Seit 20 Jahren entwickelt, konsentiert und implementiert das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) evidenzbasierte, d. h. auf empirische Belege gestützte, Expertenstandards. Professor Martin Moers hat an allen bisherigen Expertenstandards mitgearbeitet. Wir sprachen mit ihm über die historischen Hintergründe, den Entstehungsprozess der Expertenstandards und künftige Aufgaben.
Herr Professor Moers, Expertenstandards sind heute aus der Pflege nicht mehr wegzudenken. Haben Sie vor 20 Jahren, als die Arbeit am ersten Expertenstandard begann, mit diesem Erfolg gerechnet?
Nein, überhaupt nicht. Wir waren jahrelang von Fördermitteln abhängig und wussten nie, wie lange wir unsere Arbeit werden fortsetzen können. Heute blicken wir auf 20 erfolgreiche Jahre zurück und können mit Stolz sagen: Für die Professionalisierung der Pflege haben die Expertenstandards Hervorragendes geleistet.
Inwiefern?
Mit der Entwicklung von Expertenstandards ist es der Berufsgruppe gelungen, ihr Wissen selbst zu definieren und das Niveau fachlich angemessener Leistung selbst zu bestimmen. Da die Expertenstandards aus der Pflege selbst stammen, geben sie der Berufsgruppe Handlungssicherheit und ein gewisses Maß an beruflicher Autonomie.
Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) initiiert und koordiniert die Entwicklung der Expertenstandards. Wie kam es zur Gründung des Netzwerks?
Um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man zurückgehen ins Jahr 1980. Damals veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Programm mit dem Titel „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“. Die Mitgliedstaaten waren darin aufgerufen, gute Qualität in der Patientenversorgung zu definieren und geeignete Verfahren zur Qualitätsförderung zu entwickeln. Eine daraufhin gegründete englischsprachige WHO-Arbeitsgruppe setzte sich inhaltlich und methodisch mit der Frage auseinander, wie Qualität in der pflegerischen Versorgung gefördert werden kann. Als nach 5 Jahren der Abschlussbericht vorlag, entstand die Idee, ein europäisches Netzwerk zu gründen und zudem die Etablierung von nationalen Netzwerken anzuregen. Dahinter stand die Überzeugung, dass sich Qualität nicht allein durch Vorschriften und externe Prüfverfahren erreichen lässt. Vielmehr ist der breite fachliche Dialog unter Expertinnen und Experten erforderlich, um innovative Verfahren für pflegerische Einrichtungen flächendeckend handlungswirksam werden zu lassen.
Das europäische Netzwerk entstand 1992. Wie ging es dann weiter?
Die Gründung des europäischen Netzwerks hatte für die Pflege in Deutschland eine zentrale Bedeutung, denn erstmals waren – anders als in der WHO-Arbeitsgruppe – Länder beteiligt, die in Sachen Qualitätsentwicklung noch über wenig Erfahrung verfügten. Im Rahmen von Konferenzen, länderübergreifenden Projekten und Hospitationen konnte dieser Rückstand aufgeholt und von den Erfahrungen von Ländern wie Großbritannien, die Niederlande und den skandinavischen Staaten profitiert werden. Das Netzwerk beschäftigte sich damals vorrangig mit der „Stationsgebundenen Qualitätsentwicklung“. Diese Methode sah vor, dass Pflegende auf Stations- oder Abteilungsebene ihre eigenen Standards erarbeiten und evaluieren. Einige Länder schenkten ab Anfang der 1990er-Jahre jedoch auch der Entwicklung nationaler Pflegestandards, die Expertenarbeitsgruppen erstellen, zunehmend Beachtung.
Warum gründete sich das DNQP ausgerechnet in Osnabrück?
An der Hochschule Osnabrück startete in den 1980er-Jahren der erste pflegebezogene Stu-diengang der Bundesrepublik, der sich als dauerhaftes Angebot etablieren konnte. Die dadurch vorhandenen weitreichenden Kontakte zu Berufsverbänden, Gesundheitsministerien sowie Bildungs-, Forschungs- und Praxiseinrichtungen waren günstige Bedingungen für einen zügigen Aufbau des DNQP. Zudem standen von Anfang an die Ressourcen für eine Geschäftsstelle zur Verfügung. Der wichtigste Grund ist aber zweifellos die unermüd-liche Pionierarbeit meiner inzwischen emeritierten Kollegin Prof. Dr. Doris Schiemann, der Gründerin und langjährigen Leiterin des DNQP.
Wie sah die Arbeit des DNQP in den Anfangsjahren aus?
In den 1990er-Jahren beschäftigte sich das DNQP vorrangig mit der Entwicklung betriebsinterner Pflegestandards. In regelmäßigen Netzwerk-Workshops tauschten sich die Mitgliedseinrichtungen über ihre Aktivitäten aus. Dabei war einerseits zu beobachten, dass die Einrichtungen in der Entwicklung von Praxisstandards immer besser wurden. Andererseits war das fachliche Niveau dieser Standards teilweise unzureichend. Demzufolge fiel die Qualität der Praxisstandards verschiedener Einrichtungen zum selben Thema sehr unterschiedlich aus. Dies führte zu einem Strategiewechsel: Seit 1999 entwickelt das DNQP evidenzbasierte Expertenstandards auf nationaler Ebene. Diese von der Pflege selbst entwickelten Qualitätsvereinbarungen sollten den Einrichtungen als Orientierung für das anzustrebende Niveau des Pflegehandelns dienen. Bis heute ist dies der Grundgedanke der Expertenstandards.
Warum wurde als erstes Thema die Dekubitusprophylaxe ausgewählt?
Dieses Thema war in der Diskussion um Qualitätsentwicklung in der Pflege schon immer sozusagen der Klassiker. Dies liegt daran, dass die Entstehung eines Dekubitus durch pflegerisches Handeln beeinflussbar ist.
Wie kann man sich die Arbeit am ersten Expertenstandard vorstellen?
Vieles war natürlich Neuland. Dennoch ging die Arbeit zügig voran, weil wir in der Entwicklung von Expertenstandards auf das methodische Vorgehen der Partnerländer zurückzugreifen konnten. Zudem war es uns schon damals gelungen, eine kompetente Expertengruppe zusammenzustellen. Sie wurde von der damaligen Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Witten-Herdecke, Prof. Christel Bienstein, geleitet.
Expertenstandards werden in einem mehr-stufigen Verfahren entwickelt. Im ersten Schritt wird der Standard von einer Expertengruppe erstellt. Wie erfolgt dieses Prozedere?
Die Entwicklung eines neuen Expertenstandards beginnt mit der Bildung einer Expertengruppe. Diese besteht aus etwa 5 bis 10 Personen, die nach ihrer Fachlichkeit ausgewählt werden. Die Gruppe kommt innerhalb eines Jahres zu etwa 5 Treffen zusammen. Die Expertinnen und Experten tauschen sich auf diesen Terminen aus, diskutieren Inhalte, erteilen Arbeitsaufträge und legen das weitere Vorgehen fest. Das wissenschaftliche Team des DNQP organisiert und moderiert diese Treffen. Im nächsten Schritt erstellt die Arbeitsgruppe einen ersten Entwurf des Expertenstandards. Dieser wird in einem weiteren Treffen diskutiert, ggf. überarbeitet und schließlich verabschiedet. In der sog. Konsensuskonferenz – einer vom DNQP organisierten Veranstaltung mit rund 600 bis 800 Fachleuten – stellt die Arbeitsgruppe den Standard vor. Die Rückmeldungen des Publikums werden protokolliert, ausgewertet und in den Standard eingearbeitet. Erst dann wird der Expertenstandard erstmals in Papierform veröffentlicht – als sog. Sonderdruck.
Im nächsten Schritt wird der Expertenstandard in der Praxis erprobt ...
Richtig, dies ist die aus meiner Sicht spannendste Phase: Im Rahmen der sog. modellhaften Implementierung, an der rund 30 stationäre und ambulante Einrichtungen teilnehmen, muss sich der neue Expertenstandard in der Praxis bewähren. Wenn dieses Projekt abgeschlossen ist, werden die gemachten Erfahrungen in einem Workshop erfasst und in den Expertenstandard eingearbeitet. Erst dann erfolgt die Veröffentlichung als Buch.
Wie hat die Fachöffentlichkeit auf den ersten Expertenstandard reagiert?
Es gab hier kein einheitliches Bild, aber die Berufsgruppe war insgesamt sehr interessiert an unserer Arbeit. Das spiegelt sich auch in den Verkaufszahlen des ersten Expertenstandards wider, denn die waren schon recht ordentlich. Auch die Fachzeitschriften haben damals positiv über uns berichtet. Und natürlich waren auch die Berufsverbände daran interessiert, welche Leistung wir als „gute Pflege“ definieren. Darum geht es ja bei den Expertenstandards letztlich.
Expertenstandards sind in der Pflege noch immer umstritten. Einigen ist der Aufwand der Implementierung im Verhältnis zum Nutzen zu hoch, manche Praktiker fühlen sich durch die wissenschaftliche Sprache ausgegrenzt, gewissen Forschern wiederum erfolgt die Erstellung der Standards nicht wissenschaftlich genug. Was halten Sie Kritikern entgegen?
Zunächst ist festzuhalten: Inhaltlich werden Expertenstandards selten kritisiert. Das ist auch nicht überraschend, da sie durch eine umfangreiche Literaturrecherche und ein methodisch einwand- freies Verfahren abgesichert sind. Natürlich bindet die Einführung eines Expertenstandards zeitliche Ressourcen, aber anders geht es nicht. Zudem ist der Zeitfaktor relativ, denn mit Qualitätssicherung müssen sich Einrichtungen ohnehin beschäftigen. Mir ist wichtig, hervorzuheben, dass mit den verfügbaren Expertenstandards fachlich gebündeltes Wissen zu bislang 11 Themen vorliegt. Das ist aus meiner Sicht ein großer Fortschritt für die Pflege.
Was sagen Sie jenen Kritikern, die mehr Wissenschaftlichkeit anmahnen?
Diese Stimmen wird es immer geben. Ihnen ist entgegenzuhalten, dass Expertenstandards Instrumente für die Pflegeentwicklung in der Praxis sind. Das DNQP betont, dass es Pflegeexpertinnen und -experten sowie spezifische Einführungsprojekte braucht. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, haben sich alle bisherigen Standards in der Praxis bewährt.
Mit dem Mitte 2008 in Kraft getretenen Pflege-Weiterentwicklungsgesetz hat der Gesetzgeber die Entwicklung und Aktualisierung von Expertenstandards den Vertragspartnern auf Bundesebene,also den Vertretern von Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen, übertragen. Wie bewerten Sie diese Regelung im Rückblick?
Die Entscheidung war gut gemeint, aber bewährt hat sie sich nicht. Der im Auftrag der Vertragsparteien nach § 113a SGB XI durch das DNQP entwickelte und konsentierte Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mobilität“ wurde im Juni 2014 an den GKV-Spitzenverband übergeben und ist auf der Homepage des Auftraggebers einsehbar. Seitdem ist nicht viel passiert; in Buchform ist der Expertenstandard nicht erschienen und verabschiedet wurde er von den Vertragsparteien bislang ebenfalls nicht.
Rechnen Sie damit, dass der § 113a SGB XI wieder abgeschafft wird?
Das wäre aus 2 Gründen wünschenswert. Erstens konnte der gesetzliche Auftrag in dieser Konstella- tion, in der Leistungserbringer und Finanzierer sich einigen sollen, offensichtlich nicht erfüllt werden. Zweitens gehört die Festlegung des fachlichen Niveaus pflegerischen Handelns in die Hände der Berufsgruppe. Das ist in der Medizin so und sollte in der Pflege nicht anders sein.
Seitdem § 113a in Kraft getreten ist, hat das DNQP 7 existierende Expertenstandards aktualisiert, 2 davon bereits zum 2. Mal, und in Eigenregie 4 neue
Standards entwickelt – ohne gesetzlichen Auftrag. Hat der Gesetzgeber diese Möglichkeit bewusst offengelassen?
Wir haben damals mit den Vertragsparteien und dem Bundesgesundheitsministerium über eine Koopera-tion verhandelt. Diese kam nicht zustande, da die Vertragsparteien sich nur um den Geltungsbereich des SGB XI, also die Langzeitpflege, kümmern, aber nicht um den Akutbereich, der im SGB V geregelt ist. Das ist mit dem sektorenübergreifenden Ansatz des DNQP nicht zu vereinbaren, also haben wir mit unserer Arbeit unverdrossen weitergemacht.
Derzeit wird der neue Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ entwickelt. Wo stehen Sie aktuell?
Die Expertenarbeitsgruppe unter Leitung von Juniorprofessorin Dr. Erika Sirsch ist konstituiert, ein erstes Treffen hat stattgefunden. Die Arbeit ist auf gutem Weg, und die Konsensuskonferenz wird voraussichtlich im Oktober 2020 erfolgen.
Stehen weitere Themen bereits fest?
Im Lenkungsausschuss werden kontinuierlich Diskussionen über weitere Themen geführt. Manche sind schon länger im Gespräch, wie das Medikamentenmanagement in der Pflege. Genaue Festlegungen gibt es jedoch nicht. Das liegt vor allem an unserem gut gefüllten Arbeitsplan aufgrund der regelmäßig anfallenden Aktualisierungen. Zurzeit werden die beiden Standards zum akuten und chronischen Schmerz von einer gemeinsamen Expertengruppe bearbeitet. Dabei wird auch geprüft, inwieweit beide näher zusammenzuführen sind. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass das DNQP bei den zuverlässig durchgeführten Aktualisierungen auch international weit vorne liegt – vielen anderen Organisationen fehlt hier der notwendige lange Atem.
Wo sehen Sie das DNQP in 10 Jahren?
Künftig wird eine engere Kooperation mit Pflegekammern wichtig sein, denn diese sind aus berufsrechtlicher Sicht auch für Fragen der Pflegequalität zuständig. Der Fokus wird aber natürlich auf der Entwicklung neuer Expertenstandards liegen. Aus meiner Sicht sind hier künftig Bereiche wie die Psychiatrie-, Palliativ- und pädiatrische Pflege in den Blick zu nehmen. Auch die Entwicklung von Indikatoren zur internen Qualitätsentwicklung und -steuerung steht erst am Anfang. Es gibt also genug zu tun.