Der Gesetzgeber muss "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen. Ansonsten bestehe das Risiko, dass diese Menschen bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt würden. Das entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wie einer entsprechenden Mitteilung aus der Vorwoche zu entnehmen ist. Damit hat das oberste Gericht der Verfassungsbeschwerde mehrerer Menschen mit Behinderung stattgegeben.
Pandemiebedingten Triagei st extreme Entscheidungssituation
Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befänden sich im Fall einer pandemiebedingten Triage in einer extremen Entscheidungssituation. Sie müssten entscheiden, wer die nicht ausreichend zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Ressourcen erhalten solle und wer nicht. In dieser Situation könne es besonders fordernd sein, "auch Menschen mit einer Behinderung diskriminierungsfrei zu berücksichtigen". Dafür müsse sichergestellt sein, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird", teilte das Gericht weiter mit.
Aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das "höchstrangige Rechtsgut Leben" folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber. Der sei dieser Pflicht – verfassungswidrig – bislang allerdings nicht nachgekommen. Das Bundesverfassungsgericht verwies dazu u. a. auf Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Danach dürfen Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden.
Klinisch-ethische Empfehlungen der DIVI
Wie eine Regelung aussehen könnte, ließ das Bundesverfassungsgericht offen und verwies stattdessen auf einen weiten "Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum" des Gesetzgebers.
9 Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hatten Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie befürchteten, von der Ärzteschaft aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren.
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hatte mit anderen Fachgesellschaften bereits 2020 "klinisch-ethische Empfehlungen" im Kontext der COVID-19-Pandemie erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sahen die dort genannten Kriterien mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit von Patientinnen und Patienten sowie zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielten. Sie befürchteten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben.
Das Verfassungsgericht erläuterte, die Empfehlungen der DIVI seien rechtlich nicht verbindlich und "kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht". Zudem wies das oberste Gericht auf die möglichen Risiken der Beurteilung hin, die sich aus den Empfehlungen ergeben könnten. Es müsse sichergestellt sein, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird".