Die Debatte um die Ausgestaltung der Personaluntergrenzen in der Pflege reißt nicht ab. Pflegeressorts, Länder und Verbände konnten Mitte September Stellung zu dem von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorgelegten Entwurf beziehen. Der Deutsche Pflegerat (DPR) findet deutliche Worte. Wir sprachen mit Andrea Lemke, DPR-Präsidiumsmitglied, über die Kritikpunkte und was geändert werden muss.
Frau Lemke, obwohl Personaluntergrenzen in der Pflege von Branchenexperten dringend gefordert werden, hagelt es heftige Kritik an dem jetzt bekanntgewordenen Vorhaben des Bundesgesundheitsministers. Was kritisieren Sie konkret?
Die Quoten sind völlig unzureichend. Im Widerspruch zum Koalitionsvertrag sollen personelle Untergrenzen beim Pflegepersonal nur in einigen Klinikbereichen festgelegt werden. So verordnete Untergrenzen sorgen nicht für eine gute Patientenversorgung und entlasten auch nicht die stark beanspruchten Pflegenden, ganz im Gegenteil: Sie könnten die Patientensicherheit gefährden. Ohne ein Personalbemessungsinstrument, das die für eine ausreichende Versorgung erforderliche Personalausstattung ermittelt, sind Personaluntergrenzen gefährlich, da sie zum Orientierungsrahmen werden könnten. Es hat den Anschein, als ob Schnelligkeit Vorrang hat vor einer guten Recherche und einer validen Datengrundlage. Diese ist mit Werten aus rund 130 Kliniken nicht ausreichend. Die so gewählten Pflegeschlüssel sind unzureichend. Sie könnten die zu Versorgenden und die Pflegenden zu Nomaden machen.
Wie meinen Sie das?
Da die vorgelegten Personalschlüssel nur einzelne Abteilungen betreffen, könnten Pflegende aus den nicht geregelten Bereichen abgezogen und Patienten in nicht geregelte Bereiche verlegt werden. Es ist zu befürchten, dass Patienten zu früh von Intensivstationen auf Allgemeinstationen verlegt werden. Außerdem ist das ganze Prozedere noch nicht praktikabel. Die Regelung verlangt einen schichtbezogenen Nachweis mit enormen bürokratischem Aufwand. Die vorgeschriebene Belegung und die tatsächliche Besetzung auf den einzelnen Stationen müsste ständig miteinander abgeglichen werden. Stationen haben ein sehr dynamisches Geschehen. Um 8 Uhr können dort 25 Patienten liegen, zwei Stunden später 30 und wieder zwei Stunden später 32. Wie sollen wir das abbilden? Sind wir dann doch wieder beim Durchschnitt? Noch stellen sich für den praktischen Alltag viele Fragen. Ohne Personalbemessung könnten Untergrenzen allerdings zur einzigen Orientierung werden anstatt zur extremen Ausnahme. Damit würden sie dann das Ziel komplett verfehlen.
Welche Datengrundlage liegt den Quoten aus dem Referentenentwurf zugrunde?
Genau das ist eines der Hauptprobleme. Die Pflegepersonaluntergrenzen beruhen weder auf pflegewissenschaftlichen noch pflegefachlichen Erkenntnissen. Es ist nicht nachvollziehbar, auf welcher Grundlage die Verhältniszahlen der Pflegefachpersonen erarbeitet wurden. Die Verhältniszahlen sind in jedem Fall problematisch. So ist zum Beispiel eine Besetzung im Nachtdienst im Intensivbereich von 3:1 in Beziehung zum Tagesdienst von 2:1 nicht nachzuvollziehen. Akute Krisen, gerade bei Intensivpatienten, orientieren sich nicht an Tageszeiten. Die im Entwurf genannten Personalschlüssel sind nach dem Quartilsansatz gewählt. Damit wird eine „Rote Linie“ zur gefährdenden Pflege gezogen auf dem Niveau jener 25 Prozent der Krankenhäuser mit der schlechtesten Pflegepersonalausstattung. Das ist weit entfernt von einem zukunftsweisenden Weg.
Die Quoten für die Geriatrie liegen unterhalb der Vorgaben der jahresdurchschnittlich belegten Betten geriatrischer Abteilungen. Diese liegen bei 1:6 bis 1:8. Im Entwurf ist von 1:10 bis 1:24 die Rede.
Das stimmt. Damit ist die Betreuung von geriatrischen Patienten nach abgestimmten interprofessionellen Pflegekonzepten, wie sie in den Geriatriekomplexpauschalen gefordert sind, mit diesen Personalvorgaben nicht realisierbar. Die Anwendung der Mindestpersonalregelung könnte hier somit zu einer Unterfinanzierung in der Geriatrie führen, weil die Komplexpauschalen nicht in Anrechnung gebracht werden können. Hochvulnerable Patientengruppen könnten als Konsequenz nicht angemessen versorgt werden. Zudem wären weitere Parameter nötig, um die Versorgungssituation differenzierter abzubilden. Denn der Pflegeaufwand für Patienten in der gleichen Fachrichtung oder auf Intensivstationen kann sich durchaus sehr unterschiedlich gestalten. Beispielsweise gibt es in den Intensivbereichen hohe Schwankungen der Beatmungsfälle. Diese können sich durchschnittlich vom niedrigen einstelligen Bereich bis hin zu 75 Prozent bis 90 Prozent bewegen. Selbst die Zahl der Beatmungsfälle ist kein zuverlässiger Indikator. Häufig sind nicht beatmete Patienten sogar aufwändiger in der pflegerischen Versorgung als beatmete Patienten. Diese Differenzierungen und Spezifizierungen ergeben sich bereits aus der Versorgungsstufe der Krankenhäuser. Hier brauchen wir also eine Risikoadjustierung, die zwischen leichten, mittleren und schweren Patientenfällen unterscheidet.
Die Personalschlüssel sehen neben einer Fachkraftquote auch die Berücksichtigung eines Anteils von Hilfskräften oder Pflegeassistenzen vor. Was halten Sie davon?
Der DPR lehnt eine solche Berücksichtigung in den Personaluntergrenzen grundsätzlich ab. Der Einsatz von Pflegeassistenten ist oft sinnvoll und nötig, aber nicht als Bestandteil einer Personaluntergrenze. Zudem besteht die Gefahr, dass in den Krankenhäusern, die heute eine bessere Personalausstattung haben als die im Entwurf geregelten Vorgaben, aufgrund des Pflegepersonalmangels und des ökonomischen Drucks Personal abgebaut wird. Was bei einer Nicht-Einhaltung der Quoten passiert, ist noch unklar. Gegebenenfalls ist ab 1. April 2019 mit Sanktionen zu rechnen. In welcher Höhe und welchem Ausmaß diese ausfallen ist aber noch offen. Die Verbindlichkeit der Rechtsverordnung bleibt also im Unklaren. Hier brauchen wir unbedingt einen klaren Zeitplan.
Was schlagen Sie als Lösung dieser zahlreichen noch offenen Fragen vor?
Unerlässlich sind Vorgaben für die Personalausstattung in allen Bereichen des Krankenhauses, die sich am Bedarf der Patienten orientieren. Nur diese können eine fundierte Berechnungsgrundlage dafür geben, wo eine Personaluntergrenze zu setzen ist. Es ist sinnvoll, die Pflegepersonal-Regelung in modernisierter Form dafür anzuwenden. Sie ist auch das einzige Instrument, das uns für die Personalbemessung in der Pflege zur Verfügung steht. Unter Beteiligung der entsprechenden Fachexperten könnte sie relativ schnell modernisiert werden.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Lemke.