• 24.05.2018
  • Praxis
Palliative Care für Menschen mit Demenz

Das Sterben achtsam begleiten

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 6/2018

Seite 43

Die bestehenden Konzepte für eine palliative Versorgung berücksichtigen fast ausschließlich den orientierten Sterbenden. Dabei wird vergessen, dass auch Menschen mit Demenz von einer früh einsetzenden Palliativpflege erheblich profitieren.

In Einrichtungen der stationären Altenhilfe, wo in Ballungsräumen 20 bis 30 Prozent aller Menschen sterben, repräsentieren orientierte Bewohner die Minderheit. Viele Pflegeheime in Deutschland weisen einen Anteil von rund 70 Prozent demenziell erkrankter Bewohner auf. Die Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade hat diese Tendenz noch einmal zusätzlich verschärft. Auf den Punkt gebracht sind Pflegeheime in Deutschland mittlerweile gerontopsychiatrische Hospize.

Auch im Krankenhaus sind zunehmend hochaltrige, multimorbide und demenzkranke Personen zu versorgen. Sowohl in der Klinik als auch im Heim nimmt die Verweildauer immer mehr ab; nicht selten werden Menschen aufgenommen, die sich bereits im Sterbeprozess befinden.

Durch die verkürzte Verweildauer und den oftmals fehlenden biografischen Informationen sind Pflegende bei der Versorgung der Betroffenen häufig auf ihre Intuition angewiesen. Eine geplante und strukturierte Palliativversorgung und Sterbebegleitung ist so kaum möglich; professionelle Beziehungspflege weicht einer improvisierten oder standardisierten pflegerischen Begleitung.

Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, sich stärker als bisher mit der Problemlage des multimorbiden demenziell erkrankten Menschen auseinanderzusetzen und Strategien für eine palliative Versorgung der Betroffenen zu entwickeln. Konkret geht es darum, Antworten auf folgende Fragen zu finden:

Serial Trial Intervention (STI)

Anhand dieser fünf Schritte lassen sich alle möglichen Ursachen für das Leiden des Demenzkranken systematisch im Rahmen einer Fallbesprechung abarbeiten

Schritt 1: Erfassung möglicher somatischer Bedürfnisse

- Infektionsparameter überprüfen (über die Messung der Vitalzeichen und die Abnahme von Laborwerten)
- Beobachten, ob der Betroffene auf Schmerz bei Bewegung reagiert
- Überlegen, ob folgende körperliche Ursachen das Verhalten des Betroffenen erklären: Schmerzen, Juckreiz, Übelkeit, unruhige Beine, Harnwegsinfekte, Verstopfung, Lebensmittelunverträglichkeiten, Allergien
- Schauen, ob bekannte Krankheiten sich verschlechtert haben oder neue hinzugekommen sind
- Überprüfen, ob das Diagnoseblatt des zu Pflegenden vollständig ist (indem in alte Arzt- oder Krankenhausentlassungsbriefe geschaut wird)
- Einen Medikamentencheck über die Apotheke veranlassen, zum Beispiel bei Juckreiz

Schritt 2: Erfassung der psychosozialen Bedürfnisse

- Überprüfen, ob störende Umgebungseinflüsse auf den zu Pflegenden vorliegen: Liegt ein Reizüber- oder -unterangebot vor? Haben sich wesentliche Bezugspersonen geändert? Hat es in den letzten Tagen oder Stunden ein besonderes Ereignis gegeben, zum Beispiel einen Streit mit Angehörigen?
- Kann ein Auslöser für das Verhalten benannt werden?
- Wie reagiert der zu Pflegende auf Zuwendung? Kann Deprivation, ein Mangel an Zuwendung, ausgeschlossen werden?
- Ergeben sich Anhaltspunkte auf das Verhalten aus der Biographie, zum Beispiel Lageraufenthalte, Kinder-Land-Verschickung, Gefangenschaft oder Kinderheimaufenthalte?
- Diese Maßnahmen sind nicht vollständig und je nach Situation des Betroffenen müssen weitere Aspekte geprüft werden.

Schritt 3: Einleitung von nicht- medikamentösen Maßnahmen

Versuchen, die Ursachen des Verhaltens mit nicht-medikamentösen Maßnahmen zu lindern. Bei Angst und Unruhe können folgende Maßnahmen helfen:
- Massagen und (atemstimulierende) Einreibungen
- Aromapflege unter Verwendung von vertrauten Düften
- vertraute Gegenstände anbieten
- Einsatz von Klangschalen
- Auflagen und Wickel
- Interventionen aus der Basalen Stimulation
- tiergestützte Therapien
- Versuch, gemeinsam mit dem Betroffenen zu laufen

Schritt 4: Versuchsweise Gabe von Schmerzmitteln

- Zeigen die nicht-medikamentösen Maßnahmen keinen Erfolg, sollte mit dem Hausarzt eine versuchsweise Schmerztherapie abgesprochen werden
- Wenn Schmerzmittel keinen Effekt haben, sollten Medikationen gegen Juckreiz, Übelkeit, unruhige Beine, Harnwegsinfekte, Verstopfung, Lebensmittelunverträglichkeiten und Allergien getestet werden

Schritt 5: Versuchsweise Gabe von Psychopharmaka

- Bevor Psychopharmaka versuchsweise gegeben werden, sollte überlegt werden, ob der Betroffene über das gezeigte Verhalten sein Leiden ausdrückt oder ob es eher Personen aus seinem Umfeld sind
- Erst als letzter Schritt sollte der Einsatz von Psychopharmaka mit dem Arzt oder dem Gerontopsychiater erwogen werden
- Bekommt der Betroffene schon entsprechende Medikamente, sollte über eine Dosiserhöhung nachgedacht werden oder über einen Medikamentenwechsel

  • Welche Bedürfnisse hat ein demenziell erkrankter Mensch, der zusätzlich multimorbid ist?
  • Wie drückt ein demenziell erkrankter Sterbender seine aktuellen Bedürfnisse aus?
  • Wie kann er palliativ gepflegt und betreut werden?

Demenzkranke lebt im Hier und Jetzt

Bei den primären Demenzen handelt es sich um einen fortschreitenden Hirnabbauprozess, der nicht heilbar ist und mit vielen kognitiven und später auch körperlichen Symptomen einhergeht. Der Zugang zu den Betroffenen über Gefühle und über die Sinne bleibt oft sehr lange erhalten. Doch Pflegenden und anderen Berufsgruppen fällt es häufig schwer, das Verhalten des Erkrankten zu interpretieren. Eine mangelnde Zusammenarbeit mit Angehörigen und Hausärzten, eine unzureichende Vorbereitung durch die Fachausbildung und vor allem eine sich bis zur Unmenschlichkeit verdichtende Arbeitsfülle führen in der Palliativ- und Sterbesituation zu Unverständnis, Überforderung und letztendlich zu einer unangemessenen Versorgung.

Der Leidtragende ist der betroffene alte Mensch, der bei fortschreitender Demenz zunehmend in der Gegenwart lebt. Sein Erleben ist ein gegenwärtiges Erleben – und das oftmals sehr intensiv.

Dies schließt allerdings nicht aus, dass Themen, Ängste und Antriebe vergangener Zeiten in der Gegenwart erlebt werden. Die Vergangenheit, sofern sie sich in umgekehrter Chronologie noch nicht gänzlich aufgelöst hat, wird durch den demenziell Erkrankten jedoch nicht aktiv bemüht. Bilder, Gefühle und Antriebe überkommen ihn. Auch können äußere Impulse bestimmte Erinnerungsleistungen anstoßen. Diesen Effekt nutzt zum Beispiel die Erinnerungspflege, um dem demenziell Erkrankten etwas Vertrautes anbieten zu können. Denn Vertrautes schafft Sicherheit und produziert somit weniger Stress.

Das zunehmend gegenwärtige Erleben durch den demenziell Erkrankten hat aber auch Konsequenzen für die Zeitdimension „Zukunft“. Sie geht ebenfalls verloren, weil der demenziell Erkrankte sie nicht erlebt. Zukunft lässt sich nicht erleben, außer man läuft sie in Gedanken voraus. Soll heißen: Dadurch, dass wir zum Beispiel ein zu erwartendes negatives Ereignis gedanklich vorwegnehmen, stellt sich das Phänomen der Sorge ein. Hierfür ist die kognitive Fähigkeit des Abstrahierens und der Vorstellung nötig.

Der Tod, also das Nicht-mehr-Sein, lässt sich weder vorstellen noch fühlen. Und dennoch erfüllt der vorweggenommene Gedanke eines etwaigen nahen Todes orientierte Menschen mit Sorge. Sorge um die Hinterbliebenen, aber auch Sorge um uns, die wir in etwas Unbekanntes übergehen.

Das gegenwärtige Erleben des Demenzbetroffenen führt zu einer Ausblendung des Todes. Er (der Tod) kommt als ein zu erwartendes Ereignis faktisch nicht im Erleben des demenziell Erkrankten vor. Er macht sich keine Sorgen um den Tod. Hier erhält folgendes Zitat des altertümlichen griechischen Philosophen Epikur eine ganz neue Bedeutung: „So lange ich lebe, ist der Tod nicht da. Ist der Tod allerdings da, bin ich nicht mehr. Also, was kümmert mich der Tod?“

Was macht nun die Schwierigkeit aus in der Auseinandersetzung mit sterbenden Menschen mit Demenz? Es ist die Projektion negativer Emotionen der Menschen im Umgang mit dem Sterbenden, respektive dem nahen Tod. Pflegende, Angehörige und andere Personen, die mit dem sterbenden Menschen umgehen, können sich keinen Sein-Zustand im Angesicht des Todes vorstellen, ohne gedanklich und emotional berührt zu sein. Der Tod ist also nicht ein Problem der Lebenden, sondern vor allem der orientierten Lebenden!

Kommunikation häufig schwer möglich

Doch auch der sterbende Mensch mit Demenz benötigt eine empathische, zugewandte Form der pflegerischen Versorgung – genau wie orientierte Menschen im Sterbeprozess auch.

Die besondere Problemlage ergibt sich hier im Bereich der Kommunikation. Denn aufgrund des Sprachzerfalls kann der Demenzbetroffene seine Bedürfnislage, seine Nöte und Wünsche nicht mehr adäquat mitteilen. Der Betroffene entwickelt häufig eine eigene Form des Mitteilens, aber nicht immer gelingt es Außenstehenden, den Inhalt zu entschlüsseln.

Das veränderte Verhalten des Betroffenen muss somit zunehmend als nonverbaler Ausdruck seiner Befindlichkeit gelesen werden, etwa bei Schmerzen oder Juckreiz. Der demenziell Erkrankte ist somit darauf angewiesen, dass das Gesagte und das Verhalten richtig durch die Begleiter interpretiert werden.

Demenz verdeckt das Leiden

Ein weiteres Problem in der palliativen Versorgung demenziell erkrankter Menschen: Die meisten Betroffenen sind alt und weisen zahlreiche akute wie chronische Erkrankungen auf. Im Schnitt können bei geriatrischen Patienten je Lebensjahrzehnt eine chronische Erkrankung vermutet werden. Das bedeutet, dass der 80-Jährige im Durchschnitt etwa acht chronische Erkrankungen hat. Diese erzeugen nicht alle eine Symptomlast, jedoch entsteht eine palliative Landschaft, bei der Außenstehende dann nicht mehr erkennen können, welche der vielen Erkrankungen beim Betroffenen ein Leiden erzeugt.

Immer wieder ist zu bemerken, dass Menschen mit Demenz keine weiteren Diagnosen zu haben scheinen. Mit der Diagnose Demenz scheinen weitere alterstypische Erkrankungen, etwa des rheumatischen Formenkreises, Herzinsuffizienz und Stoffwechselstörungen, zu „versterben“. Aus Sicht der professionellen Begleiter scheint es bei den Betroffenen nur noch die Demenz zu geben. Das führt dann zu dem Resultat, dass etwa bis zu 85 Prozent der Pflegeheimbewohner an chronischen Schmerzen leiden, jedoch nicht in gleichem Maße Schmerzmittel erhalten – eben weil der Schmerz nicht erkannt wird.

Wird nun das Verhalten eines demenziell Erkrankten nur vor dem Hintergrund der Demenz gelesen und interpretiert – zum Beispiel aufgrund von Unruhe oder Abwehrverhalten –, kann es vorkommen, dass eher der Neurologe als der Hausarzt verständigt wird. Dies führt dann nicht selten dazu, dass dem Heimbewohner eher Sedativa statt Analgetika verschrieben werden.

Fallbesprechung mithilfe der STI-Methode

Alle möglichen Ursachen für das Verhalten des Demenzbetroffenen anhand einer strukturierten Leitlinie systematisch abzuarbeiten, zum Beispiel in Form einer Fallbesprechung, kann helfen, der Symptomlast der Betroffenen gerecht zu werden. Stellt etwa ein Betroffener die Ernährung ein, muss daher zuerst geschaut werden, ob er nicht mehr essen kann. Schreit ein Mensch mit Demenz oder wehrt er die Pflege ab, sollten erst einmal körperliche Ursachen hierfür vermutet werden.

Eine Leitlinie zur Ergründung von Verhaltensweisen bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz ist die nach Fischer et al. (2007) weiterentwickelte sogenannte STI-Methode (Serial Trail Intervention). Diese kann im Rahmen einer Fallbesprechung helfen, eine mögliche Symptomlast bei den Betroffenen zu erkennen und entsprechend zu intervenieren. Sie besteht aus fünf Schritten (siehe Übersicht auf der Seite gegenüber).

Achtsame Begleiter notwendig

Menschen mit Demenz, die ihre Not und ihr Leiden nicht mehr verbal mitteilen können, benötigen achtsame und suchende Begleiter. Beides wird im Rahmen der Palliative Care geschult und gefördert.

Wie der Beitrag deutlich gemacht hat, ist Palliative Care wesentlich mehr als Sterbebegleitung oder Schmerztherapie, denn wenn nicht mehr geheilt (curare) werden kann, kann zumindest gelindert (palliare) werden.

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