2013 sorgte eine neue Protestbewegung für Furore: Pflege am Boden. Tausende Pflegende in mehr als 80 Städten beteiligten sich an den Flashmobs. Zehn Jahre später zieht der Initiator Michael Thomsen, Heimleiter und Fachkrankenpfleger aus Osnabrück, eine ernüchternde Bilanz.
Herr Thomsen, gibt es Pflege am Boden noch? Auf der Facebookseite der Bewegung wird immer noch gepostet, der letzte Eintrag auf der Website stammt hingegen aus dem Jahr 2018 …
Ob es Pflege am Boden noch gibt, kann ich gar nicht mal sagen. Zwar besteht die Website noch, aber eigentlich hat sich die Bewegung verlaufen und existiert in der ursprünglichen Form nicht mehr. Ich bin seit 2018 Rentner und schon seit Anfang 2017 nicht mehr in der Protestbewegung aktiv. Offensichtlich finden am Kölner Dom aber noch vereinzelte Flashmobs statt.
Wie kam es zur Gründung von Pflege am Boden?
Ich habe die Bewegung initiiert. Von mir stammen auch die zehn Forderungen für eine bessere Pflege in Deutschland. Der erste Flashmob fand im Oktober 2013 statt, und die Bewegung war bis Mitte 2015 recht erfolgreich. Anfang 2014 waren zeitweise Tausende Teilnehmerinnen und Teilnehmer in über 80 Städten zeitgleich aktiv. Städte wie Osnabrück, Köln, Berlin, Siegen und Straubing waren echte Hochburgen. Doch mit der Zeit brach Pflege am Boden peu à peu auseinander. Es gab immer weniger Aktionen.
Was haben Sie und Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter konkret erreicht?
Erreicht haben wir im Hinblick auf den Pflegenotstand wohl nicht sehr viel. Viele Aktivistinnen und Aktivisten haben sich desillusioniert abgewandt und den Berufsausstieg gewählt – Berentung, Krankheit, Berufswechsel.
Mit dem Personalmangel in der Pflege beschäftigen Sie sich schon seit vielen Jahren. Was sind für Sie die wichtigsten Gründe?
Der Pflegenotstand besteht aus meiner Sicht schon mindestens seit Beginn der 1990er-Jahre, eigentlich schon vorher. Insbesondere die Abschaffung der Pflegepersonalregelung (PPR) und eine frühe Form der Personalbemessung für Pflegeeinrichtungen sowie die Einführung der Fallpauschalen haben maßgeblich zur heutigen Misere beigetragen. Leider haben sich die Träger der Pflegeeinrichtungen jammernd, aber letztendlich widerstandslos ergeben. In der Folge mussten die Mitarbeitenden das Ganze ausbaden. Insofern sind für mich die Trägerverbände – gemeinsam mit den Pflegeselbstverwaltungen der Länder – hauptschuldig an dem eklatanten Personalmangel, den es heute zu beklagen gilt. Die Hauptübel waren eine viel zu geringe Planstellenbemessung und die Refinanzierung der Altenheime. Insbesondere die prekäre Ausbildungssituation hat dann in der Folge zu einer schleichenden Berufsflucht geführt und den Notstand befeuert.
Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?
Aus meiner Sicht ist der Pflegekollaps in fünf oder zehn Jahren ist nicht mehr aufzuhalten. Auch wenn die Ausbildungszahlen steigen: Die Konkurrenz zu anderen Berufsfeldern ist groß, und solange sich nicht ein deutliches, realistisches Planstellen-Soll ergibt, wird das Problem immer weiter zunehmen. Diese Erkenntnis hatte ich bereits 2016. Ich habe daher aufgehört, Energie in diesen aussichtslosen Kampf zu stecken. Gleichwohl konnte Pflege am Boden einige Anstöße geben: Wenn man genau hinschaut, sind bestimmte Forderungen der Bewegung zumindest im Ansatz in Gesetzgebungen erkennbar, zum Beispiel dass Altenpflegerinnen und Altenpfleger in immer mehr Bundesländern kein Schulgeld mehr bezahlen mussten. Auch dass eine Personalbemessung für die Langzeitpflege angestoßen wurde, kann meines Erachtens teilweise zu den Verdiensten von Pflege am Boden gerechnet werden.
Also hat Pflege am Boden doch etwas erreicht! Warum haben Sie der Protestbewegung dennoch den Rücken gekehrt?
Etwas wirklich Bahnbrechendes konnten wir nicht erreichen und den Hauptgrund dafür sehe ich in der Berufsgruppe an sich. Die Pflegenden konnten sich gegenüber der Politik nicht durchsetzen, weil sie insgesamt ein uneinheitliches und zerstrittenes Bild vermittelten. Die Pflegewissenschaft konnte wenig beitragen. Hinzu kamen und kommen weiterhin Störaktionen von außen – zum Beispiel Verdi gegen Bochumer Bund, bpa gegen DBfK – sowie interne Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten. So lässt sich kein nachhaltiger Erfolg erreichen. Selbst wenn es in den nächsten fünf Jahren zu einer Kehrtwende kommt – zumindest zu einer Solidarisierung innerhalb der Berufsgruppe mit etablierten Pflegekammern und hohen Mitgliederzahlen im Bochumer Bund –, ist meines Erachtens die Pflegekatastrophe nicht mehr aufzuhalten.