• 17.08.2021
  • PflegenIntensiv
Literaturanalyse

Dekubitus: Welchen Nutzen haben Assessment-Instrumente?

PflegenIntensiv

Ausgabe 3/2021

Seite 46

Obwohl Assessment-Instrumente zur Einschätzung des Dekubitusrisikos aus pflegewissenschaftlicher Sicht umstritten sind, kommen sie in der Praxis häufig zum Einsatz. Forschende gingen nun der Frage nach, ob sie sich für die Ermittlung des Dekubitusrisikos von Intensivpatienten eignen.

Hintergrund. Die COVID-19-Pandemie hat auf deutschen Intensivstationen zur Aufnahme einer Vielzahl von schwer beeinträchtigten Patientinnen und Patienten (im Folgenden: Patienten) geführt. In zunehmendem Maße werden Patienten mit massiven Lun­genschäden durch SARS-CoV-2 in spezialisierten Zentren mittels extrakorporaler Membranoxygenierung (ECMO) behandelt. Diese extrem eingreifende Behandlung können die Patienten nur in tiefer, narkoseartiger Sedierung tolerieren. Eigenbewegungen der Patienten sind damit praktisch ausgeschlossen.

Das Risiko, dass sich bei mehrwöchiger Behandlungsdauer von stark sedierten Patienten auf einer Intensivstation ein Dekubitus an besonders belasteten Körperstellen entwickelt, ist außerordentlich hoch. Kritische Zonen sind insbesondere die Schulterpartie, die untere Rückenpartie, das Gesäß, die Ellbogen und die Fersen. Pflegerische Maßnahmen zur Vermeidung eines Dekubitus umfassen die Unterpolsterung dieser kritischen Körperzonen mit weichen Schaumstoffkissen und regelmäßige Umpositionierung.

Methodik. Ob der Einsatz eines Assessment-Instruments zur Einschätzung des Dekubitusrisikos auf einer Intensivstation Vorteile bietet, wurde bislang kaum untersucht. Chinesische Pflegewissenschaftler aus dem Universitätsklinikum von Nanjing suchten daher in der internationalen Literatur nach Studien, in denen der Vorhersagewert der Braden-Skala für Intensivpatienten evaluiert wurde [2]. Die Forschungsarbeit wurde kürzlich im britischen Journal „Nursing in Critical Care“ publiziert.

Die Braden-Skala kommt zur Einschätzung des Dekubitusrisikos häufig zum Einsatz, vorrangig in der Langzeitpflege – obwohl die Aussagekraft von Assessment-Instrumenten zur Einschätzung von Gesundheitsrisiken wie Dekubitus und Sturz aus pflegewissenschaftlicher Sicht umstritten ist [2].

Bei der Braden-Skala werden Parameter wie Mobilität und Eigenaktivität des Patienten, Druckeinwirkungen auf den Körper durch die Behandlung und die Auflagefläche, sensorische Selbstwahrnehmung des Patienten, Ernährungszustand und Hautfeuchtigkeit bewertet. Für jeden Parameter können Punkte zugeteilt werden. Die maximal erreichbare Punktzahl beträgt 23. Dieser Wert entspricht einem fast nicht vorhandenen Dekubitusrisiko. Punktwerte unter 9 korrelieren dagegen mit einer erheblichen Dekubitusgefahr. Der minimale Punktwert beträgt 5.

Die Autoren aus Nanjing führten eine Literatur-recherche in internationalen medizinischen Datenbanken durch. Der Suchzeitraum erstreckte sich vom Beginn der jeweiligen Datenbankerfassung bis Juni 2019. Suchworte waren Druckulcus, Dekubitalulcus, Intensivstation, kritisch Kranke, Braden-Skala und Vorhersagewert. In den Literaturverzeichnissen der aufgefundenen Studien wurde nach weiteren relevanten Arbeiten gesucht. Eingeschlossen wurden nur Studien, die erwachsene Patienten (≥ 18 Jahre) einschlossen. Gefordert war weiterhin, dass nur die originale Braden-Skala, d. h. keine eigenen Modifikationen, verwendet wurden.

Die Autoren fanden 11 Arbeiten, in denen 10.044 Intensivpatienten beschrieben wurden. Es handelte sich um 7 prospektive und 4 retrospektive Studien. Die Studien stammten aus Deutschland, Korea, den USA, Frankreich, China, Japan und Spanien. Das mittlere Alter der eingeschlossenen Intensivpatienten lag zwischen 49,2 und 67 Jahren. Der Grenzwert der Braden-Skala, ab dem ein erhöhtes Risiko für ein Dekubitalulcus angenommen wurde, war in den Studien verschieden. Er schwankte zwischen ≤ 11 Punkte (je eine Studie aus Deutschland und Spanien) und ≥ 18 Punkte (1 Studie aus den USA). In der größten Studie mit 7.790 Intensivpatienten aus den USA wurde ein Grenzwert von ≥ 16 Punkten verwendet.

Ergebnisse. Von den 10.044 Intensivpatienten ent- wickelten 1.058 (10 %) auf der Intensivstation ein Dekubitalulcus. Die Schwankungsbreite war allerdings erheblich und lag in den verschiedenen Studien zwischen 5,9 und 33,4 %.

In allen Studien war die originale Braden-Skala verwendet worden, um das Risiko der späteren Entwicklung eines Dekubitus abzuschätzen. Die Sensitivität der Aussage: „Der Patient wird einen Dekubital- ulcus entwickeln“, betrug 0,89. Die Spezifität für die Aussage: „Der Patient wird keinen Dekubitaluclus entwickeln“ betrug jedoch nur 0,28. Der positive Vorhersagewert war somit recht gut, während ein Risikoausschluss nicht möglich war.

Schlussfolgerung. Die Autoren vergleichen diese Ergebnisse mit Studienergebnissen aus der Langzeitpflege. In diesem Pflegesetting wurden ebenfalls prospektive und retrospektive Studien durchgeführt, die einen ebenso hohen positiven Vorhersagewert der Braden-Skala wie in der Intensivmedizin zeigten. Der positive Vorher-sagewert lag bei 0,8, die Spezifität bei 0,42. Die Autoren erklären die geringe Spezifität in ihrer intensivmedizinischen Literaturauswertung damit, dass die Braden-Skala spezielle intensivmedizinische Risikofaktoren nicht berücksichtigt.

Kommentar. Mit der letztgenannten Einschätzung haben die Pflegewissenschaftler aus Nanjing vermutlich recht. Bei Intensivpatienten bestehen spezielle Risikofaktoren, die in der Braden-Skala für Patienten auf der Normalstation nicht enthalten sind. Beispielsweise werden die Gabe von Sedativa und die Tiefe der Sedierung nicht abgefragt.

Viele Intensivpatienten erhalten zudem gefäßverengende Substanzen wie z. B. Noradrenalin zur Schockbekämpfung. Dadurch wird die Hautdurchblutung vermindert, wodurch wiederum das Dekubitusrisiko steigt. Zudem bringen die maschinelle Beatmung und ganz besonders die ECMO erhebliche Lagerungsschwierigkeiten bei den Patienten mit sich, die in der Braden-Skala keine Berücksichtigung finden.

Die Autoren weisen auf eine andere Skala hin, die für Intensivpatienten aus ihrer Sicht besser geeignet ist. Es handelt sich um die Cubbin-Jackson-Risikoskala. Dieses Assessment-Instrument berücksichtigt die genannten Besonderheiten und hat sich in kleineren Studien bereits sehr gut bewährt. Vor allem der Faktor Inkontinenz (Versorgung mit einem Harn-blasenkatheter bzw. bei Stuhlinkontinenz), Sauerstoffbedarf und die Notwendigkeit hämodynamischer Unterstützung korrelierten neben den bekannten Faktoren der Braden-Skala zusätzlich mit dem Dekubitusrisiko [3].

Eine Studie an 4.137 Intensivpatienten auf 5 Intensivstationen in Virginia/USA fand allerdings wiederum keinen Unterschied in den beiden Vorhersage-skalen [3]. Diese Studie wurde zwischen 2017 und 2018 durchgeführt. Beide Skalen identifizierten alle Patienten, bei denen ein Risiko für Hautschäden jeglicher Art bestand. Die Spezifität der Cubbin-Jackson Skala war jedoch mit 18,4 % eher schlechter als die Spezifität der Braden-Skala mit 27,9 % [4].

Alle Autoren schließen daraus, dass für Intensivpatienten weitere Parameter berücksichtigt werden müssen. Dies könnte beispielsweise auch die eingeschätzte Dauer der bevorstehenden Intensivbehandlung sein. Ob die Diagnose COVID-19 ebenfalls ein prädiktiver Parameter ist, wird die Zukunft zeigen.

[1] Wei M et al. Predictive validity of the Braden scale for pressure ulcer risk in critical care: a meta-analysis. Nursing in Critical Care 2020; 25: 165–170

[2] Balzer K et al. Standardisierte Einschätzung des Dekubitusrisikos – ein Positionspapier: Nutzen muss belegt sein! Pflegezeitschrift 8/2008: 438–443

[3] Ahtiala MH et al. Critical evaluation of the Jackson/Cubbin pressure ulcer risk scale – a secondary analysis of a retrospective cohort study population of intensive care patients. Ostomy Wound Management 2016; 62: 24–33.

[4] Adibelli S et al. Pressure injury risk assessment in intensive care units: Comparison of the reliability and predictive validity of the Braden and Jackson/Cubbin scales. J Clin Nurs 2019; 28: 4595–4605

[5] European Pressure Ulcer Advisory Panel. Prävention und Behandlung von Dekubitus. Kurzfassung der Leitlinie 2019. www.epuap.org/wp-content/uploads/2020/06/qrg-2020- german.pdf; Zugriff: 06.07.2021

[6] Keller BPJA et al. Pressure ulcers in intensive care patients: a review of risks and prevention. Intensive Care Med 2002; 28 : 1379–1388

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