• 19.12.2018
  • Management
Fachkräfte-Recruiting aus Indien

Abwerbung verboten

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 1/2019

Seite 80

Kinder statt Inder – mit diesem umstrittenen Slogan ging CDU-Politiker Jürgen Rüttgers einst in Nordrhein-Westfalen auf Stimmenfang. Heute sind hoch qualifizierte Fachkräfte aus Indien in der deutschen Wirtschaft immer begehrter. Auch für Krankenhäuser könnten sich vor allem in der Pflege attraktive Perspektiven ergeben – wenn man sie nur ließe.

Das St. Franziskus-Hospital in Münster hat ein Alleinstellungsmerkmal. Denn es gehört zu den wenigen Krankenhäusern in Deutschland, die zuletzt mehrere indische Pflegekräfte eingestellt haben. Am Anfang, berichtet Pflegedirektor Leonhard Decker, stand kein ausgetüftelter Plan, sondern nur ein persönlicher Kontakt: Die Nichte einer indischen Stationsleitung hatte auf dem Subkontinent gerade ihr Pflegestudium beendet und ließ über ihre Tante anfragen, ob es für sie und drei ihrer Studienfreundinnen freie Stellen in Deutschland gäbe. Decker sagte zu, das Abenteuer begann.

Zuwanderung aus Indien steigt

 

Im Jahr 2017 erhielten insgesamt 1,2 Millionen Drittstaatsangehörige eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, davon 38.779 aus Indien (3,2 Prozent). Im Jahr 2016 waren es 33.635. Seit 2012 können hoch qualifizierte Migranten aus Drittstaaten über die sogenannte Blaue Karte nach Europa kommen. Im Jahr 2017 zählte das Bundesamt für Migration insgesamt 21.727 Antragsteller in Deutschland. Die mit Abstand größte Gruppe davon stammte aus Indien (5.253, ca. 24 Prozent). Im Vergleich aller EU-Länder ist Deutschland Spitzenreiter bei der Erteilung von Blauen Karten – allein 2016 wurden 84 Prozent aller Blauen Karten in Deutschland ausgestellt.

   

Nachdem alle Formalia erledigt und eine Gleichwertigkeitsprüfung in Düsseldorf absolviert war, konnten die vier Frauen auf der Station starten, absolvierten parallel Deutschkurse und wurden von ihren neuen Kollegen auch im Alltag begleitet: im Supermarkt, auf den Behörden, in der Stadt. „Ein gutes Onboarding ist unverzichtbar für eine gelungene Integration“, sagt Decker. Eineinhalb Jahre später hatten alle vier ihre Anerkennung als Fachpflegekraft erhalten; inzwischen ist sogar eine fünfte Kollegin aus Indien dazugekommen. „Alle fünf sind mit einem Bachelor-Abschluss theoretisch gut ausgebildet“, sagt Decker. Nachschulen musste das Krankenhaus vor allem in der Grundpflege, die in Indien traditionell eher die Familienangehörigen übernehmen. Insgesamt sei das Anerkennungsverfahren nicht leicht gewesen, bilanziert Decker. Dies lag auch an unklaren Zuständigkeiten und vielen bürokratischen Verfahren. Insgesamt zieht der Pflegedirektor eine positive Bilanz: Die neuen Kolleginnen aus Indien seien fleißig, engagiert und höflich – „im Vergleich zu anderen Zuwanderern aber eher zurückhaltend“. Mitunter scheuen sie anfangs die Übernahme von Verantwortung, dies lege sich aber mit der Zeit. Decker ist sich sicher: „Ich würde diese Entscheidung jederzeit wieder treffen.“

Personaler haben Indien nicht auf dem Schirm

Beispiele wie das in Münster machen bislang aber noch keine Schule. Im Gegenteil: Die meisten Krankenhäuser haben Indien für die Personal­akquise nicht auf dem Schirm. Der evangelische Gesundheitskonzern Agaplesion sucht keine Fachkräfte in Indien und plant auch nicht, dies in Zukunft zu tun, teilte man auf Anfrage von f&w mit. Ähnlich äußert sich die Ameos-Gruppe, einer der größten privaten Krankenhausbetreiber in Deutschland. „Vor allem sind die Sprachbarrieren ein großes Hindernis, da in der Branche nicht Englisch, sondern Deutsch unter anderem von den zuständigen Behörden gefordert ist“, sagt Stefan Wollschläger, stellvertretender Leiter Personalmanagement von Ameos. Auch Michael van Loo, Personalchef des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf (UKE), nennt die Sprachbarrieren als einen Grund dafür, warum sein Haus derzeit nicht den Blick nach Indien richtet. „So groß scheint die Not noch nicht zu sein“, mutmaßt er. Auch in der Krankenhaus-IT spielt Indien bislang keine große Rolle (s. Textkasten) – vor allem, weil die Anforderungen in Krankenhäusern recht speziell sind.

In der Pflege hingegen könnten deutsche Krankenhäuser viel aktiver werden, wenn man sie nur ließe, sagt Dr. Meiko Merda. Der Gesundheitswissenschaftler und interkulturelle Trainer ist in seiner Dissertation der Frage nachgegangen, inwiefern indische Pflegekräfte helfen könnten, den deutschen Fachkräftemangel zu lindern. Allerdings: „Die Personalverantwortlichen haben Indien nicht auf dem Schirm, weil es de facto nicht erlaubt ist, Pflegekräfte aus Indien gezielt anzuwerben“, so Merda. Denn Deutschland orientiert sich am „Globalen Verhaltenskodex der WHO für die Internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften“, der besagt, dass Pflegende aus Staaten mit einem kritischen Mangel an Gesundheitsfachkräften nicht abgeworben werden dürfen. Da Indien unter einen bestimmten Schwellenwert im Verhältnis von Gesundheitsberufen zur Gesamtpopulation fällt, sind alle aktiven Abwerbungsversuche dort verboten.

„Wenn eine indische Arbeitskraft auf eigene Faust eine Stelle in Deutschland sucht, dann kann das gut gehen. Einem deutschen Träger wäre es aber untersagt, in Indien Pflegekräfte auszubilden und dann nach Deutschland zu bringen“, erklärt Merda. Deshalb konzentrieren sich auch staatlich unterstützte Organisationen beim Recruiting auf andere Staaten, etwa Vietnam und die Philippinen.

Dabei spräche aus ethischer Sicht eigentlich nichts dagegen, auch in Indien nach Pflegepersonal zu suchen, sagt Merda. In Indien mangele es nicht an Nachwuchs, sondern an guten Arbeitsplätzen, insbesondere und auch in der Pflege. Sobald die Nachfrage nach Pflegekräften in Indien oder aus dem Ausland steigen würde, würden auch mehr Inder den Pflegeberuf ergreifen. „Würde Deutschland deshalb 20 000 Pflegekräfte aus Indien anwerben, würde sich dort der Mangel an Pflegekräften nicht verschärfen“, so der Gesundheitswissenschaftler. Indien könne aus einem „quasi unerschöpflichen Reservoir schöpfen“ – anders als die klassischen Herkunftsländer ausländischer Pflegekräfte, etwa süd- oder osteuropäische Länder. Auch aus kultureller Sicht spreche nichts dagegen. Fast alle Ansprechpartner, mit denen er gesprochen habe, berichteten durchweg von positiven Erfahrungen. In Deutschland tätige indische Pflegekräfte haben eine hohe Akzeptanz bei Patienten und Pflegebedürftigen, sind engagiert und integrieren sich gut.

B. Braun-Stiftung unterstützt indische Pflegerinnen

 

Die Ausbildung von Frauen sollte nicht an finanziellen Grenzen scheitern; in vielen Teilen der Welt ist das jedoch viel zu oft der Fall. Deshalb finanziert die B. Braun-Stiftung seit einigen Jahren jungen Frauen in Indien eine vierjährige akademische Pflegeausbildung und übernimmt die Studiengebühren. Jedes Jahr starten zwei neue Studentinnen an der Frauenuniversität SNDT Women’s College of Nursing in Mumbai dieses Stipendienprogramm; jährlich können bis zu acht Frauen ihr Bachelor-Studium absolvieren. „Mein Traum ist, finanziell unabhängig zu sein und eine sinnvolle Aufgabe übernehmen zu können“, sagt Jyotilaxmi Jayvel, eine der ersten indischen Stipendiatinnen. „Das ist für die meisten jungen Mädchen in Indien nicht selbstverständlich, denn sie sind sehr benachteiligt, was die Ausbildung betrifft.“ Universitäten und Colleges seien in Indien kostenpflichtig, die meisten Familien könnten sich das nicht leisten. „Umso dankbarer bin ich, dass die Stiftung über die gesamte Studiendauer von vier Jahren die Gebühren, Bücher, Uniform und sonstigen Kosten übernimmt. Ich bin sehr stolz, dass ich studieren kann.“

   

Keine kurzfristigen Änderungen

Kurzfristige Lockerungen in der Handhabung des WHO-Kodex sind jedoch nicht zu erwarten, wie aus einer Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) auf Anfrage von f&w hervorgeht. So soll zwar eine im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) ins Leben gerufene Arbeitsgruppe „Pflegekräfte aus dem Ausland“ konkrete Vorschläge entwickeln, wie ergänzend Fachkräfte aus dem Ausland gewonnen werden könnten. „Zum Schutz der gesundheitlichen Versorgung in bestimmten Ländern sind dabei allerdings auch strenge Maßstäbe anzulegen“, teilt das BMG mit. Weiter heißt es: „Es ist richtig, dass angesichts erfreulicher Entwicklungen in manchen der Staaten, die auf der von der WHO veröffentlichten Liste stehen, aus denen kein Fachpersonal rekrutiert werden soll, Veränderungen in der Kooperation notwendig sind.“ Die WHO sei sich ihrer Verantwortung bewusst, auf diese Entwicklungen zu reagieren und auf das Bedürfnis von Staaten einzugehen, im Rahmen einer Fachkräftemigration Personal entsenden zu können. „Diese Handhabung des WHO-Verhaltensko­dex kann allerdings nicht innerhalb kürzester Fristen verändert werden. Umso wichtiger ist es, dass sich Staaten, die wie Indien auf der WHO-Liste stehen, an diesem Prozess aktiv beteiligen“, so das BMG weiter. „Auch Deutschland beteiligt sich aktiv an diesem Prozess. Wann dieser abgeschlossen sein wird, bleibt abzuwarten.“

Keinerlei Probleme mit dem Kodex hat unterdessen Benjamin M. Koch, Vorstand des Marienhospitals in Aachen. Er rekrutierte auch keine Pflegekräfte, sondern Ordensschwestern. In vielen katholischen Einrichtungen fehlt es an geistlichem Ordensnachwuchs, da sich nur noch wenige Frauen entscheiden, einem Orden beizutreten. „Uns war es wichtig, dass die Ordensschwestern trotzdem weiter präsent im Unternehmen und im Krankenhaus bleiben“, so Koch. Deshalb arbeitet er nun mit einem indischen Orden zusammen. In Indien, so Koch, entscheiden sich – anders als in Europa – noch deutlich mehr Frauen dafür, einem Orden beizutreten, zum Teil auch aus armutsbegründeten Intentionen. Inzwischen arbeiten fünf Nonnen im Marienhospital. Sie übernehmen dort vor allem seelsorgerische Aufgaben, begleiten Patienten im Krankenhausalltag oder sind für die Organisation der Messen zuständig. Obwohl es nicht das vordergründige Ziel war, sind inzwischen sogar drei in der Gesundheits- und Krankenpflege tätig. Auch Kochs Fazit fällt positiv aus: „Die Schwestern sind gut integriert, und wir sind sehr froh, dass sie hier sind.“

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