• 06.03.2019
  • Management
Projekt "360° Pflege – Qualifikationsmix für den Patienten"

Qualifikationsmix für eine zukunftsfähige Pflege

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 11/2018

Seite 70

Teams, die sich aus Pflegenden mit unterschiedlichen Ausbildungsabschlüssen systematisch zusammensetzen, werden künftig eine wichtige Rolle in der Gesundheitsversorgung spielen. Im Projekt „360° Pflege – Qualifikationsmix für den Patienten“ der Robert Bosch Stiftung haben sich rund 40 Experten Gedanken dazu gemacht, wie dies konkret aussehen kann.

Die professionelle Pflege ist die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen; man geht von rund 1,6 Millionen Beschäftigten aus. Umfang und Vielfalt der Aufgaben in der professionellen Pflege sind groß und erfordern unterschiedlichste Kompetenzen. Gleichzeitig steht die Branche enorm unter Druck, der weiter zunehmen wird, spätestens wenn die Generation der „Baby Boomer“ Pflegeleistungen braucht. Welche Lösungsansätze gibt es, um dem auch demografisch geprägten Fachkräftemangel in der direkten Versorgung zu begegnen und gleichzeitig die professionelle Pflege fit zu machen für die weiteren Herausforderungen? Zu nennen sind beispielsweise die fortschreitende Digitalisierung, die Ausdünnung ländlicher Räume sowie die Versorgung einer zunehmend vielfältigen Bevölkerung mit ausgeprägt individuellen Bedürfnissen.

Unter dem Titel „360° Pflege – Qualifikationsmix für den Patienten“ nahmen auf Einladung der Robert Bosch Stiftung rund 40 Experten mit Praxiserfahrung die professionelle Pflege in Deutschland und damit den Alltag mehrerer Millionen Beschäftigter und Betroffener unter die Lupe. Sie untersuchten verschiedene Pflegebereiche und blickten auf das Gesamtsystem. Alle Projektergebnisse mit zahlreichen Downloads und Materialien sind auf der Webseite www.qualifikationsmix-pflege.de abrufbar. Entscheider und Verantwortliche haben somit praktische Unterstützung und konkrete Erfahrungsberichte an der Hand, um den Qualifikationsmix im eigenen Haus in Angriff zu nehmen.

Qualifikationsmix bedeutet, dass in einem Pflegeteam systematisch Pflegefachpersonen mit verschiedenen qualifizierenden Abschlüssen, die zum Pflegeberuf befähigen, zusammengestellt und dann bedarfsgerecht und effizient in der Versorgung eingesetzt werden. Die Experten beleuchteten und erarbeiteten, wie verschiedene Qualifikationen im Pflegeteam bestmöglich für den Patienten und seine bedarfsgerechte Versorgung zusammenwirken, wie die interprofessionelle Kooperation mit den weiteren Gesundheitsberufen gelingen kann und wie attraktive Berufs- und Karriereverläufe aussehen; in den Teams und Pflegebereichen sowie über Sektorengrenzen hinweg.

Der erfolgreiche Qualifikationsmix stellt immer den Menschen mit Pflegebedarf als Kern des Versorgungsprozesses ins Zentrum. Dies gilt unabhängig vom Bereich, also gleichermaßen für die akutstationäre, die ambulante, die Reha- und die stationäre Langzeitpflege. Denn überall ist es Aufgabe der professionellen Pflege, das individuell bedarfsgerechte Pflegearrangement zusammenzustellen und umzusetzen, eine zeitliche und inhaltliche Kontinuität für die gepflegte Person herzustellen und die Dynamik des jeweiligen Krankheitsverlaufs zu berücksichtigen. Ausgangspunkte sind die direkte, pflegerische Betreuung und die Leistungen, die beim Menschen mit Pflegebedarf unmittelbar ankommen.

"Nur qualifikationsgemixte Teams werden erfolgreich sein"

Dr. Bernadette Klapper, Leiterin des Themenbereichs Gesundheit der Robert Bosch Stiftung, erläutert die Intention des Projekts „360° Pflege“

Warum hat die Robert Bosch Stiftung das Thema „Qualifikationsmix“ aufgegriffen?

Wir sind überzeugt davon, dass nur das qualifikationsgemixte Team, das gut über Professions- und Versorgungsgrenzen hinweg zu arbeiten versteht, erfolgreich sein wird. Wir sehen im Qualifikationsmix daher einen wichtigen Beitrag, um Leistungen auf einem weiterhin hohen Versorgungsniveau für jeden Menschen mit Pflegebedarf zu sichern und die Pflegeberufe zukunftsfähig zu machen.

Was wollen Sie mit dem Manifest „Mit Eliten pflegen“ erreichen?

Es ist an der Zeit, dass Deutschland auch in der Pflege zu internationalen Standards aufschließt; da haben wir noch einiges zu tun. Wir hoffen, dass die Botschaft von allen gehört wird und die entscheidenden Personen zum Umdenken und vor allem Handeln anregt. Mit „Pflege braucht Eliten“ haben wir bereits vor über 25 Jahren einen wichtigen Baustein für die Akademisierung der Pflege geliefert. Nun müssen weitere Schritte folgen, um das Potenzial der akademischen Kompetenzen in der direkten Pflege zu entfalten.

Was treibt die Stiftung in Ihrem langjährigen Engagement für die Pflege an?

Wir agieren auf der Grundlage unseres Stiftungszwecks Gesundheitspflege. Wir verstehen uns als Ideengeber für eine zeitgemäße Gesundheitsversorgung, die den Menschen und seine Pflegebedarfe in den Mittelpunkt stellt. Die aber gleichzeitig auch alle im System Tätigen befähigt, motiviert und innovativ zu arbeiten. Unsere Förderung zeigt auf, was dringend notwendig und was alles möglich ist, wenn man sich mit Interesse und Umsetzungskraft auf den Weg mac

 

Alle Ausbildungsabschlüsse werden gebraucht

Um den zunehmend komplexen Aufgabenstellungen gerecht zu werden und auch zukünftig qualitativ hochwertige Pflege zu ermöglichen, setzt der Qualifikationsmix, so das Ergebnis, ausdrücklich auf einen deutlich höheren Anteil akademisch ausgebildeter Pflegefachpersonen in der direkten Versorgung. Sie kommen dort bisher viel zu wenig zum Einsatz, leisten aber einen unverzichtbaren Beitrag, wie Dr. Johanna Feuchtinger vom Universitätsklinikum Freiburg, Mitglied der Kerngruppe aus dem Projekt, erläutert: „Akademisch qualifizierte Pflegende bringen neue Angebote, die es in der Form bisher nicht gegeben hat. Dies kann die Begleitung von chronisch kranken Menschen in deren Symptommanagement sein, die Begleitung der Eltern von Frühgeborenen bei der Entlassung des Kindes in den häuslichen Bereich oder die Betreuung von Heimbewohnern bei gesundheitlichen Problemen in der Entscheidung, ob ein Arzt zugezogen werden soll.“

Sebastian Dorgerloh, Pflegedirektor am Florence-Nightingale-Krankenhaus Düsseldorf und ebenfalls Mitglied der Kerngruppe, ergänzt: „Mortalität und Morbidität sinken, die Qualität der Beratung steigt und die Reflexionsfähigkeit im Team verbessert sich, wenn akademisch ausgebildete Mitarbeiter in ausreichender Anzahl dazugehören. Qualifikationsmix bedeutet eine Erweiterung der verfügbaren Kompetenzen im Team zum Wohl der Menschen mit Pflegebedarf.“

Was ist zu beachten, wenn „qualifikationsgemixte“ Teams aufgebaut werden? Wie sollen Kliniken, Einrichtungen und Dienste vorgehen? Grundsätzlich gilt: In einem qualifikationsgemixten Pflegeteam finden Pflegehelfer genauso ihren Platz wie dreijährig examinierte Pflegefachpersonen oder Bachelor- und Masterabsolventen. Alle (Ausbildungs-)Abschlüsse, die zum Pflegeberuf befähigen, werden gebraucht. Keine ausgebildete Pflegefachperson darf verloren gehen, was Leitungen angesichts der vielerorts unbefriedigenden Personalsituation besonders im Blick haben sollten. Der Qualifikationsmix kann entscheidend dabei helfen, Personal zu binden und zu gewinnen. Denn er hat das Potenzial, das Berufsfeld insgesamt attraktiver zu machen und ermöglicht es, individuelle berufliche Perspektiven für die unterschiedlichsten Kompetenzen anzubieten.

Qualifikationsmix in der Praxis: Neue Ausschreibung

Die Robert Bosch Stiftung sucht pro Versorgungsbereich – ambulante Pflege, akutstationäre Pflege, stationäre Lang- zeitpflege, Rehabilitationspflege – mindestens einen ambitionierten Partner, den sie in der Umsetzung des Qualifikationsmix fördert und begleitet. Die Ausschreibung richtet sich an Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, zum Beispiel an ambulante Pflegedienste, Krankenhäuser, Rehakliniken und Einrichtungen der stationären Langzeit- pflege. Sie können sich einzeln oder im Verbund einer größeren Trägerschaft bewerben. Erforderlich ist ein Konzept, das die Umsetzung der Modelle von „360° Pflege – Qualifikationsmix für den Patienten“ umfänglich vorsieht. Nach der Aufbauphase sollte das Projekt eine substanzielle Phase der Praxiserprobung vorsehen. Weitere Informationen unter www.qualifikationsmix-pflege.de

 

Qualifikationsmix transparent machen

Damit kommen Personalverantwortliche ins Spiel. Sie haben es in der Hand, den Qualifikationsmix zu befördern und nachhaltig zu etablieren. Sie sollten Mitarbeiter mit dem Ziel begleiten, individuelle Karriereverläufe und eine berufliche Weiterentwicklung von jedem Qualifikationsniveau aus zu ermöglichen. Dies geschieht immer auf der Basis eines verbindlichen und transparenten Personal- und Organisationsentwicklungskonzepts. Das Verständnis von Karriere kann sich bei den Mitarbeitern stark unterscheiden, denn es ist von ihren individuellen Prioritäten abhängig.

Daher sollten sowohl vertikale als auch horizontale Karrieren bedacht werden. Außerdem muss Laufbahngestaltung nicht immer ein „Mehr“, etwa an Verantwortung und Geld, bedeuten, sondern kann auch durch ein „Weniger“, etwa im Sinne von zeitweiliger Entlastung von Aufgaben und Jobsharing, zum Ausdruck kommen, um beispielsweise Zeit für eigene Projekte und Weiterentwicklung zu gewinnen. Es braucht also Karrierekonzepte, die eine längere Erwerbstätigkeit, den demografischen Wandel sowie die psychischen und physischen Anforderungen wie Arbeitszeitverdichtung und körperlich fordernde Arbeiten berücksichtigen. Von der Organisation verlangt dies Flexibilität, denn es bedeutet, konsequent auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter einzugehen und ihnen somit eine hohe Wertschätzung entgegenzubringen.

All dies gelingt nur, wenn Leitung und Führungskräfte den Qualifikationsmix zu ihrer Sache machen, transparent kommunizieren und ihn ohne Angstszenario, dafür mit Wertschätzung und Vertrauen den Mitarbeitern gegenüber in die Organisation tragen. Der gesamte Prozess ist Teil der Organisationsentwicklung in einer Einrichtung und wird Veränderungen für alle mit sich bringen, bis hin zur Leitungsebene. Noch einmal Sebastian Dorgerloh mit seinen Erfahrungen aus dem akutstationären Sektor: „Der Qualifikationsmix betrifft nicht nur die Berufsgruppe selbst, sondern bedeutet eine tiefgreifende Organisationsentwicklung. Sie gelingt, wenn das Management mit offener Haltung sowie klaren Konzepten und Zielen zu Werke geht. Personalentwicklung für das gesamte Team und die jeweiligen beruflichen Rollen sind ein Muss.“ Um den Qualifikationsmix beispielhaft in die Praxis zu bringen, schreibt die Robert Bosch Stiftung aktuell ein neues Programm aus (siehe Kasten auf Seite 74).

Chance für die Altenpflege

Die Bedingungen in den einzelnen Pflegebereichen sind durchaus unterschiedlich. Das zeigte sich in den intensiven Diskussionen der verschiedenen Arbeitsgruppen immer wieder. „Wir kennen die Kompetenzen aller Mitarbeiter und bilden sie gezielt weiter. Außerdem haben wir viele Fachexperten“, berichtet Thomas Graßhoff, Pflegedienstleiter der Marcus Klinik in Bad Driburg, einer Rehabilitations-Fachklinik für Neurologie und Orthopädie und Traumatologie. „Wir trauen den Mitarbeitern etwas zu und erwarten selbstständiges Denken und Arbeiten.“

In der stationären Langzeitpflege besteht dagegen bei Kennern die Befürchtung, dass pflegerische Aufgaben immer mehr durch Pflegehelfer übernommen werden. Zudem gibt es hier mehr un- und angelernte Kräfte als in den anderen Sektoren. Umso wichtiger, so Projektmitglied Professor Hermann Brandenburg, sei der richtig verstandene Mix: „Der Erfolg ist sowohl bei den Bewohnern – für sie erhöhen sich Pflege- und Lebensqualität – wie auch beim Personal in Form einer höheren Arbeitszufriedenheit erkennbar. So kann der Turn-over zwischen den Heimen weitgehend vermieden werden.“

Auch in der ambulanten Pflege steckt viel Potenzial, erklärt Maria Hanisch, Leiterin Geschäftsfeld Ambulante Dienste bei der Caritas in Köln und ebenfalls im Projekt aktiv: „Unsere Strukturen müssen sich weiterentwickeln, um den Qualifikationsmix nachhaltig umzusetzen. Wir brauchen Veränderungen, die dazu führen, dass Studienabsolventen mit ihren Fähigkeiten, aber auch mit ihren Erwartungen einen geeigneten Platz in den Teams finden und somit die Versorgungsqualität insgesamt steigern können.“

Eine zentrale Forderung der Experten aus dem Projekt „360° Pflege“ lautet: Pflegefachpersonen soll die Verantwortung übertragen werden, die ihrer Qualifikation als Fachpersonal entspricht. Vor allem die professionelle Pflege könne einschätzen, was pflegebedürftige Menschen zur Bewältigung ihrer Situation benötigen. Sie müsse daher auch befugt sein, Versorgungsbedarf festzusetzen und Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege festzulegen. Darüber hinaus empfehlen die Experten, Beratungsleistungen im allgemeinen Leistungskatalog der Pflege zu ergänzen. Das helfe vor allem älteren Menschen und chronisch Kranken, die häufig überfordert seien, wenn es beispielsweise darum gehe, die vorhandenen Leistungsangebote zu überblicken, mit den Anforderungen der Therapie zurechtzukommen oder an die nächste Grippeimpfung zu denken. Ein weiterer Vorschlag betrifft die Sicherung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Dort könne eine Pflegefachperson hausärztliche Routineaufgaben übernehmen, wie die Versorgung von Bagatellerkrankungen und die medizinische Basisversorgung bei Menschen mit chronischen Erkrankungen. Dies sei in vielen Ländern längst üblich.

Akademisch Ausgebildete spielen zentrale Rolle

Die zentrale Rolle akademisch ausgebildeter Personen im erfolgreichen Qualifikationsmix kommt immer wieder zur Sprache; sie ist ein Schlüssel zum Erfolg. Dazu Franz Wagner, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK): „Deutschland benötigt nicht nur mehr Fachpersonal in der professionellen Pflege, sondern auch deutlich mehr akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen in der direkten Versorgung.“ Bereits 2012 habe der Wissenschaftsrat deshalb eine Akademisierungsquote für die Pflege von zehn bis 20 Prozent empfohlen. Davon sei Deutschland aktuell noch weit entfernt. „Wir brauchen dringend attraktivere Karrierewege in der Pflege.“ In den vergangenen Jahrzehnten sei das Umfeld von medizinischer Behandlung und Versorgung bei Pflegebedürftigkeit erheblich komplexer geworden. Angesichts dieser zunehmend komplexen Versorgungsbedarfe kann und muss die akademisch fundierte Pflege ihren spezifischen Beitrag leisten.

Die Mitglieder der Expertengruppe legten daher als Weiterführung der Projektarbeit das Manifest „Mit Eliten pflegen. Für eine exzellente, zukunftsfähige Gesundheitsversorgung in Deutschland“ vor. Es begründet, warum Spitzenpflege benötigt wird und welche Rahmenbedingungen dafür gesetzt werden müssen. Jetzt kommt es darauf an, dass alle – politische Entscheider, professionell Pflegende und Vertreter der Pflegeberufe, Arbeitgeber und Träger, Kommunen, Kostenträger, Pflegewissenschaft – ihrer Verantwortung gerecht werden. Es ist höchste Zeit.

Timeline: Von „Pflege braucht Eliten“ zu „Mit Eliten pflegen“

  • 1992 veröffentlicht die Robert Bosch Stiftung die Denkschrift „Pflege braucht Eliten“. Der Pflegeberuf sollte durch Akademisierung wettbewerbsfähig, im internationalen Vergleich anschlussfähig und auf die Herausforderungen des demografischen Wandels vorbereitet werden. „Pflege braucht Eliten“ gab den Anstoß für die Einrichtung einer Vielzahl von Pflegestudiengängen.
  • 2000 folgt „Pflege neu denken“. Der Bericht der „Zukunftswerkstatt Pflegeausbildung“ empfiehlt eine umfassende Reform der Pflegeberufe und erläutert Rahmen und Prinzipien gestufter Pflegeausbildungen von der grundständigen Pflegeausbildung bis zur Promotion.
  • 2018 erscheint als Ergänzung des Projekts „360° Pflege“ das Manifest „Mit Eliten pflegen. Für eine exzellente, zukunftsfähige Gesundheitsversorgung in Deutschland“. Die Webseite www.qualifikationsmix-pflege.de ist online.

Die Robert Bosch Stiftung hat diese Meilensteine durch Best-Practice-Förderung, Wettbewerbe, Preise, Stipen- dienprogramme oder Graduiertenkollegs begleitet, vertieft und in die Breite getrag

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