Was Schwester Liliane Juchli geleistet hat, ist weit mehr, als ein Fachbuch zu schreiben. Sie hat mit diesem Werk die berufliche Pflege emanzipiert und zu einer Profession gemacht. Ihr zentrales Anliegen – die Würde des Menschen – hat sie dabei nie aus dem Blick verloren.
Es war 1991 auf dem 1. Europäischen Altenpflegekongress in Essen. Die Festrede sollte Schwester Liliane Juchli halten. Die Frau, mit deren Lehrbuch meine Kollegen und ich ausgebildet worden waren. Die Respektperson, vor der wir uns alle ganz klein gefühlt haben. Und dann kam sie, und war ganz anders, als wir gedacht hatten. Sie war witzig und spritzig, sie war freundlich mit jedem Wort, nicht dogmatisch und auch nicht streng. Sie hatte etwas zu sagen und sie war präsent, ohne andere zu erdrücken. Ich kam mir gar nicht klein vor in ihrer Nähe.
Schwester Liliane Juchli wurde 1933 in der Schweiz geboren. Als aufgewecktes Mädchen hat sie früh gespürt, dass es viel zu tun gibt in dieser Welt. Schon früh festigte sich in ihr der Gedanke, Menschen unterstützen zu wollen. Für ihre Ideen wurde ihr später der Weg in die Mission empfohlen, was dann zur Berufsentscheidung für die Krankenpflege geführt hat. 1956 ist sie zudem in den Orden der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz eingetreten. Beruflich hat sich dann für sie über den Dienst in verschiedenen Krankenhäuser der Weg in die Lehre ergeben. Nach Stationen in verschiedenen Schulen und Ausbildungsbereichen wurde sie zur Botschafterin der Pflege mit internationaler Dozententätigkeit.
Besondere Aufmerksamkeit hat das Lehrbuch für Krankenpflege erzeugt, nach dem zahlreiche Pflegepersonen ausgebildet worden sind. Noch heute bekommen die meisten Pflegenden beim Namen Juchli leuchtende Augen und denken gleich an ihre Ausbildungszeit und dieses dicke Buch.
Das Buch hat jedoch eine Geschichte, die selten erzählt wird: Es hat eine ganze Weile gedauert, bis sich ein Verlag gefunden hatte. Bis dahin wurde das Buch als kopierte Blätter in einer Kladde und auf Zuruf abgegeben. Bücher, die sich mit Pflegethemen beschäftigt haben, wurden bis dahin stets von Ärzten geschrieben. Die Arbeit von Pflegepersonen wurde entsprechend als Arztassistenz dargestellt.
Und plötzlich kommt eine Krankenschwester und schreibt ein Lehrbuch für Pflege. Was Schwester Liliane Juchli geleistet hat, ist weit mehr, als ein Fachbuch zu schreiben. Sie hat mit diesem Werk die berufliche Pflege emanzipiert und zu einer Profession unter anderen Professionen in der Kranken- und Gesundheitsversorgung gemacht. Berufliches Handeln wurde losgelöst von einfacher Tätigkeit auf Anordnung. Schwester Liliane Juchli hat den Grundstein für theoriegeleitetes Pflegehandeln gelegt. Pflegehandeln wurde von nun an in konzeptionelles Denken überführt, der Mensch in seiner Gesamtheit mit persönlichen Bedarfen und Bedürfnissen und seiner Umwelt gesehen. Mit diesem Buch wurde die Kompetenzdiskussion der beruflichen Pflege eröffnet. Es wurde der Weg bereitet für eine moderne, werteorientierte Pflege, die sich heute in Begriffen wie Pflegekonzepte, Modelle, Ganzheitlichkeit und Pflegequalität wiederfindet und die letzten Endes in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung von Pflegehandeln mündet.
Doch nicht nur dafür sollten Pflegepersonen Schwester Liliane Juchli dankbar sein. Denn sie hat viele weitere kleine Bände verfasst, die etwas bescheidener, fast schon unauffällig daherkommen. Werke, die sich mit Pflegeethik, Sinnfindung, Fragen um das Alter und mit Schmerz und Depression befassen. In diesen Büchern lernen wir Schwester Liliane Juchli einmal mehr als Pflegephilosophin und große Humanistin kennen. In ihrem Leben und ihrem Werk hat immer die Verantwortung für die Aufgabe und die anvertrauten Menschen gestanden. Dabei hat sie, die katholische Ordensfrau, christliche Werte vertreten, ohne die Menschen nach ihrer Religion oder Weltanschauung zu kategorisieren.
Schwester Liliane Juchli ist eine Ingenbohler Ordensfrau, die stets ihrer Gemeinschaft verpflichtet war und immer noch ist. Deshalb ist ihren Mitschwestern dafür zu danken, dass sie ihr die berufliche Möglichkeit gelassen haben, sich für die Entwicklung der Pflege einzusetzen. Die Ingenbohler Schwestern haben uns Pflegepersonen damit ein großes Geschenk gemacht.
Mit Neugier und Leidenschaft, mit dem Glauben an Gerechtigkeit und dem Willen, etwas dazu beizutragen, hat Schwester Liliane Juchli der Welt viel gegeben. Die meisten ihrer 85 Jahre hat sie Hoffnung in die Welt getragen. Schön, dass es sie gibt.
Siegfried Huhn ist freiberuflicher Krankenpfleger, Gesundheitswissenschaftler und Dozent. Zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes hielt er die Laudatio auf Schwester Liliane Juchli.
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