Der Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Univ.-Prof. Dr. Michael Ewers, über die Ergebnisse der Studie „Pflege in anderen Ländern“.
Herr Professor Ewers, in der Studie „Pflege in anderen Ländern“, abgekürzt PinaL, haben Sie die Situation der Pflege in Großbritannien, den Niederlanden, Schweden und Kanada untersucht. Warum fiel die Wahl gerade auf diese Länder?
Wir wollten fundierte, differenzierte und für den Diskurs hierzulande anschlussfähige Erkenntnisse erarbeiten. Die Länder sollten also grundsätzlich mit Deutschland vergleichbar sein. Angesichts des begrenzten Zeitraums der Studie – sie erstreckte sich gerade einmal über 6 Monate – war zudem wichtig, dass wir aus früheren Forschungsaktivitäten schon über einige Vorkenntnisse zu den Ländern verfügten. Schließlich war uns wichtig, dass wir auch bestehende Kontakte zu Experten in den jeweiligen Ländern für die Recherchen nutzen konnten. Auch sprachliche Gesichtspunkte spielten eine Rolle, weshalb schließlich die Wahl auf diese 4 Länder fiel.
Wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Wir haben die einschlägige Literatur recherchiert, gesichtet und analysiert sowie Telefon- und Videointerviews mit Experten aus der Praxis, Bildung, Wissenschaft und Politik durchgeführt. Dabei haben wir uns an 7 Leitfragen orientiert, die wir später auch für die Strukturierung der Erkenntnisse verwendet haben. Sie zielten etwa auf die Gestaltung der Ausbildung, die Karrierewege für Pflegende und innovative Modelle in der Pflegepraxis. Zudem haben wir bei einzelnen Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Behörden und Berufsverbänden Verständnis- und Detailfragen per Telefon und E-Mail geklärt. Die so erarbeiteten Erkenntnisse haben wir dann in Form von Länderporträts in Buchform aufbereitet.
Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen der Pflege in Deutschland und in den untersuchten Ländern?
In Großbritannien, Schweden und Kanada setzt der Pflegeberuf einen Hochschulabschluss voraus. In den Niederlanden ist neben dem Studium auch eine nichtakademische Ausbildung möglich. In Schweden verfügt rund die Hälfte der hochschulisch primärqualifizierten über eine postgraduale Fachweiterbildung. Akademisch ausgebildete Pflegende mit erweiterten Kompetenzen sind in den untersuchten Ländern inzwischen unverzichtbar. In Deutschland sind dagegen gerade einmal 1–2 % der Pflegenden hochschulisch qualifiziert und in der Versorgungspraxis sind sie allenfalls in homöopathischer Dosis anzutreffen. Auffallend in den Untersuchungsländern ist zudem, dass die Pflegenden an der Entwicklung von Lösungen zum Erhalt der Gesundheitsversorgung aktiv beteiligt sind, da professionelle Interessensvertretungen des Berufsstands von der Politik das Recht und die Pflicht einer Mitbestimmung übertragen bekommen haben.
Um welche Form der Interessensvertretung handelt es sich?
In einigen Ländern gibt es Organisationen mit Kammerfunktion, wie der „Nursing & Midwifery Council (NMC)“ in Großbritannien oder das „College of Nurses of Ontario (CNO)“ in Kanada. Sie wurden staatlicherseits mit einem eindeutigen Mandat und einem beachtlichen Einfluss ausgestattet. Beispielsweise sind sie für die Registrierung der Pflegefachpersonen, die Sanktionierung von Berufsverstößen, die Organisation und Qualitätssicherung der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie die Akkreditierung von zur Bildungsarbeit in der Pflege zugelassenen Organisationen verantwortlich. Daneben gibt es starke Berufsverbände der Pflege. In Großbritannien übernimmt das „Royal College of Nursing (RCN)“ sowohl die Funktionen eines Berufsverbandes wie auch die einer Gewerkschaft. Auch die niederländischen, schwedischen oder kanadischen Berufsverbände werden als Partner von der Politik und den Interessengruppen ernst genommen und an Entscheidungen beteiligt. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Organisationsgrad in der Pflege – anders als in Deutschland – ausgesprochen hoch ist. Oft wird die Mitgliedschaft im Berufsverband von den Arbeitgebern als Ausdruck von Professionalität angesehen und entsprechend unterstützt.
Was für einen Weg wünschen Sie sich bei der Akademisierung der Pflege in Deutschland – eingleisig wie in Großbritannien, Schweden und Kanada oder mehrgleisig wie in den Niederlanden?
Mehrgleisig, weil dies angesichts der Ausgangssituation in Deutschland der einzig realistische Weg ist. Allerdings ist es dringend geboten, dass sich die Bundesregierung zu der bereits 2012 vom Wissenschaftsrat gesetzten Zielmarke bekennt, 20 % an Auszubildenden eines Jahrgangs grundständig hochschulisch zu qualifizieren. Entsprechend nachdrücklich müssen konkrete Fördermaßnahmen in Bund und Ländern zum Ausbau der hochschulischen Pflegeausbildung auf den Weg gebracht werden. Davon sind wir derzeit weit entfernt, und es ist es geradezu grotesk, wenn in der eben veröffentlichten „Ausbildungsoffensive Pflege“ im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege festgehalten wird, die genannte Zielmarke „langfristig“ anstreben zu wollen.
Der Mangel an professionell Pflegenden ist ein weltweites Problem. Wie stellen sich die untersuchten Länder dieser Herausforderung?
Zum Teil reagieren sie mit ähnlichen Maßnahmen darauf wie auch hierzulande: Sie bemühen sich um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, um die Integration von Arbeitskräften mit geringer Qualifikation und um die Rekrutierung von Pflegepersonal aus dem Ausland. Daneben finden sich aber auch deutlich andere Lösungsansätze als in Deutschland. Auffallend sind die Investitionen in die hochschulische Aus- und Weiterbildung, Maßnahmen zur Stärkung der Selbstorganisation der Pflege sowie die Erweiterung pflegerischer Aufgaben- und Verantwortungsbereiche. Die Pflege ist in den anderen Ländern ein attraktiver und moderner Gesundheitsberuf, der auch entsprechende Karriereoptionen bietet.
Der quantitativ steigende Bedarf in der Pflege lässt neue Berufsgruppen entstehen. Gibt es hier relevante Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern?
In den untersuchten Ländern findet sich heute überwiegend ein auf die jeweiligen Nutzer und Versorgungssituationen ausgerichteter Qualifikationsmix, bestehend aus Betreuungskräften und Pflegeassistenten, Pflegefachpersonen und Pflegeexperten. Großbritannien, Schweden und Kanada setzen darauf, die Ausbildung von Pflegenden unterhalb der Ebene der mindestens 3-jährig ausgebildeten Pflegefachpersonen zu vereinheitlichen. In Deutschland hingegen liegt die Verantwortung für die Qualifizierung von Pflegehelfern und -assistenten bei den Bundesländern. Entsprechend stellt sich die Qualifizierung in diesem Feld als Flickenteppich dar und ihre Qualität ist ungewiss. Eine länderübergreifende Verständigung ist bisher nicht zustande gekommen.
Die Novellierung der Ausbildung durch das Pflegeberufegesetz, das 2020 in Kraft tritt, ist ein erster Schritt, damit Deutschland international anschlussfähig wird. Welche konkreten Schritte müssen Ihrer Meinung nach folgen?
Wir brauchen konkrete Fördermaßnahmen auf Bundes- und Landesebene für die hochschulische Pflegeausbildung. Hierzu gibt es bislang kaum konkrete Vorstellungen oder gar entsprechende Finanzierungsmodelle. Fast entsteht der Eindruck, als sei diese Ausbildungsoption vom Gesetzgeber lediglich geduldet. Nötig wären aus unserer Sicht auch Anreizsysteme, um junge Menschen davon zu überzeugen, ein Pflegestudium aufzunehmen. Gemäß dem Slogan „Wir brauchen sie alle“ muss schließlich auch die Qualifizierung von Assistenten und Helfern angepasst und mit der Kernqualifikation der Pflegefachpersonen abgestimmt werden. Es müssen schlüssige, voneinander abgegrenzte Anforderungs- und Kompetenzprofile definiert werden und diese dann in ein klares, plausibles, konsekutiv- gestuftes, durchlässiges Pflegebildungssystem integriert werden. Es ist an der Zeit, dass wir uns endlich von den traditionellen deutschen Sonderwegen in der Qualifizierung der Pflege verabschieden und Anschluss an andere Länder finden.
Wie lautet Ihr Fazit der Studie? Inwiefern kann Deutschland vom Ausland lernen?
Interessanterweise beschreiten die anderen Länder, trotz gewisser Unterschiede im Detail, einen gemeinsamen Entwicklungspfad: Sie nehmen die Pflege als modernen Gesundheitsberuf ernst, übertragen ihr ein hohes Maß an Verantwortung und unterstützen ihre Bemühungen um Höherqualifizierung, Selbstorganisation und Innovation in allen Versorgungs- und Handlungsbereichen. Dabei kombinieren sie gesundheits- und sozialpolitische mit bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Einerseits sichern sie dadurch die pflegerische Versorgung, andererseits machen sie eine Tätigkeit in der Pflege attraktiver. Das stellt sich in Deutschland derzeit anders dar. Gelegentlich entsteht der Eindruck, als würde hierzulande insbesondere eine hochschulische Qualifizierung eher als Risiko denn als Chance angesehen. Es fehlen gezielte Investitionen und Innovationen in der pflegerischen Aus- und Weiterbildung. Aber auch den Aufgaben- und Verantwortungsbereich von Pflegefachpersonen zu erweitern, ihre Autonomie zu erhöhen und ihre Selbstorganisation zu stärken, wären wichtige Schritte, um Anschluss an die anderen Länder zu finden.