Mitarbeiter von Intensivstationen müssen Angehörige während des laufenden Therapieprozesses informieren, ihnen Sicherheit und Orientierung geben. Dies erfordert eine gute Vorbereitung – gerade wenn Todesnachrichten und Lebensgefahrsituationen angesprochen werden müssen. Das Kommunikationsmodell „Sicheres Auftreten nach frustranen Ereignissen (SAfE)“ hilft dabei.
Fühlen sich Mitarbeiter wirklich in allen kritischen Gesprächssituationen auf Intensivstationen kompetent oder ist das „nur so ein Gefühl“? Geben wir es doch ruhig offen zu: Es fällt schwer, Angehörigen gegenüberzutreten und ihnen mitzuteilen, dass ihr Angehöriger soeben verstorben ist. Es ist nicht leicht, die Reaktionen auszuhalten und ihnen zu begegnen. Es kostet weit mehr als nur Überwindung. Emotionale Ausbrüche, körperliches Zusammenbrechen, lautes Schreien und Weinen, eine starre Körperhaltung – Reaktionsmuster nach einer überbrachten Lebensgefahrsituation oder Todesnachricht können sehr unterschiedlich sein.
Überbringer einer solchen Nachricht sind meist Ärzte und Pflegepersonen. Sie benötigen Sicherheit in der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung einer frustranen Nachrichtenüberbringung. Nur so können sie Sicherheit, Klarheit und Orientierung vermitteln.
Im Rahmen der Pflegeausbildung und Fachweiterbildung kommt diese Vorbereitung auf die wohl schwierigsten Gesprächssituationen im klinischen Alltag auf Intensivstationen zu kurz oder findet nicht statt. Aus diesem Grund wurde das Kommunikationsmodell „Sicheres Auftreten nach frustranen Ereignissen“ – kurz SAfE – entwickelt. Es ist das erste wissenschaftliche, innerklinische Kommunikationsmodell für Ärzte und Pflegepersonen. Es entstand aus langjähriger Erfahrung mit Klienten und Angehörigen auf Intensivstationen und in der Präklinik. Ziel ist, Pflegenden und Ärzten Struktur und Sicherheit zu geben, um sich in kritischen Gesprächssituationen trotz persönlicher Betroffenheit professionell verhalten zu können..
Die wissenschaftliche Fundierung basiert auf Theorien und Modellen aus der Salutogenese-, Stress- und Traumaforschung. Die Auseinandersetzung mit psychotraumatologischen Grundkenntnissen, gepaart mit hilfreichen Praxistipps, soll Mitarbeiter von Intensivstationen motivieren, sich auf das notfallpsychologische Thema einzulassen und es als alltägliche Unterstützung anzusehen.
Modell besteht aus vier Phasen
Die Idee für die Entwicklung eines solchen Kommunikationsmodells, entstand im Sommer 2013. Nach vielen Gesprächen mit Ärzten und Pflegenden der Intensivstationen am Elisabethenkrankenhaus der Oberschwabenklinik wurde die Entwicklung angegangen und in die Tat umgesetzt. Im klinischen Unterricht der Intensivpflege und Anästhesie wurde das Modell in Form von Rollenspielen erprobt und modifiziert. Im Herbst 2013 schloss die Konzeptentwicklung mit der theoretischen Fundierung und Literaturrecherche ab. Bereits wenige Monate später wurde SAfE das erste Mal auf den Intensivstationen im Echtversuch angewandt und ein letztes Mal angepasst.
Das Modell besteht aus vier Eckpfeilern, die das Modell zusammenhalten und verbinden. Die Abfolge lässt sich nur schwer zeitlich genau festlegen. Die Phase der Überbringung dauert in aller Regel nicht länger als fünf Minuten. Phase drei und vier können sich allerdings dynamisch entwickeln. Hier wird vom Überbringerteam erwartet, zügig eine erste Struktur vorzugeben und soziale Ressourcen zu mobilisieren. Die Vorbereitungsphase richtet sich zeitlich je nach Überbringerteam.
Phase 1 – Vorbereitung: Die erste Phase dient der Vorbereitung auf die nahende Überbringung der Todesnachricht oder Lebensgefahrsituation. Es ist also zum gegenwärtigen Zeitpunkt klar, dass sich Angehörige auf dem Weg zur Intensivstation befinden oder bereits vor Ort sind. Das Überbringerteam aus Arzt und Pflegeperson – optimalerweise die Personen, die den Patienten gemeinsam betreuen – informiert sich gegenseitig. Der aktuelle Zustand des Patienten wird besprochen, Diagnose und Prognose beziehungsweise Todesursache geklärt. Bei einer ungeklärten Todesursache empfiehlt sich die Rücksprache mit den polizeilichen Kollegen. Dann wird besprochen, wer alles von der Information betroffen sein könnte. Wem steht das Überbringerteam gleich gegenüber? Vielleicht liegen zum jetzigen Zeitpunkt bereits Informationen über die Familie vor. Diese Vorbereitung ist wichtig, um sich schon im Vorhinein aufzuteilen. Bevor es zum Erstkontakt mit den Betroffenen kommt, sollte das Überbringerteam die Rahmenbedingungen des Gesprächs festlegen. Eine ruhige Umgebung, die sich aber dennoch in der Nähe des Patientenzimmers befindet, ist empfehlenswert. Dann muss die Rollenverteilung geklärt werden: Wer überbringt die Nachricht aktiv und wer übernimmt die Sicherheitsposition? Hierbei sollte klar auf das eigene Befinden geachtet und eventuelle Ängste und Sorgen geäußert werden. Die Vorbereitungsphase ist entscheidend dafür, ob ein strukturiertes Überbringen der Nachricht gelingt. Das vorherige Notieren und Festhalten von wichtigen Gesprächsinhalten und Vorgehensweisen wird empfohlen. Zum Abschluss der ersten Phase kontrolliert sich das Überbringerteam gegenseitig auf eventuell vorhandene negative äußere Reize, wie verschmutzte Dienstkleidung, Mundgeruch und weitere hygienische Aspekte.
Kontakt: Der Erstkontakt mit den Angehörigen erfolgt mit persönlichem Handschlag und der Vorstellung beider Seiten mit Blickkontakt. Das Überbringerteam stellt nun fest, mit wem es zu tun hat. Wenn es nicht anders möglich oder nicht glaubhaft ist, müssen die Personalien festgestellt werden. Alle Beteiligten werden in das vorbereitete Zimmer gebeten. Auf dem Weg dorthin werden keine Fragen beantwortet. Für alle Beteiligten wurden Sitzmöglichkeiten sowie Getränke und Taschentücher bereitgestellt. Die Betroffenen werden gebeten, Platz zu nehmen. Dies hat den Vorteil, einem möglichen Kreislaufzusammenbruch der Betroffenen vorzubeugen. Angehörige spüren bereits, dass etwas nicht stimmt. Jetzt müssen die Informationen zum Gesundheitszustand des Patienten verbal geäußert werden. Nicht mehr als drei Erstinformationen sind an dieser Stelle wichtig: Ist der Patient verstorben oder ist sein Leben gefährdet? Wie lautet die Diagnose? Wie ist die Prognose? Die Informationen erfolgen klar und zusammenhängend, ohne lange Einleitung und unnötige Pausen. Denn Angehörige können in dieser Situation nicht mehr als drei kritische Informationszusammenhänge aufnehmen und verarbeiten. Das Überbringerteam beobachtet sich gegenseitig, achtet auf sich selbst und auf die Betroffenen. Der Informationsüberbringer konzentriert sich auf das Gesprochene und ist ganz bei den Angehörigen. Der „Backupper“, der im Hintergrund die Lage überblickt, hält die Zeit im Blick und kontrolliert die Situation ununterbrochen. Er beobachtet die Betroffenen und klärt innerlich, was gerade passiert – eventuell ist jemand kurz vor dem Kollaps oder braucht ein Glas Wasser. Wenn die Erstinformationen ausgesprochen sind und erste spontane Nachfragen der Angehörigen beantwortet wurden, fällt auch die Anspannung beim Überbringerteam ab. Jetzt müssen die Weichen für die fortlaufende Betreuung gestellt werden. Erste Kontraktvereinbarungen mit den Angehörigen werden getroffen.
Emotionale Phase: In dieser Phase geht es um die erste emotionale Verarbeitung. Die Aufmerksamkeit liegt gänzlich auf dem frustranen Ereignis und dessen Folgen. Die Überbringer müssen empathisch und sorgsam mit den Gefühlen der Betroffenen umgehen und die richtigen Worte wählen. An dieser Stelle ist jedes falsche Wort eines zu viel. Eine große Schwierigkeit besteht hier in der eigenen Dynamik der Ereignisse. Entscheidend ist die Bindungsfähigkeit von Überbringern zu Betroffenen. Eine große Gefahr besteht darin, dass die Betroffenen von ihren Gefühlen übermannt werden und die Gruppe – Überbringer und Angehörige – auseinanderbrechen. Arzt und Pflegeperson sind in dieser Situation für die Angehörigen verantwortlich, denn sie haben mit der Überbringung der Erstinformationen aktiv dazu beigetragen, dass Emotionen entstanden sind. Zu jeder Zeit kann jetzt etwas Unvorhergesehenes passieren, auf das man trotz intensiver Beschäftigung im Vorfeld nicht vorbereitet ist. Deshalb ist ein genaues Beobachten aller Beteiligten wichtig. Gefühle sollten zugelassen werden, Stille und Schweigen muss ausgehalten werden.
Prospektive Phase: In der letzten Phase von SAfE geht es um die zukunftsorientierte Begleitung und Information der Betroffenen. Vor dem Hintergrund der zeitlichen und personellen Ressourcen muss jetzt mit den Betroffenen ein gemeinsamer Fahrplan entwickelt werden. An dieser Stelle können Fragen gestellt und beantwortet werden. Vielleicht bestehen – im Fall einer Lebensgefahrsituation – noch wichtige anamnestische Fragen zum Patient und zum Unfallhergang. Sollte es Angehörigen nicht möglich sein, in die prospektive Phase mit einzusteigen – etwa weil die Erstinformationen nicht verstanden wurden oder das Ereignis verdrängt wird –, müssen die drei Erstinformationen wiederholt werden. Sind die Informationen wahrgenommen worden, muss jetzt erneut für Sicherheit gesorgt werden, denn die Kontaktaufnahme mit dem Patienten oder Verstorbenen steht unmittelbar bevor. An dieser Stelle agieren die Überbringer als Wegweiser und Kontaktpersonen für den weiteren Verlauf. Sollte das Überbringerteam mit einer großen Gruppe an Betroffenen konfrontiert sein, gilt es, einen Hauptansprechpartner zu bestimmen, der als Vermittler und Brückenbauer fungiert. Wenn der Patient stabilisiert beziehungsweise der Verstorbene versorgt ist, kann die Kontaktaufnahme mit den Betroffenen erfolgen. Dies bedarf gezielter Vorbereitung und Hinweise. Sobald die Angehörigen mit dem schwerstverletzten oder verstorbenen Patienten Kontakt aufgenommen haben, sind die Phasen des SAfE-Modells abgeschlossen.
Flexibel handhaben
Krisensituationen und Ausnahmesituationen kommen auf Intensivstationen regelmäßig vor – sie gehören zum Alltag. Angehörige schenken in fast allen Fällen den Pflegenden und Ärzten ihr Vertrauen. Und das in voller Sorge und Angst. Das gilt es dankbar anzuerkennen, heißt aber auch, dass Krisenkommunikation auf der Basis eines fundierten Konzepts trainiert werden muss. SAfE soll dabei helfen. Es versteht sich nicht als starre Handlungskette, die es abzuarbeiten gilt. Es geht vielmehr darum, verbal und nonverbal Einfluss zu nehmen auf die Qualität einer potenziellen Traumagefährdung von Angehörigen. Dies muss flexibel erfolgen.
Als SAfE entwickelt wurde, wurden oft kritische Stimmen laut: Es fehle die Zeit für geplante Gesprächssituationen. Ja – das ist ein Problem. Im Stationsalltag werden Gespräche oft „zwischen Tür und Angel“ geführt. Doch gerade deshalb wurde SAfE entwickelt. In engen Zeitfenstern soll mithilfe des Modells dennoch kompetent agiert werden. Und es gelingt.