Pflege ist Vielfalt und Individualität zugleich. Pflege ist so viel mehr. Ein Plädoyer von Fachkrankenpfleger und Pflegewissenschaftler Carsten Hermes für die Zukunft einer Branche, die an einer Weggabelung steht.
Liebe Community, einige von euch kennen mich. Ich duze jetzt einfach und habe nach wenigen Worten schon zwei Probleme: Anglizismen und politische Korrektheit, oder heißt es „political correctness“? Wie dem auch sei, diese Kolumne dient ganz bewusst dazu, Fachverbänden die Möglichkeit zu geben, zu aktuellen intensivpflegerischen Themen ein persönliches Statement abzugeben.
Das möchte ich in diesem Fall nicht. Diesmal geht es um uns, und das möchte ich einmal schreiben. Im Grunde ist es nach Karl Valentin doch schon so: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ Und dennoch kommt es auf die Sprache und Konnotation an. Und es ergreift uns, wenn wir Pflegefachfrau, Medizinstudentin und Poetry-Slammerin Leah Weigand „ungepflegt“ zuhören: „Wir sind auf Kante genäht, und es wird nicht besser. Und jede Pflegekraft, die geht, reißt das Loch noch größer. Jeder weiß das und nichts passiert. […] Pflegen ist existenziell und außerdem toll. Pflegen ist generell und anspruchsvoll. Du sagst, du könntest das ja nicht. Ich sag, wir auch nicht. Nicht so.“ Und dann kommt Stille.
Es ist alles gesagt, nur noch nicht von jedem. Muss daher jeder noch mal die Probleme benennen? Ist das die Rolle, die wir spielen? Spielt es eine Rolle? Du und ich sind systemrelevant. Glückwunsch – und jetzt? Ich glaube, dass wir gerade jetzt an einer Weggabelung stehen und uns wirklich zusammenraufen müssen. Wir brauchen jetzt Pflege. Nur was ist das? Wer ist das?
Es sind wir. Du und ich. Verschieden und dennoch gleich. Letzteres ist etwas, das uns behindert: Gleichheit. Dabei ist Pflege vor allem eines: bunt und das Abbild der Diversität der Gesellschaft. Keine andere Profession ist das so wie wir, und dennoch lassen wir es selbst nicht zu.
Wir bilden Krabbenkörbe: Krabben könnten angeblich leicht aus einem solchen Korb herauskriechen, doch hinderten sie sich gegenseitig daran. So steht der Krabbenkorbeffekt für eine Metapher: „Wenn ich es nicht haben kann, kannst du es auch nicht haben.“ Sobald eine Person aus einem Team heraussticht, besonders erfolgreich oder auch einfach glücklich ist, wird sie nicht selten von anderen sabotiert, angegriffen oder sonst irgendwie zu bremsen versucht. So sind wir momentan sehr mit uns beschäftigt und kommen dabei in eine operative Hektik – Pflegealltag.
„Pflege findet nicht immer am Bett, aber immer für und mit Menschen statt.“ Dabei stehen natürlich die uns anvertrauten Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt, doch damit ist es nicht getan. Pflege ist auch ganz viel um die eigentliche, direkte Patientenversorgung herum. Integration und Mitbetreuung von Familien und Angehörigen, Anleitung, Organisation und Management, Aus-, Fort- und Weiterbildung, Vermittlung zwischen verschiedenen Professionen, Sorge tragen bei und auch aushalten von physischen und psychischen Belastungen in besonders herausfordernden Situationen oder der Umgang mit ethischen Grenzsituationen. All das ist Pflege.
„Pflege findet nicht immer am Bett, aber immer für und mit Menschen statt.“ Das war und ist mein Wahlspruch für die Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen gewesen. Noch so ein Thema, für das wir mehr Energie nach innen und gegenseitige Emotionalität als in eine geschlossene Außenwirkung geben. Ebenda bei der Diskussion über Arbeitsformen und Angestelltenverhältnisse. Dabei ist es doch einfach und dennoch nicht simpel. Ein Magnet sorgt doch dafür, dass zwei unterschiedliche Pole eine mystische Anziehung haben und manchmal nicht mehr zu lösen sind. Und dennoch versuchen wir selbst beim Magnetkonzept, alles gleichzumachen und in eine Richtung auszurichten.
Trotzdem bin ich gekommen, um zu bleiben. Tausend Worte, um auszudrücken, was ich denke. Am Ende bleibt eines: Wir sind es, die es in der Hand haben. Deutschland, sollen wir weglaufen oder uns überlegen, wer wir sind, wer wir sein wollen, wo wir hinwollen, wie wir wirken und wie wir sprechen und wahrgenommen werden?
Ein Beispiel: Wir sprechen häufig von Pflegekräften, aber das Wort Pflegekraft ist falsch. Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Wir sind Personen, Menschen mit Gesicht und Namen und ganz individuellen Fähigkeiten. Wir sollten uns nicht durch Sprache entpersonalisieren lassen. Pflegekraft mag ein gebräuchlicher Begriff sein, aber er kann die Vielfalt und Einzigartigkeit jedes Einzelnen von uns nicht erfassen. Um im physikalischen Sprachbild zu bleiben: Ich sehe oft viel Masse und das Wirken der Trägheitsgesetze. Ist es vielleicht aber keine Trägheit, sondern das, was eine Gruppe zusammenhält? Gemeinsamkeiten? Brauchtum und Tradition? Ja, auch ich vermisse Zeiten des gemeinsamen Essens, ist doch hierfür kein ökonomischer Freiraum mehr. Schade eigentlich. Das gemeinsame Mahl ist so viel mehr als die Zahl der Kalorien.
Doch in der Pflege geht es nicht nur um Worte, sondern um Taten. Wir sind mehr als die Begriffe, die uns umgeben. Wir sind diejenigen, die die Pflege gestalten und leben. Unsere Arbeit ist komplex, herausfordernd und oft unsichtbar, aber sie ist von unschätzbarem Wert. Wir sind diejenigen, die Tag für Tag die Trägheitsgesetze überwinden, um für unsere Patienten und ihre Familien da zu sein. Wir sind diejenigen, die den Pflegealltag gestalten, sei es am Bett oder in der Gemeinschaft.
Pflege ist kein Job. Wir sind kein Assistenzpersonal. Es ist ein Beruf und eine Ehre, besondere Fähigkeiten zu haben und entwickeln zu dürfen. Wenngleich Pflege eine ehrbare Tätigkeit ist, stellt sie doch kein Ehrenamt dar! Wir sind Profis und brauchen entsprechende Bedingungen, Entlohnung und Entwicklungsmöglichkeiten. Wir brauchen Spezialisierungen und sollen die Spezialisten bitte zulassen.
Wir sind es, die die Pflegebranche am Leben erhalten. Und wir sind es, die eine Veränderung bewirken können. Wir müssen uns nicht in Krabbenkörbe sperren und uns gegenseitig sabotieren. Stattdessen sollten wir die Vielfalt und Individualität in unserer Berufsgruppe schätzen und fördern.
Es ist an der Zeit, unsere Identität nicht von Begriffen wie „Pflegekraft“ definieren zu lassen, sondern von unseren Taten und unserem Engagement für die Menschen, die auf uns angewiesen sind. Das sind alle. Auch wir selbst.
Wir haben es in der Hand, die Pflege zu gestalten und zu prägen. Dazu ist es aber wichtig, dass wir unser Potenzial erkennen und uns gemeinsam für eine bessere Zukunft der Pflege einsetzen. Diese Arbeit wird uns niemand abnehmen. Sind wir dazu nicht bereit, wird unsere gesamte Berufsgruppe weiterhin fremdbestimmter Spielball zwischen den verschiedenen (berufs)politischen Akteuren und Interessenvertretern bleiben.
Wir sind nicht nur systemrelevant; wir sind unersetzlich. Deutschland, lass uns nicht weglaufen, sondern gemeinsam den Weg in eine Pflegebranche gestalten, die stolz auf ihre Vielfalt und Stärke ist. Es ist an der Zeit, dass unsere Arbeit und unser Beitrag angemessen anerkannt werden. Wir sind gekommen, um zu bleiben – für die Pflege, für die Menschen und für eine bessere Zukunft.