• 29.08.2017
  • Praxis
Fall Niels Högel

Vom Intensivpfleger zum Massenmörder

Seit 2006 steht Niels Högel wegen zahlreicher Mordanklagen regelmäßig vor Gericht

PflegenIntensiv

Ausgabe 3/2017

Seite 14

Serienkiller, Todesengel, Horrorpfleger – diese Schlagworte sind mittlerweile zu Synonymen für Ex-Krankenpfleger Niels Högel geworden, der rund 200 Patienten von Intensivstationen tötete. Kürzlich hat er gestanden, ein weiteres Medikament als Tötungsmittel verwendet zu haben. Damit geht der Kriminalfall in die nächste Runde.

Niels Högel hat es aufgrund der seit Jahren andauernden Berichterstattung über die von ihm begangene Mordserie in zwei Krankenhäusern in Niedersachsen zu trauriger Berühmtheit gebracht. Der 40-Jährige wird beschuldigt, während seiner Berufstätigkeit auf Intensivstationen der Kliniken Oldenburg und Delmenhorst rund 200 Patienten getötet zu haben. Die Mordserie gilt damit als eine der größten in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

 

 

Genaue Zahl der Opfer ungeklärt

Seit zwölf Jahren steht Högel regelmäßig vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt den gebürtigen Wilhelmshavener, rund 200 Patienten ermordet zu haben (Kock et al. 2016). Wie viele Opfer es genau sind, ist bis heute ungeklärt. Die Ermittlungen und Exhumierungen dauern an.

Fakt ist, dass Högel bereits 2006 wegen versuchten Totschlags zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Allerdings kam er auf Bewährung frei und konnte noch knapp drei weitere Jahre als Krankenpfleger arbeiten. Erst 2008 wurde er vom Landgericht Oldenburg zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Zusätzlich erhielt er ein lebenslanges Berufsverbot als Krankenpfleger (NDR 2016).

Högel wuchs in einem katholischen Elternhaus auf. Die Mutter war Anwaltsgehilfin, der Vater selbst Krankenpfleger, die Schwester Zahnarzthelferin. Das Familienleben wird als warmherzig beschrieben. Nach dem Abschluss auf einer Gesamtschule strebte Högel eine Ausbildung zum Krankenpfleger an, da ihm das Medizinstudium als zu anspruchsvoll erschien. Die gymnasiale Oberstufe absolvierte er nicht.

1994 begann Högel in der Klinik St. Willehad in Wilhelmshaven seine Ausbildung. Seine Examensleistungen werden als mittelmäßig beschrieben, trotzdem wurde er von der Klinik als Krankenpfleger übernommen (Seng/Krogmann 2016).

1999 wechselte Högel in das Klinikum Oldenburg. Auf der herzchirurgischen Intensivstation suchte er nach einer neuen Herausforderung. Bereits dort fiel er aufgrund seiner gehäuften Anwesenheit bei Reanimationen auf, bei denen er sich stets in den Vordergrund drängte. Bis 2002 vermehrten sich die Reanimationsfälle auf seiner Station. Kollegen gaben an, nicht mehr mit Högel zusammenarbeiten zu wollen. Schon damals wurde er als „Todesengel“ bezeichnet. Laut leitendem Oberarzt war das Vertrauen der Kollegen in Högel irreversibel gestört, sodass er das Klinikum 2002 verließ.

Auf frischer Tat ertappt

Im Folgejahr fing der Krankenpfleger auf der Intensivstation des Klinikums Delmenhorst an. Dort war er bis zu seiner ersten Anklage 2006 angestellt.

Im Zeitraum zwischen 2003 und 2006 stieg die Todesrate auf seiner Intensivstation drastisch an, sie verdoppelte sich. Kollegen wurden misstrauisch, da während der Anwesenheit von Högel gehäuft Reanimationen auftraten, die sich mit dem jeweiligen Krankheitsverlauf der Patienten nicht eindeutig vereinbaren ließen.

So kam es, dass er am 22. Juni 2005 von einer pflegerischen Kollegin auf frischer Tat ertappt wurde: Ein Patient bekam Herzrhythmusstörungen, nachdem Högel das Medikament Gilurytmal® verabreicht, einen der Katecholamin-Perfusoren pausiert und die Monitoralarme auf lautlos gestellt hatte. Der Patient wurde reanimationspflichtig.

Die Kollegen blieben misstrauisch und fanden im Abfall leere Gilurytmal®-Ampullen. Sie nahmen dem Patienten Blut ab und wenige Tage später wurde der Wirkstoffnachweis erbracht.

Ende 2005 ermittelte ein Oberarzt des Klinikums Delmenhorst die Sterberaten und den gleichzeitigen Gilurytmal®-Verbrauch. Die ermittelten Daten wurden mit den Dienstzeiten von Högel in Relation gestellt. Der erste Verdacht wurde der Polizei daraufhin gemeldet. In den drei Jahren, in denen Högel in Delmenhorst angestellt war, starben 411 Menschen, davon ungefähr 300 Menschen während oder unmittelbar nach der Schicht von Högel (Kock et al. 2016, NDR 2016, Müller 2015).

Seit 2006 regelmäßig vor Gericht

Seit 2006 steht Högel regelmäßig vor Gericht. Die Anzahl der Mordanklagen beläuft sich mittlerweile auf über 200 Fälle. Mehr als 100 Leichen wurden exhumiert und auf Gilurytmal®-Rückstände untersucht – in einigen Fällen positiv, in anderen Fällen konnten keine Rückstände nachgewiesen werden.

Allerdings gab Högel bereits zu, Patienten nicht nur mit Gilurytmal®, sondern auch mit Kalium in Reanimationssituationen gebracht zu haben. Da Kalium nicht in jedem Verstorbenen nachgewiesen werden kann, wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen.

Reanimation als Lichtblick in trostlosem Leben

Die Frage nach den Hintergründen des Tathergangs ist immer noch ungeklärt. Högel gab in psychologischen Gutachten an, Ansehen und Wertschätzung der Kollegen durch erfolgreiche Reanimationen gebraucht zu haben. So erzwang er die Möglichkeit, während der Wiederbelebungsmaßnahmen seine Fähigkeiten präsentieren zu können.

Sein Privatleben mit Ehefrau und Tochter überforderten ihn. Er flüchtete sich in Alkohol und in die Arbeit. Depressionen plagten ihn. Die fehlende Bestätigung seiner Person kompensierte er mit aktiv herbeigeführten Notfallsituationen am Arbeitsplatz (Seng/Krogmann 2016).

Jede Reanimation sei ein kurzer Lichtblick in seinem trostlosen Leben gewesen. Die Anzahl der Opfer kann er nicht genau beziffern. Den Überblick habe er verloren, nach 50 Opfern habe er aufgehört zu zählen. Nur das Gefühl der Bestätigung während und nach den Wiederbelebungsmaßnahmen war seinen Aussagen zufolge ausschlaggebend für seine Taten (Seng/Krogmann 2016).

Machtpotenzial schamlos ausgenutzt

Högel war sich seiner Machtposition im Rahmen des asymmetrischen Verhältnisses zwischen ihm als Intensivpflegeperson und dem Patienten bewusst. Er entschied über das Wohlergehen des Patienten – allerdings nicht anhand des Motivs des Helfens, sondern anhand seines Motivs des Tötens. Er verstieß gegen jegliche sittliche Normen des Pflegeberufs. Das Verbot zu Schaden oder zum Wohlergehen des Menschen zu pflegen, hielt ihn nicht davon ab, Patienten zu töten. Die wehrlose Position der Patienten wurde von Högel für sein eigenes Wohlergehen rücksichtslos ausgenutzt. Aktiv schadete er seinen Patienten auf der physischen Gewaltebene durch das Verabreichen von nicht angeordneten Medikamenten. Das Potenzial zur Machtausübung war nicht nur vorhanden, sondern wurde von Högel in jeglicher Form ausgenutzt.

Zusätzlich war auch das Potenzial zur Gewaltausübung gegeben. Högel war mit seinem Privatleben überfordert. Die Flucht in den Alkoholkonsum und die fehlende Wertschätzung seiner Person im Privat- aber auch im Berufsleben, lösten Depressionen aus. Die Frustration über sein Leben veranlassten Högel zu aggressiven Taten gegenüber seinen Patienten. Durch die herbeigeführten Reanimationssituationen konnte sich Högel kurzzeitig mit seinen Wiederbelebungsmaßnahmen profilieren. So genoss er das hohe Ansehen, was ihm am Anfang seiner Berufslaufbahn von seinen Kollegen entgegengebracht wurde. Doch dieses Ansehen war nicht von allzu langer Dauer. Die Kollegen wurden misstrauisch, unabhängig in welcher Klinik er arbeitete. Bis er schließlich auf der Intensivstation in Delmenhorst bei frischer Tat erwischt wurde und somit die Mordserie ein Ende nahm.

Neue Erkenntnisse

Seit Juni 2017 gibt es neue Erkenntnisse im Fall Högel: Der verurteilte Ex-Krankenpfleger hat gestanden, ein weiteres Medikament als Tatmittel verwendet zu haben. Das teilte die Polizei in Oldenburg vor kurzem mit, wie die Nordwest Zeitung berichtete (NWZ Online 2017). Bislang gingen die Ermittler von zwei Herzmedikamenten aus. Nun müssten sämtliche Krankenunterlagen ausgewertet sowie ergänzende Gutachten von Sachverständigen eingeholt werden.

Damit könnten die Ermittlungen nicht wie geplant im Juni abgeschlossen werden, sondern vermutlich erst im Spätsommer. Weitere Exhumierungen soll es nach jetzigem Stand aber nicht mehr geben. Ende August wollen Polizei und Staatsanwaltschaft auf einer Pressekonferenz über den abschließenden Stand der Ermittlungen unterrichten.

Kock, F. et al. (2016). Krankenpfleger Niels H.: Geschichte einer Mordserie. www.sueddeutsche.de/panorama/krankenpfleger-niels-h-geschichte-einer-mordserie-1.3045939, Abruf: 1.6.2017

Müller, D. (2015): Der Berufskiller. www.zeit.de/2015/08/krankenpfleger-oldenburg-mordprozess, Abruf: 1.6. 2017

NDR (2016): Die Karriere eines Serienmörders. www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/oldenburg_ostfriesland/Die-Karriere-eines-Serienmoerders,krankenpfleger402.html, Abruf: 1.6.2017

NWZ Online (2017): Neues Geständnis von Todespfleger Niels Högel. www.nwzonline.de/oldenburg/neues-gestaendnis-von-todespfleger-niels-hoegel_a_31,3,67429 0544.html, Abruf: 9.6. 2017

Seng, M.; Krogmann, K. (2016): Warum stoppte niemand Niels H. live.nwzonline.de/Article/874900-Krankenhaus-Morde-Warum-stoppte-niemand-Niels-H.

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