• 28.03.2019
  • Praxis
Expertenstandard Demenz

"Unser Ziel ist es, auch in der Kürze der Zeit eine Beziehung aufzubauen"

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 12/2018

Seite 34

Das Marienhospital Osnabrück der Niels-Stensen-Kliniken hatte sechs Monate Zeit, den neuen Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ zu testen. Verändert hat sich vor allem der Blick auf die Patienten, berichten Stefanie Lemme und Susanne Scholüke.

Frau Lemme, der neue Expertenstandard wurde seit der Veröffentlichung im Oktober vergangenen Jahres in 28 Einrichtungen der stationären Altenhilfe, der ambulanten Pflege und der Krankenhausversorgung modellhaft getestet. Warum haben Sie sich dazu entschlossen?

Lemme: Auch in unserem Krankenhaus gibt es immer mehr ältere Patienten, darunter viele mit einer demenziellen Erkrankung. Das ist eine große Herausforderung. Immer weniger Personal muss immer zeitaufwendigere Patienten versorgen. Dieses Thema haben die Stationen an unsere Stabsstelle Pflegewissenschaft herangetragen. Insofern bot es sich an, zu den ersten Häusern zu gehören, die den Expertenstandard einführen.

Wie sind Sie vorgegangen?

Lemme: Zunächst haben wir 2017 eine Umfrage unter Patienten und Mitarbeitern gemacht. Ein Ergebnis war, dass sich viele Beschäftigte belastet fühlen und – das hat mich erschreckt – Menschen mit Demenz eher mit negativen Begriffen beschreiben: Sie brauchen zu viel Zeit, es dauert zu lange, bis die Angehörigen kommen. Daraufhin haben wir beschlossen, uns für das gesamte Krankenhaus Ziele für dieses Thema zu setzen und dafür zu sensibilisieren.

Scholüke: Natürlich gab es schon Ideen auf den Stationen: Zum Beispiel eine große Zahl 7, die auf eine Tür geklebt war. Warum? Weil der Patient dachte, er liegt in Zimmer sieben und es so wiederfinden konnte. Das waren kleine Dinge, die eingeflossen sind, war aber eben noch nichts Einheitliches und Fundiertes. Hier kam der neue Expertenstandard, der im Oktober 2017 konsentiert wurde, ins Spiel: Aus diesem und aus unserer Befragung haben wir Ziele abgeleitet und auf der Modellstation M4 im Marienhospital im Februar 2018 ein entsprechendes Projekt gestartet.

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Scholüke: Sehr positive! Vor allem haben wir ein Bewusstsein für das Thema geschaffen. Wir haben mit Fallbesprechungen begonnen und überlegt, welche Methoden uns in der täglichen Arbeit mit dieser Patientengruppe weiterhelfen können. Das beginnt schon bei der Einrichtung der Zimmer: Wir haben dort Uhren aufgehängt, um die zeitliche Orientierung zu verbessern. In den Bädern wurden Dinge beschriftet: die Toilette, das Waschbecken, die Dusche. Zudem haben wir die Türen mit Piktogrammen versehen. Bei der Aufnahme wird gemeinsam mit den Angehörigen ein Aufnahmebogen ausgefüllt. Hier leisten wir Biografiearbeit: Welche Gewohnheiten hat der Patient? Was tut er gerne, was mag er nicht? Was war prägend in seinem Leben? Das hat unseren Beschäftigten zu einem sichereren Umgang mit den Patienten verholfen.

Kostet das mehr Zeit?

Scholüke: Nein, das kann man so nicht sagen. Wir gehen aber anders an den Patienten heran. Man hat ein anderes Verständnis und Gefühl entwickelt.

Der Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ zielt auf alle Menschen mit einer diagnostizierten Demenzerkrankung sowie Menschen, bei denen sich mit Beginn des pflegerischen Auftrages bzw. im Verlauf der Pflege Anzeichen von Demenz zeigen, ohne dass jedoch eine Demenzdiagnose vorliegt. Ziel ist eine personenzentrierte Pflege von Menschen mit Demenz. „Diese ist mit einer Haltung verbunden, die die Person in den Mittelpunkt stellt und dabei die Demenz nicht als medizinisches Problem wahrnimmt, sondern den Menschen mit Demenz als einzigartiges Subjekt mit individuellen Unterstützungs- und Beziehungsbedarfen sieht“, heißt es in dem 2017 konsentierten Standard. 28 Einrichtungen der stationären Altenhilfe, der ambulanten Pflege und der Krankenhausversorgung haben diesen von Januar bis Juni 2018 modellhaft implementiert, um Erkenntnisse über Praxistauglichkeit und Akzeptanz des Expertenstandards zu erhalten. Diese Ergebnisse werden derzeit ausgewertet und im Rahmen des 21. Netzwerk-Workshops am 22. März 2019 in Osnabrück vorgestellt. Weitere Informationen zum Implementierungskonzept stellt das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) auf seiner Website zur Verfügung.

Der Expertenstandard fokussiert auf die Beziehungsgestaltung. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Lemme: Zentral ist es, den Patienten zu verstehen, sich in ihn hineinzuversetzen, seine Biografie zu kennen und nachvollziehen zu können, warum er in einer Situation entsprechend reagiert. Wir hatten zum Bespiel eine Frau auf der Station, die weibliche Pflegekräfte regelrecht herumkommandiert hat, bei männlichen Pflegekräften hingegen sehr entgegenkommend und wohlwollend aufgetreten ist. Wir haben herausgefunden, dass die Frau Chefin der Cafeteria in einer Kaserne war. Frauen waren da üblicherweise nur Angestellte, Männer hingegen waren die Kunden, die höflich behandelt wurden. Das ließ sich dank der Biografiearbeit erklären, und wir konnten damit ganz anders umgehen. Unsere weiblichen Pflegekräfte haben sie dann so behandelt, als ob sie unsere Chefin wäre – natürlich ohne unsere Ziele und Aufgaben zu vernachlässigen. Aber dieser andere Umgang hat vieles leichter gemacht.

Scholüke: Ein anderes Beispiel war eine Frau, die früher im Chor war und gerne gesungen hat. Wir haben Lieder ausgedruckt und bei der Körperpflege am Morgen mit ihr gesungen – das hat es uns leichter gemacht, und sie ist ganz beschwingt in den Morgen gegangen. Das sind Kleinigkeiten, die einem vorher nicht aufgefallen sind. Und es sind positive Erlebnisse, die man auch selber braucht!

Wie wichtig sind die Angehörigen?

Scholüke: Die müssen natürlich mit dabei sein und sich einbringen. Ohne sie ist es schwierig, die Biografiearbeit zu leisten. Sie haben auch die Möglichkeit, die Patienten beispielsweise bei einer Untersuchung zu begleiten. Das gab es auch schon vorher, ist für uns nun aber wieder präsenter und wird häufiger angeboten.

Wie stellen Sie sicher, dass die Aufmerksamkeit für das Thema hoch bleibt?

Lemme: Auf dieser Station haben wir eine Mitarbeiterin, die sowohl im Projekt als auch auf Station tätig ist. Sie moderiert die Fallbesprechungen und kann gut rückkoppeln, was auf Station passiert. Sie wird das Projekt auch weiter begleiten, wenn wir es auf anderen Stationen ausrollen. Wir haben das Ziel, dass am Ende jede Station ein bis zwei Leute hat, die speziell und tiefgehend zum Thema Demenz weitergebildet sind und sich zuständig fühlen für „ihr“ Thema und es am Laufen halten. Wir wollen zudem zwei Demenz-Coaches im Krankenhaus ausbilden. Wir haben auch Plakate aufgehängt, damit auch Angehörige sehen, dass das Thema präsent ist und wissen, dass sie uns ansprechen können.

Eine echte Beziehungsgestaltung ist angesichts der kurzen Verweildauern im Krankenhaus schwierig zu realisieren. Lässt sich der Expertenstandard ohne weiteres auf ein Krankenhaus übertragen?

Lemme: Natürlich muss jeder Expertenstandard an die Verhältnisse in einem Krankenhaus angepasst werden. Zum Beispiel steht in dem Standard sinngemäß drin, dass es für jeden Menschen mit Demenz eine Fallbesprechung geben soll und eine entsprechende Verstehenshypothese, um sich in diesen Patienten hineinzu­versetzen. Das passt in einem Pfle­geheim, wo Menschen monate- und jahrelang leben, ist aber in einem Krankenhaus, wo viele Patienten nur wenige Tage bleiben, nicht machbar. Wir machen unsere regelmäßigen Fallbesprechungen bedarfsabhängig. So haben wir das auch an das DQNP zurückgemeldet.

Scholüke: Unser Ziel ist es durchaus, auch in der Kürze der Zeit eine Beziehung aufzubauen. Wir versuchen zum Beispiel, wenn möglich immer dasselbe Personal zu einem Patienten zu schicken.

Lässt sich der Erfolg dieses Projekts messen?

Lemme: Das ist schwierig, weil sehr viel Zwischenmenschliches im Raum steht. Wir sehen natürlich, ob Fallbesprechungen gemacht wurden, ob Piktogramme an den Türen hängen und machen die Audits. Zudem können wir nachvollziehen, was und wie dokumentiert wird. Also nicht nur: Hat der Mensch gegessen, getrunken, sich bewegt? Sondern auch: Wie geht es ihm? Beim Controlling abzufragen, wie demenzfreundlich wir sind, geht aber nicht.

Die Testphase ist nun beendet. Wie geht es weiter?

Lemme: Mit den Audits im Juni ist das Hochschulprojekt offiziell abgeschlossen. Für uns war es aber eher eine Zwischenbilanz, um festzustellen, wo wir stehen und was wir geschafft haben. Sechs Monate sind viel zu kurz, um alles umzusetzen, was man vorhat. In eigenen Mitarbeiteraudits erfassen wir, wie weit die Mitarbeiter inzwischen sind und wie sicher sie sich mit diesem Thema fühlen. Ein Ergebnis ist eine zweite Fortbildungsrunde im September, um gezielt Themen zu vertiefen.

Abschließende Frage: Würden Sie einen Expertenstandard noch einmal testen?

Lemme: Auf jeden Fall! Der Austausch mit anderen Einrichtungen und Experten ist sehr hilfreich und hat uns geholfen, ein Netzwerk aufzubauen. Falsch wäre es, sich jetzt zurückzulehnen. Im Gegenteil: Jetzt geht‘s erst richtig los!

Frau Lemme, Frau Scholüke, vielen Dank für das Gespräch.

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