Arbeitsbedingungen überlagert wird, so die Ergebnisse der Autoren Lehmann und Behrens. Bogai, Seibert und Wiethölter legen dar, dass trotz der starken Nachfrage nach Pflegenden auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitsentgelte bislang auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau geblieben seien. Sie variierten regional erheblich, zudem verdienten examinierte Altenpfleger etwa ein Fünftel weniger als Fachkräfte in der Gesundheits- und Krankenpflege. Vor diesem Hintergrund diskutieren die Autoren Greß und Jacobs die erheblichen finanziellen Auswirkungen einer Angleichung des Vergütungsniveaus in der Altenpflege an das Niveau in der Gesundheits- und Krankenpflege. Bei diesem Szenario müsste mit einem jährlichen Finanzierungsbedarf von mehreren Milliarden Euro gerechnet werden. Hinzu kämen weitere Kosten für den Ausbau der Akademisierung und eine verbesserte Personalausstattung. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass dieser finanzielle Mehrbedarf über das derzeitige Finanzierungssystem nicht nachhaltig und sozial gerecht gedeckt werden könne und plädieren deshalb auch für einen Finanzierungsbeitrag der privat Pflegepflicherten. Letztlich halten sie die Etablierung einer Pflegebürgerversicherung für erforderlich. Höhmann, Lautenschläger und Schwarz legen dar, dass viele Pflegende über eine starke Berufsbindung und ein hohes Interesse verfügen, bis zum Renteneintritt im Beruf tätig zu sein. Allerdings könne sich dies bei den gegenwärtigen Belastungen im Berufsalltag nur jeder zweite Pflegende vorstellen. Nach Ansicht der Autorinnen können eindimensionale Veränderungen das Problem nicht lösen. Vielmehr seien Interventionen erforderlich, die gleichgerichtete Ziele auf allen Ebenen anstreben.
Veränderungen zulassen
Neben den beruflich Pflegenden nimmt der Pflege-Report auch die Belange der pflegenden Angehörigen in den Blick. Auch sie sind erheblichen Belastungen ausgesetzt, denen entgegengesteuert werden muss. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss hierbei in den Blick genommen werden, um vorhandene Potenziale besser ausschöpfen zu können. In der Gesamtschau der Beiträge im Pflege-Report wird deutlich, dass der als notwendig erachtete Strukturwandel in der pflegerischen Versorgung durch veränderte Qualifikationsprofile und neue Formen der Zusammenarbeit begleitet werden muss. Es gilt, sich dem Wandel zu stellen und Veränderungen zuzulassen. Mit Blick auf die professionelle Pflege werden im Pflege-Report zahlreiche Handlungsoptionen diskutiert, um die Attraktivität des Berufs zu verbessern. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die Reform der Ausbildung und die voranschreitende Akademisierung mit Blick auf die Versorgungsqualität zwar positiv eingeschätzt werden. Um tatsächlich die Attraktivität des Berufs zu steigern, werden aber insbesondere die Arbeitsbedingungen hervorgehoben. Abgerundet wird der Pflege-Report durch eine ausführliche empirische Analyse zur Entwicklung der Pflegebedürftigkeit in Deutschland sowie zur gesundheitlichen Versorgung von Pflegebedürftigen auf Basis von AOK-Routinedaten.