Die im Pflegeberufegesetz definierten Vorbehaltsaufgaben sind als Aufwertung der beruflichen Pflege zu sehen denn erstmals hat der Gesetzgeber eindeutig geregelt, dass die Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses nur von Pflegefachpersonen wahrgenommen werden dürfen. Die Vorbehaltsaufgaben sorgen innerhalb der Berufsgruppe dennoch für Unsicherheit. Was sind die Gründe, wie lassen sich die Vorbehaltsaufgaben umsetzen und mit welchen Befugnissen gehen sie im Rahmen der interprofessionellen Zusammenarbeit einher? Ein Thinktank aus pflegerischen und juristischen Expertinnen und Experten hat hierzu Überlegungen angestellt.
Zu den Vorbehaltsaufgaben laut § 4 Pflegeberufegesetz (PflBG) zählen die Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs, die Organisation, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses sowie die Analyse, Evaluation, Sicherung und Entwicklung der Qualität in der Pflege. Die Vorbehaltsaufgaben stehen also im engen Zusammenhang mit dem Pflegeprozess, der vom Gesetzgeber als „professionsspezifische, analytische Arbeitsmethode der systematischen Strukturierung und Gestaltung des Pflegearrangements“ verstanden wird [1].
Die Vorbehaltsaufgaben dürfen nur von Pflegefachpersonen durchgeführt werden. Der Gesetzgeber hat somit entschieden, dass nur der fachliche Hintergrund und die fachliche Kompetenz dieser Berufsgruppe dazu geeignet sind, die Bevölkerung vor unsachgemäßer Pflege zu schützen. Vereinfacht ausgedrückt ist die Politik der Auffassung, dass pflegerische Problemstellungen in der Gesellschaft am besten von denen zu lösen sind, die dafür ausgebildet sind: Personen, die eine berufliche oder hochschulische Ausbildung zur Pflegefachperson abgeschlossen haben.
Keine neuen Aufgaben
Die Vorbehaltsaufgaben bedürfen sowohl einer pflegefachlichen als auch juristischen Konkretisierung [1]. Hierzu wurde 2021 ein Thinktank aus pflegerischen und juristischen Expertinnen und Experten gebildet. Die Arbeitsgruppe diskutierte zunächst die Begründungszusammenhänge der Vorbehaltsaufgaben. Die daraus resultierenden Ergebnisse und Empfehlungen wurden in der Dezember-Ausgabe 2021 von Die Schwester | Der Pfleger veröffentlicht [1]. Eine Zusammenfassung ist dem Textkasten „Begründungszusammenhänge der Vorbehaltsaufgaben“ auf Seite 20 zu entnehmen.
Begründungszusammenhänge der Vorbehaltsaufgaben
Pflegeplanung gehört zu den Vorbehaltsaufgaben – die Durchführung der Pflege nicht. Die Vorbehaltsaufgaben basieren auf dem Pflegeprozess. Das WHO-Modell beschreibt die vier Phasen des Pflegeprozesses als Einschätzung, Planung, Durchführung und Überprüfung. Im PflBG tauchen „Planung der Pflege“ und „Durchführung der Pflege“ bei den Vorbehaltsaufgaben aber nicht auf. Nach intensiver pflegewissenschaftlicher und juristischer Diskussion besteht in der Fachwelt aber mittlerweile Konsens, dass auch die Pflegeplanung als Vorbehaltsaufgabe zu verstehen ist. Die Durchführung der Pflege hingegen ist aus fachlicher Sicht – wie vom Gesetzgeber festgelegt – nicht als Vorbehaltsauf-gabe zu verstehen, da sie an Angehörige der Pflegeassistenzberufe delegiert werden kann.
Vorbehaltsaufgaben sind an Qualifikation und Fachlichkeit gebunden. Können die Vorbehaltsauf- gaben auch von Berufsangehörigen ausgeübt werden, die eine Ausbildung in der Altenpflege oder (Gesundheits- und) Kinderkrankenpflege absolviert haben? Mit dieser Frage hat sich bereits 2019 eine ähnlich wie der Thinktank besetzte interdisziplinäre Arbeitsgruppe befasst und ist zu dem Schluss gekommen, dass diese Kolleginnen und Kollegen – anders als Personen, die in der (Gesundheits- und) Krankenpflege oder als Pflegefachfrauen und -männer ausgebildet wurden – Vorbehaltsaufgaben nur eingeschränkt ausüben können – wenn sie auf die Altersgruppen bezogen sind, für die sie ausgebildet wurden. Die Expertengruppe schlug allerdings vor, den Geltungsbereich auf andere Altersgruppen auszuweiten, sofern entsprechende Zeiträume der Berufserfahrung oder Anpassungsqualifizierungen erfüllt sind. Diese Auffassung wird vom Thinktank geteilt. Eine grundsätzliche Auftrennung pflegerischer Aufgabenbeschreibungen und Vorbehaltsaufgaben nach den Versorgungsbereichen des SGB V und des SGB XI, also nach akut- oder langzeitpflegerischer oder nach ambulanter und stationärer Versorgung, wird vom Thinktank hingegen als nicht praktikabel und sinnvoll angesehen, obgleich pflegerische Aufgaben und Maßnahmen i. d. R. stets personen- und situationsorientiert spezifiziert werden müssen.
Keine Unterscheidung nach beruflicher und hochschulischer Qualifikation. Der Thinktank spricht sich gegen eine formale Unterscheidung der Verantwortlichkeit für Vorbehaltsaufgaben zwischen beruflicher und hochschulischer Pflegeausbildung aus. Zwar befähigt die hochschulische Pflegeausbildung nach § 37 PflBG zur Steuerung und Gestaltung hochkomplexer Pflegeprozesse auf der Grundlage wissenschaftsbasierter bzw. -orientierter Entscheidungen. Das PflBG macht allerdings an keiner Stelle Aussagen zu einer unterschiedlichen Verantwortungsaufteilung.
Quellen: [1–3]
§ 4 PflBG ist mit dem Begriff „Vorbehaltene Tätigkeiten“ überschrieben, im weiteren Verlauf des Gesetzestextes ist aber von „pflegerischen Aufgaben“ die Rede. Die Autorengruppe nutzt in diesem Artikel und im Kontext anderer Stellungnahmen den Begriff „Vorbehaltsaufgaben“.
Bei den Vorbehaltsaufgaben handelt es sich keinesfalls um neue Aufgaben in der Pflege. Zumindest die Steuerung des Pflegeprozesses ist bereits seit dem Krankenpflegegesetz des Jahres 1985 Bestandteil der Ausbildung von Pflegefachpersonen.
Insofern erstaunt es, dass die gesetzliche Festlegung im Pflegeberufegesetz als Vorbehaltsaufgaben nicht als Bestätigung und Betonung der wichtigen Rolle beruflicher Pflege im Rahmen der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung wahrgenommen wird, sondern stattdessen mit Unsicherheit einherzugehen scheint. Es verwundert ebenfalls, dass der Begriff der Vorbehaltsaufgaben bei vielen Berufsangehörigen den Wunsch auszulösen scheint, einzelne Pflegehandlungen eindeutig und rechtssicher als Vorbehaltsaufgaben aufzulisten und auf diese Weise von anderen, nicht vorbehaltenen Aufgaben abzugrenzen.
Dies wäre jedoch weder hilfreich noch sinnvoll. Denn das Pflegeberufegesetz beschreibt die Vorbehaltsaufgaben eindeutig als komplexe pflegerische Aufgaben. Statt einer kleinteiligen Tätigkeitsfixierung sollte der Fokus der Berufsangehörigen auf der Verantwortung personenzentrierter Pflegeprozesse liegen.
Die Unsicherheit innerhalb der Berufsgruppe könnte damit zusammenhängen, dass die Gestaltung des Pflegeprozesses und die Wahrnehmung von Vorbehaltsaufgaben getrennt voneinander betrachtet werden. Dabei gehören sie untrennbar zusammen, und es wird eine zentrale Herausforderung der nächsten Jahre sein, sich wieder einer systematischen Pflegepraxis auf der Grundlage des Pflegeprozesses zuzuwenden. In diesem Beitrag soll die Diskussion um Vorbehaltsaufgaben daher mit konkreten Fallbeispielen und pflegepraktischen Situationen in Bezug gebracht und erläutert werden.
Vorbehaltsaufgaben in der Praxis – zwei Fallbeispiele
Die Frage, mit welchen Befugnissen die Vorbehaltsaufgaben im Hinblick auf die Steuerung und Gestaltung des Pflegeprozesses einhergehen, stellt sich vor allem dann, wenn die Versorgung interdisziplinär erfolgt – was in vielen Praxisbereichen der Fall ist. Allgemein ist zu betonen, dass die Verantwortung für die Gestaltung des Pflegeprozesses zunächst weniger eine rechtliche Frage der Abgrenzung der Aufgaben der Berufsgruppen untereinander ist, sondern eine fachliche Frage, die der Diskussion mit anderen an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen bedarf.
Zur Konkretisierung im Folgenden zwei Fallbeispiele, die auf realen Situationen basieren. Im ersten Fallbeispiel geht es um die Kooperation der Pflege mit der Physiotherapie in Fragen der Mobilisation, das zweite Fallbeispiel betrifft die Kooperation der Pflege mit einem Stationsarzt in Fragen des Schmerzmanagements.
Fallbeispiel 1. In einer stationären Pflegeeinrichtung lebt eine 66-jährige Bewohnerin, die an einer fortgeschrittenen Multiplen Sklerose erkrankt ist. Sie weist schwere Beeinträchtigungen ihrer Selbstständigkeit und Fähigkeiten auf (Pflegegrad 3), insbesondere hinsichtlich ihrer Mobilität aufgrund mangelnder Kraft und Koordinationsfähigkeiten. Sie hat eine dauerhafte Verordnung über Physiotherapie, die sie in der Pflegeeinrichtung erhält. Im Rahmen der Pflege besteht eine Zielsetzung darin, einen sicheren Transfer vom Bett zum Rollator und die selbstständige Bewegung im Zimmer mit Rollator zu unterstützen. Im Rahmen der regelmäßigen Physiotherapie wird Treppensteigen geübt, jedoch nicht das Aufstehen aus dem Bett und der Gang mit Rollator.
Inwiefern ergeben sich in diesem Fallbeispiel Vorbehaltsaufgaben für Pflegefachper-sonen?
Dies betrifft zunächst einmal die Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs, was gleichzeitig auch den ersten Schritt des Pflegeprozesses umfasst. Im vor-liegenden Fall ist eine fachgerechte Bedarfseinschätzung erfolgt und die wesentlichen Informationen für die Gestaltung des Pflegeprozesses liegen vor. Eine darauf basierende Maßnahmenplanung liegt ebenfalls vor, aus der ein klarer Fokus auf die Förderung und den Erhalt der Mobilität und Selbstständigkeit im unmittelbaren Wohnumfeld der Pflegeeinrichtung hervorgeht.
Fragen der interdisziplinären Kooperation stellen sich im Hinblick auf die Physiotherapie. Als problematisch erscheint, dass die Pflege und Physiotherapie zwar beide das Ziel der Erhaltung und Förderung der Mobilität verfolgen, dazu jedoch unterschiedlich vorgehen. Die Vorgehensweisen beider Berufsgruppen sind nicht aufeinander abgestimmt, sodass womöglich sogar sich widersprechende Ziele verfolgt werden. Allgemein lassen sich die mangelhafte Kommunikation und Koordination hinsichtlich der jeweiligen Versorgungsziele kritisieren. Es handelt sich hier aber eindeutig nicht um eine juristische Frage, wer recht hat oder der jeweils anderen Berufsgruppe gegenüber weisungsbefugt ist.
Im Hinblick auf die Umsetzung des Pflegeprozesses ist festzuhalten, dass offensichtlich Kommunikationsdefizite bestehen, die relativ einfach durch eine Verständigung auf gemeinsame Ziele zu beheben wären. Voraussetzung dafür ist jedoch vonseiten der Pflegefachperson, dass die eigenen Überlegungen zur Gestaltung des Pflegeprozesses, insbesondere die Zielsetzung und Intention, transparent gemacht werden – was in diesem Fall und auch generell gut über die Maßnahmenplanung erfolgen kann – und begründet werden können.
Ein grundsätzliches Verständnis für die Perspektive der Physiotherapie ist ebenfalls hilfreich – vor allem dahingehend, dass akzeptiert wird, dass auch die Physiotherapie fachliche Vorgehensweisen zur Einschätzung von Mobilitätsbeeinträchtigungen kennt und auf dieser Basis Entscheidungen für angemessene therapeutische Vorgehensweisen trifft. Die aktive Klärung der unterschiedlichen Zielsetzungen und Vorgehensweisen oder die Schaffung von Transparenz zu verschiedenen, sich ergänzenden Möglichkeiten kann in diesem Fall auch als Bestandteil der Gestaltung des Pflegeprozesses angesehen werden.
Betont sei jedoch, dass Ziel dieses Verständigungsprozesses eine Einigung auf eine gemeinsame Zielsetzung im Sinne der Bewohnerin ist und nicht die grundsätzliche Frage, wer recht hat. Es ist in diesem Fall durchaus möglich, dass der Klärungsversuch vonseiten der Pflege nicht unmittelbar auf Einsicht und Verständigungsbereitschaft bei der Physio-therapie stößt.
Die Herausforderung eines interprofessionellen Klärungsprozesses zwischen Pflege und Physiotherapie ist jedoch durch die Festschreibung von Vorbehaltsaufgaben nur am Rande berührt. Die Verantwortung für den Pflegeprozess bedarf eines eigenen Verständnisses der Pflegenden über ihre Rolle und Position. Sie hat in diesem Fall mehr mit der grundsätzlichen Einsicht und Haltung gegenüber dieser Verantwortung zu tun als mit konkret beschreibbaren Pflegehandlungen.
Fallbeispiel 2. Eine 45-jährige Patientin erhält auf einer onkologischen Station in einem Krankenhaus eine Chemotherapie. Für die intermittierend auftretenden Schmerzen ist eine Bedarfsmedikation gemäß des WHO-Stufenschemas zur Schmerztherapie angeordnet. In Absprache mit der Patientin in einer akut-mittelgradigen Schmerzsituation – ermittelt mit dem Wert 5 auf der Numerischen Rating- skala (NRS) – gibt die Pflegefachperson kein Medikament, sondern führt eine nichtmedikamentöse pflegerische Intervention in Form einer speziellen Lagerungstechnik durch.
Aufgrund hoher Arbeitsbelastung kann die Pflegefachperson den Stationsarzt nicht zeitnah über die Durchführung dieser Maßnahme informieren. Er bemerkt einige Zeit später zufällig, dass keine Bedarfsmedikation verabreicht wurde, und wirft der Pflegefachperson die Nichtbeachtung seiner Anordnung vor. Die Patientin ist mit der Situation insgesamt jedoch zufrieden und gibt eine leichte Besserung der Schmerzen an, deren Intensität nun bei 3 bis 4 auf der NRS liegt.
Anders als in Fallbeispiel 1, bei dem die Berufsgruppen der Pflege und Physiotherapie unzureichend miteinander kommuniziert haben, geht es in diesem Fall um eine offene Meinungsverschiedenheit zwischen der Pflegefachperson und dem Stationsarzt über angemessene Maßnahmen zur Schmerzreduktion. Festzuhalten ist, dass die Pflegefachperson in diesem Fall ihrer Verantwortung für den Pflegeprozess dahingehend gerecht geworden ist, dass eine fachgerechte Bedarfseinschätzung erfolgt ist. Nach Abwägung verschiedener Aspekte – nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Perspektive und des Selbstbestimmungsrechts der Patientin –, hat die Pflegefachperson eine Entscheidung getroffen und umgesetzt. Aus einer Perspektive, die sich allein an fachlichen Erwägungen orientiert, kann das Vorgehen als sehr angemessen bewertet werden. Dass die Einschätzung von Schmerzen und die Durchführung nichtmedikamentöser Maßnahmen zur Schmerzlinderung zum Verantwortungsbereich der Pflege gehören, kann mit Verweis auf den Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege“ als sicher bewertet werden. Bei diesem Fallbeispiel hat die Entscheidung der Pflegefachperson außerdem offensichtlich zu einer positiven Veränderung der Situation geführt. Die Pflegefachperson ist aus fachlicher Sicht ihrer Verantwortung zur Steuerung des Pflegeprozesses also gerecht geworden.
Durch den Vorwurf des Stationsarztes kommt in dieser Praxissituation aber neben fachlichen Erwägungen noch ein anderer Aspekt zum Tragen, nämlich die Frage des vermeintlichen Nichtbefolgens einer ärztlichen Anordnung. Genau betrachtet trifft dies im vorliegenden Fallbeispiel nicht zu, da es sich nicht um eine bestimmte konkrete ärztliche Anordnung ohne Beurteilungs- und Ermessensspielraum für die Pflegefachperson handelte, sondern um die Festschreibung einer Bedarfsmedikation, also einer Regelung für den Bedarfsfall. Die Anordnung von Bedarfsmedikationen ist eine sinnvolle Maßnahme im Zusammenwirken von Medizin und Pflege für Situationen, in denen bestimmte Bedarfslagen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten. Gleichzeitig delegiert der Stationsarzt mit dieser Bedarfsregelung zudem die Einschätzung, ob ein Bedarfsfall vorliegt, und auch die Entscheidung zur Medikamentengabe ebenfalls an die Pflege. Mit dieser Zuweisung der Einschätzungs- und Entscheidungskompetenz an die Pflege kann daher keine Verpflichtung zu einer Medikamentengabe verbunden sein. Tritt der Bedarfsfall nicht ein, erledigt sich somit auch die Bedarfsanordnung. Ohne eine solche Regelung hätte die Pflegefachperson in diesem Fall keinerlei Befugnisse gehabt, im Bedarfsfall der Patientin Schmerzmedikamente zu verabreichen. Durch eine solche Bedarfsanordnung war sie aber auch nicht gehindert, eine schmerzlindernde pflegerische Intervention durchzuführen. Im vorliegenden Fall hat die Patientin zwar Schmerzen geäußert, die Pflegefachperson ist aber mit ihrer Fachkompetenz und in Abstimmung mit der Patientin zu der Einschätzung gelangt, dass eine medikamentöse Analgesie eben nicht beziehungsweise noch nicht erforderlich ist. Eine bedarfsweise Medikamentenanordnung bedeutet nicht, dass damit alle komplementären pflegerischen Maßnahmen ausgeschlossen wären. Insofern hat die Pflegefachperson ihren autonomen Verantwortungsrahmen genutzt. Da hierbei auch die Meinung und Perspektive der Patientin berücksichtigt wurden, ist der Sachverhalt in diesem Fall eindeutig zugunsten der Entscheidungen der Pflegefachperson zu bewerten. Unabhängig davon ist es natürlich immer sinnvoll und sachgerecht, dass sich die Medizin und Pflege über das Vorgehen abstimmen und im besten Fall gemeinsam entscheiden.
Was als richtig und angemessen oder falsch und nicht angemessen anzusehen ist, ist also auch in diesem Fallbeispiel nicht abstrakt festzulegen, sondern bedarf der genaueren Betrachtung der Umstände. Für Pflegefachpersonen sollte das Fallbeispiel eine Bestätigung sein, auf der Grundlage sorgfältiger fachlicher Abwägungen Entscheidungen zu treffen, die zu einer Verbesserung der Situation von Patientinnen und Patienten führen können. Soweit möglich, müssen die betroffenen Personen bei den Entscheidungen einbezogen werden.
Die geschilderte Praxissituation bedeutet aber ausdrücklich nicht, dass im Fall ärztlicher An- oder Verordnungen – anstatt der in diesem Fall vorliegenden Bedarfsmedikation – die Gestaltung des Pflegeprozesses die Abweichung von diesen Anordnungen grundsätzlich vorsieht. Im Fall ärztlicher An- oder Verordnungen, die in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung die Regel sind, sind diese in die Gestaltung des Pflegeprozesses einzubeziehen. Sofern Bedenken oder Einwände gegen ärztliche Verordnungen bestehen, sollten diese von Pflegefachpersonen angesprochen und begründet werden. Ärztliche An- oder Verordnungen zu ignorieren, ist weder berufsrechtlich zulässig noch eine gute fachliche Grundlage weiterer Entscheidungen im Rahmen des Pflegeprozesses.
Resümee
Die zwei Fallbeispiele veranschaulichen eindrücklich einen zentralen Aspekt der Vorbehaltsaufgaben: Sie beziehen sich hochgradig und in erster Linie auf den kognitiven Anteil von Pflegearbeit. Beim ersten Fallbeispiel betrifft dies die Kommunikation der Pflegeziele und die Koordination der Maßnahmen mit der Physiotherapie, im zweiten Fall die Einschätzung der Schmerzsituation und die Aushandlung der Maßnahmen mit der Patientin. Die Durchführung der Mobilisation (Fallbeispiel 1) und der schmerzlindernden Lagerung (Fallbeispiel 2) – also den „manuellen“ Anteil der Pflege – müssen nicht zwingend Pflegefachpersonen übernehmen (die Durchführung der Pflege ist keine Vorbehaltsaufgabe), gleichwohl dies häufig sinnvoll ist und, wenn dafür deren fachliche Expertise notwendig ist, geboten.
Somit liegt die eigentliche Kernkompetenz professioneller Pflege – die nicht durch andere Berufsgruppen leistbar und daher eine Vorbehaltsaufgabe ist – in der Situationseinschätzung auf Basis von theoretischem und Erfahrungswissen, der Fähigkeit zum hermeneutischen Fallverstehen und dem Wissen um wirksame Pflegemethoden. Beide Fallbeispiele zeigen zudem die Notwendigkeit auf, sich dem pflegerischen Verantwortungsbereich in unterschiedlichen Bereichen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher, für die jeweiligen Bereiche typischer Fallkonstellationen anzunähern und darüber sowohl das Verständnis wie auch die Haltung und das Selbstbewusstsein zur Übernahme der Verantwortung für Pflegeprozesse zu befördern.
Hinweis:
Ein Folgebeitrag der Autorin und der Autoren mit weiteren Konkretisierungsbeispielen wird voraussichtlich in der Juli-Ausgabe von Die Schwester | Der Pfleger erscheinen.
[1] Weidner F. Vorbehaltsaufgaben in der Praxis. Die Schwester | Der Pfleger 2021; 60 (12): 20–25
[2] Klie T. Im Fokus: Verantwortung. Altenheim 2022; 7: 16–19
[3] Weidner F, Pohlmann M. Pflegerische Vorbehaltsaufgaben im Krankenhaus: Der Rahmen fehlt noch. kkvd-aktuell 2022; 3