In diesem Jahr schließen die ersten Pflegefachfrauen und -männer ihre Ausbildung ab. Über die bisherigen Erfahrungen und künftigen Herausforderungen der Generalistik sprachen wir mit zwei ausgewiesenen Experten der Pflegebildung: Christine Vogler und Carsten Drude.
Frau Vogler, Herr Drude, kürzlich haben die ersten Absolventinnen und Absolventen der generalistischen Pflegeausbildung ihre Abschlusszeugnisse erhalten. Wann ist es an Ihren Bildungseinrichtungen so weit?
Drude: An unserer Akademie in Münster haben wir noch etwas Zeit: Die ersten Generalistinnen und Generalisten werden ihre Ausbildung im Juli abschließen.
Vogler: Wir beenden unsere ersten Jahrgänge im März. Wenn dieses Interview erscheint, haben wir unseren Absolventinnen und Ab- solventen also bereits gratuliert.
Wie bewerten Sie die ersten drei Jahre der Ausbildungsreform – was lief gut, wo ergaben sich Probleme?
Drude: Insgesamt hat die Umstellung sehr gut funktioniert. Besonders positiv bewerte ich die große Bereitschaft der Lehrenden, sich auf die neuen Inhalte und Strukturen einzulassen – das wird uns, dem Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe, von vielen Bildungseinrichtungen zurückgemeldet. Während der Übergangsphase, die übrigens immer noch andauert, ist das parallele Unterrichtssystem mit all seinen Herausforderungen für die Lehrenden eine echte Doppelbelastung. Das ist auch mein erster Kritikpunkt: Trotz zahl-reicher Förderprogramme ist die messbare Mehrarbeit in den Stellenplänen der Lehrenden nicht refinanziert worden. Handlungs- bedarf sehe ich zweitens im Hinblick auf die Vorgaben zu den verpflichtenden Praxisphasen. Hier wünsche ich mir mehr Flexibilität, damit es nicht zum „Überlaufen“ einzelner Praxisbereiche kommt – wie derzeit in vielen Einrichtungen der Fall. Auch die starren Regelungen für die Abschlussprüfungen sollten flexibeler gestaltet werden, zum Beispiel in Form praktischer Prüfungen im Skills Lab oder Simulationszentrum. Die Pandemiephase hat gezeigt, was alles möglich ist – jedoch sind die Ausnahmeregelungen wieder zurück- genommen worden.
Nach zwei Jahren Ausbildung können die Auszubildenden entscheiden, ob sie den generalistischen Abschluss oder den Berufsabschluss in der Altenpflege beziehungsweise Gesundheits- und Kinderkrankenpflege anstreben. Wie viele Ihrer Auszubildenden haben sich für diese spezialisierten Abschlüsse entschieden?
Drude: An unserer Einrichtung wurde ausschließlich der generalistische Abschluss gewählt. Ein Teil der Auszubildenden hat allerdings die Möglichkeit der Vertiefung in der Pädiatrie genutzt.
Vogler: Bei uns haben sich ebenfalls alle für die Berufszulassung als Pflegefachfrau oder Pflegefachmann entschieden.
Das Pflegeberufegesetz sieht eine Evaluation des Wahlrechts bis Ende 2025 vor. Bei mangelnder Nachfrage ist es möglich, die besonderen Berufsabschlüsse abzuschaffen und den Fokus allein auf die Generalistik zu legen. Glauben beziehungsweise hoffen Sie, dass es dazu kommt?
Drude: Ich bin davon überzeugt, dass die ursprüngliche Idee der generalistischen Pflegeausbildung – ein gemeinsamer Abschluss – der richtige Weg ist. Um nicht falsch verstanden zu werden: Es bedarf eines hohen Maßes an Spezialisierung – und das nicht nur in den Settings der genannten besonderen Berufsabschlüsse. Die Spezialisierung muss aber an die breit gefächerte Grundausbildung anschließen.
Wie sollte die Spezialisierung im Anschluss an die generalistische Grundausbildung künftig organisiert werden?
Vogler: Diese Sichtweise greift meines Erachtens zu kurz. Angesichts der derzeit völlig uneinheitlichen Aus-, Fort- und Weiterbildungsstrukturen müssen wir das gesamte System der Pflegebildung neu denken – und zwar transparent und bundeseinheitlich. Diese Herausforderung schließt ausdrücklich sowohl die zuführenden Ausbildungen in der Pflege – also die unterschiedlichen Ausbildungen in der Pflegefachassistenz – als auch die Weiterbildungsstrukturen, Masterstudiengänge und Anschlussqualifizierungen mit ein. Und wir müssen Anrechnungsfähigkeiten schaffen, um zum Beispiel Weiterbildungen auf Masterstudiengänge oder Assistenzausbildungen auf die Grundausbildung anrechnen zu können. Erst dann entstehen attraktive Karrierewege mit Zukunftsoptionen. Was wäre das für eine grandiose Vorstellung: Wer will, kann in der Pflege alles werden – von der Pflegeassistenz über die Tätigkeit als Pflegefachperson bis hin zu Karrierewegen in der Pflegebildung und Pflegewissenschaft.
Zwei Verbände der pädiatrischen Versorgung – der Berufsverband Kinderkrankenpflege Deutschland und die Gesellschaft der Kinderkrankenhäuser und Kinderabteilungen in Deutschland – haben ein Positionspapier vorgelegt, wonach unter Berücksichtigung der „unterschiedlichen Varianten der Erstausbildung“ eine Anschlussqualifizierung nötig ist, die von einer „praktischen Einarbeitung“ bis hin zu einer „längeren Anschlussqualifizierung“ inklusive des Erwerbs eines zweiten Berufsabschlusses reicht. Was halten Sie von diesem Vorstoß?
Vogler: Nichts. Die Diskussion um Anschlussqualifizierungen birgt die Gefahr, die Grundausbildung als unqualifiziert darzustellen, nur einen Ausschnitt pflegerischer Versorgung zu fokussieren und damit bestimmte Fachbereiche als wichtiger gegenüber anderen hervorzuheben. Diese Frage berührt letztlich das Grundverständnis des Pflegeberufs – und der spezialisierten Fachbereiche in der Pflege. Zum besseren Verständnis: Das didaktische Prinzip des exemplarischen Lernens befähigt Auszubildende zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann dazu, die erworbenen pflegerelevanten Kompetenzen auf Menschen unterschiedlicher Altersstufen und in diversen Lebenssituationen anzuwenden. Die Absolventinnen und Absolventen können nach ihrer Ausbildung in allen Bereichen der Pflege tätig werden. Eine versteckte Ausbildungsverlängerung für die allgemeine pädiatrische Versorgung oder andere Fachbereiche ist hier völlig kontraproduktiv. Sehr wohl ist nach der Grundausbildung dafür zu sorgen, dass sich pflegerische Kompetenzen erweitern und die Versorgungsqualität gesichert ist. Dazu braucht es gute Einarbeitungskonzepte, Qualifizierungsangebote sowie Weiterbildungs- und Studienangebote auf Masterebene.
Wie soll es künftig mit den etablierten zweijährigen Fachweiterbildungen weitergehen, etwa in der Intensivpflege und Anästhesie?
Vogler: Der gesamte Bereich der pflegerischen Weiterbildung gehört in die Hand der Pflegeprofession. Pflegekammern oder vergleichbare Selbstverwaltungsstrukturen sollen die hierfür zuständigen Organisationen sein, denn allein sie verfügen über die notwendige Expertise und personellen Ressourcen, um bundeseinheitliche Standards zu entwickeln und die Verpflichtung der Berufsangehörigen zur Fortbildung nachzuhalten. Zur Flexibilisierung der Lehr- und Lernangebote sind vor allem moderne Weiterbildungsstrukturen nötig. Die nötige Neuordnung der Handlungskompetenzen der Gesundheitsberufe müssen sich künftig auch in den curricularen Weiterbildungsstrukturen – beruflich wie akademisch – und am Ende in einer besseren Vergütung niederschlagen. Denn mehr Kompetenz erzeugt mehr Verantwortung und bedarf somit einer besseren Entlohnung.
Welche Bedeutung messen Sie künftig der Anschlussqualifizierung im akademischen Bereich zu, zum Beispiel auf Masterebene?
Drude: Die immer komplexeren Bedarfe kommen meines Erachtens ohne Kompetenzen, die im Rahmen eines Masterstudiums erworben werden, nicht mehr aus. In der Pflegepädagogik, im Pflegemanagement und in der Pflegewissenschaft hat sich diese Erkenntnis ja bereits durchgesetzt und ist gelebter Alltag. Doch dass auch – oder gerade – die pflegerische Praxis einer hohen Expertise auf akademischem Niveau bedarf, das ist in Deutschland noch weitgehend ein Fremdwort. Aus meiner Sicht ist es wichtig, künftig die gesamte Weiterbildungslandschaft in der Pflege im Rahmen der Weiterentwicklung akademischer Angebote auf Bachelor- und Masterebene mitzudenken. Erforderlich ist insbesondere die Anrechnung von bereits erworbenen Kompetenzen, ob formal oder informell.
Manche Fachleute in der Pflegebildung schlagen systematische Traineeprogramme vor, um Absolventinnen und Absolventen für spezifische Einsatzbereiche zu qualifizieren. An einigen Kliniken wird dies auch schon umgesetzt – so hat etwa die Uniklinik Köln ein Traineeprogramm für die Pädiatrie aufgelegt. Was halten Sie von diesem Weg?
Drude: Ich halte viel von fundierten Anschlussprogrammen nach der generalistischen Ausbildung. Dieser Bedarf beschränkt sich aber nicht auf den pädiatrischen Bereich, sondern gilt für alle Pflegesettings. Wichtig ist dabei die Qualität des jeweiligen Programms: Handelt es sich um ein strukturiertes Einarbeitungskonzept, das für die Tätigkeit in einem speziellen Bereich in einer speziellen Klinik qualifiziert, oder um ein umfassendes Programm, das den Teilnehmenden die erforderlichen Kompetenzen vermittelt? Meines Erachtens kommen solche Programme ohne einen angemessenen theoretischen Anteil nicht aus. Dies bedeutet allerdings nicht, die bereits existierenden, hoch qualifizierten Fachweiterbildungen in der Pflege auszuhebeln. Beides hat seine Berechtigung und kann nebeneinander bestehen.
In den Bundesländern existieren unterschiedliche Ausbildungen in der Pflegeassistenz. Wie sehen Sie die Chancen einer bundesweiten Vereinheitlichung – und welche Voraussetzungen wären dafür zu schaffen?
Vogler: Die Forderung nach einer bundeseinheitlichen Pflegeassistenzausbildung ist im Koalitionsvertrag der Bundesregierung verankert. Die Bundespolitik hat also verstanden, dass bundeseinheitliche Strukturen nicht nur für die Grundausbildung oder das Grundstudium wichtig sind. Die Pflegefachassistenz muss also schnellstmöglich in das Pflegeberufegesetz integriert werden. In dieser Diskussion verweisen natürlich immer viele auf den Bildungsföderalismus – doch ich halte diesem Argument entgegen, dass die Gesundheitsversorgung der Menschen in gemeinsamer Verantwortung von Bund und Land sicherzustellen ist. Pflege ist als Heilberuf verortet, der der Sicherstellung einer adäquaten gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung dient. Insofern wäre es folgerichtig – und aus meiner Sicht zwingend notwendig –, die gesamte Bildungsstruktur der Pflege auf die Bundesebene zu verlagern. Und dann braucht es eine Institution, die diese Bildungsstrukturen entwickelt, validiert und sichert.
Die hochschulische Pflegeausbildung muss gestärkt werden – darin sind sich alle einig. Wie lässt sich eine Vergütung für praktische Einsätze während des Studiums erreichen?
Vogler: Die Vergütung der verpflichtenden Praktika im Studium ist zu finanzieren. Konkret bedeutet dies, dass die Pflegeausbildungsfinanzierungsverordnung um die Vergütung der Praktika der Studierenden erweitert werden muss – und zwar so schnell wie möglich. Sonst brechen uns die Studiengänge an den Hochschulen weg.
Ein großes Problem ist der Mangel an Lehrenden in der Pflege. Welche Maßnahmen sind vorrangig, um dieses Defizit zu beheben?
Drude: Hierzu hat sich der Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe schon öfter geäußert. In aller Kürze aber noch einmal ein paar wichtige Aspekte zu dieser Frage: Zunächst einmal müssen ausreichend Kapazitäten für Studierende an den Hochschulen vorhanden sein beziehungsweise geschaffen werden. Diese Studienprogramme sollten so ausgelegt werden, dass es auch mit einer bestehenden Beschäftigung möglich ist, das Studium zu absolvieren. Hier zeigen uns zahlreiche Beispiele privater Hochschulen, wie das funktionieren kann. Seitens der Bildungseinrichtung oder des Trägers ist aber ebenfalls einiges möglich, um den Bedarf zu decken: Flexible Arbeitszeiten mit einem entsprechenden Arbeitszeitkonto für die Studierenden sind häufig ohne großen Aufwand einzurichten. Stipendienprogramme für eine finanzielle oder zeitliche Förderung sind an vielen Schulen im Gesundheitswesen mittlerweile etabliert. Seitens des Gesetzgebers sind die Auflagen zur Einstellung oder zur Erteilung der Lehrerlaubnis ebenfalls flexibel zu gestalten. Damit meine ich die zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen seit Langem gelebte Praxis, Bachelorabsolventinnen und -absolventen die Lehrtätigkeit zu erteilen, wenn diese sich im Masterstudium befinden. Damit ist es möglich, die interessierten Menschen an die eigene Einrichtung zu binden, ohne das gesetzlich geforderte – und vom Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe unterstützte – Masterniveau zu unterwandern.