Die neue schwarze-rote Bundesregierung arbeitet seit Mitte März 2018. Was haben die ersten Regierungswochen für die Pflege gebracht? Wir sprachen mit Christine Vogler, Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats, über die Risiken von Personaluntergrenzen, die Dringlichkeit eines Sofortprogramms und die unaufschiebbare Not, endlich spürbare Verbesserungen für die Pflegenden einzuleiten.
Frau Vogler, wie bewerten Sie die ersten Wochen der neuen Bundesregierung?
Im Moment kann ich noch wenig sagen. Unser neuer Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war in den vergangenen Wochen auf der politischen Bühne sehr präsent, und einige seiner Aussagen lassen auf frischen Wind hoffen. Zum Beispiel soll das Sofortprogramm für zusätzliche Pflegestellen noch vor der Sommerpause beschlossen werden, ebenso wie die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung. Wir als Deutscher Pflegerat werden natürlich kritisch hinschauen und seine Leistungen an seinen Taten messen und nicht an seinen Worten. Es muss gehandelt werden – und zwar jetzt!
Wie ernst ist die Situation?
Sehr ernst. Das gesamte Pflegesystem ist komplett marodiert. Wir haben nicht genügend Auszubildende, in den Pflegeschulen fehlen Lehrer, in der Praxis kann aufgrund des Personalmangels kaum mehr ausgebildet werden. Die Pflegenden sind an der Schmerzgrenze der Belastung, wir haben in allen Kliniken und Pflegeeinrichtungen offene Stellen, und man muss leider festhalten: Wir haben derzeit keine qualitativ gute Patienten- und Bewohnerversorgung mehr. Aber das traut sich eigentlich niemand offen zu sagen. Wenn sich jetzt nichts ändert, wird die Versorgung an der einen oder anderen Stelle zusammenbrechen – und ich möchte nicht wissen, wie das aussieht, denn es sind immer Menschen involviert, die zu Schaden kommen können. Das kann doch nicht unser Anspruch an die Gesundheitsversorgung der Menschen in Deutschland sein!
Der neue Bundesgesundheitsminister hat angekündigt, das Thema Personaluntergrenzen schnellstmöglich voranzutreiben. Ist hierdurch eine Verbesserung der Situation zu erwarten?
Das Thema Personaluntergrenzen macht uns derzeit große Sorgen. Die Gefahr, dass Untergrenzen zu Obergrenzen werden, ist riesig. Und damit ist niemandem gedient. Wir brauchen Personaluntergrenzen, die an einer qualitativ guten Versorgung festgemacht werden und nicht an einer Versorgung, die ausschließlich darauf abzielt, eine akute Patientengefährdung zu reduzieren. Auch mit der Konsequenz, dass wir Stationen und Abteilungen unter Umständen schließen müssen, weil es nicht genug Pflegende gibt. So wie jetzt können wir nicht weitermachen!
Die Personaluntergrenzen wurden ja bereits von der letzten Bundesregierung beschlossen. Wie ist hier der aktuelle Stand der Dinge?
Jens Spahn hat die Selbstverwaltung erneut aufgefordert, bis zum 30. Juni 2018 eine Lösung vorzulegen. Derzeit laufen Beratungen zwischen den Verhandlungspartnern, das sind die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der GKV-Spitzenverband (GKV-SV). Die neuesten Aussagen des DKG-Hauptgeschäftsführers Georg Baum zur Ausgestaltung der Personaluntergrenzen sind besorgniserregend und würden den Koalitionsvertrag komplett unterlaufen.
Inwiefern?
Er hat beispielsweise angekündigt, dass die Mindestbesetzung nicht pro Schicht vorgesehen sei, sondern über Monatsdurchschnittswerte, die am Ende eines Quartals transparent gemacht werden. Die Pflegequoten – so wurde zumindest diskutiert – sollten wegen des Fachkräftemangels auch bis zu einem Drittel mit Pflegehilfskräften besetzt werden können, und Sanktionierungen der Kliniken, die diese Untergrenzen nicht einhalten, sollen erst nach drei Jahren erfolgen. All diese Punkte sind für uns indiskutabel. Auch die Ausdehnung der sensitiven Bereiche auf alle Bereiche im Krankenhaus ist offensichtlich für die DKG und den GKV-SV kein Thema.
War das nicht Bestandteil des Koalitionsvertrags?
Ja, im Koalitionsvertag stand eindeutig, dass – wörtlich zitiert – in Krankenhäusern derartige Untergrenzen nicht nur für pflegesensitive Bereiche, sondern für alle bettenführenden Abteilungen eingeführt werden. In diesem Punkt wird sich zeigen, ob Spahn die Aussagen aus dem Koalitionsvertrag nun auch wahr macht. Wir bringen uns in den Diskurs mit ein, haben aber wie immer nur beratende Funktion. Schade!
Mit Andreas Westerfellhaus ist ja nun der ehemalige Präsident des Deutschen Pflegerats Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung. Ist das ein Zeichen, dass die Pflege künftig stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden wird?
Das war eine sehr gute Entscheidung von Jens Spahn. Mit Westerfellhaus ist ein kompetenter, streitbarer und konstruktiver Pflegefachmann berufen worden. Die Frage, ob er auch Gehör finden wird, wird sich aber erst später herausstellen.
In welchem Kontakt stehen Sie als Deutscher Pflegerat zum Bundesgesundheitsminister?
Noch hat es keine Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch zwischen dem DPR und dem neuen Bundesgesundheitsminister gegeben. Wir bedauern das, denn unser Präsident, Franz Wagner, hat natürlich bereits um ein Treffen gebeten, aber bis heute – Mai 2018 – keine Terminbestätigung erhalten.
Seit mehr als 15 Jahren warnen Sie als DPR und weitere Pflegevertreter vor einem Pflegekollaps. Warum hat die Politik diese Warnungen weitgehend ignoriert?
Eine jahrelange Ignoranz und Versäumnisse der Verantwortlichen im Gesundheitswesen haben zu diesem Desaster geführt. Warum das so ist, weiß ich nicht. Offensichtlich war die Not nicht groß genug. Pflege galt im System über weite Strecken als reiner Kostenfaktor, den man immer stärker abgebaut und eingespart hat. Jetzt ist die Grenze erreicht, und wir bekommen die Quittung präsentiert: Wir haben nicht genügend Pflegekräfte, um die Versorgung aufrechtzuhalten. Das fällt jetzt auch der Politik auf.
Ist für die derzeitige Misere denn allein die Politik verantwortlich zu machen?
Nein, neben der Politik liegt die Verantwortung für das Pflegepersonal auch bei den Trägern der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sowie den Kranken- und Pflegekassen und Sozialhilfeträgern. Diese müssen ebenfalls dafür sorgen, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege so gestaltet sind, dass man gerne im Pflegeberuf arbeitet und weiterhin im Beruf verbleibt. Arbeitgeber, die gut aufgestellt sind, finden auch neue Bewerber oder können Teilzeitbeschäftigte motivieren, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Viele Kollegen wandern momentan in Leasingfirmen ab, weil sie dort mehr Lohn erhalten und selbstbestimmt über Ort und Zeit ihres Einsatzes entscheiden können. Wir brauchen neue Arbeitsstrukturen in den Kliniken und offensichtlich andere Mitspracherechte in den Strukturen der Einrichtungen, Kliniken und im System insgesamt. Hier muss allen Beteiligten etwas einfallen.
Fehlt es an Lobby generell?
Ja, das ist ein grundlegendes Problem: Pflege hat keine gebündelte starke Stimme. Wir haben keine klaren Strukturen, in denen die Profession gemeinsam Strategien und Lösungen diskutieren und entwickeln kann. Die Pflegekammern beginnen langsam, diese Ansprechbarkeiten auf Landesebene zu bieten, die Politik wahrnehmen muss. Und im Moment läuft die – um das schlimme Wort zu nutzen – „Lobbyarbeit“ der Pflege nicht professionell, sondern immer noch fast ausschließlich im Ehrenamt.
Wird sich das durch die geplante Bundespflegekammer ändern?
Aus unserer Sicht auf jeden Fall. Damit wird es auch auf der Bundesebene klare Organisationsstrukturen und Ansprechpartner für die Pflege geben. So kann Pflege für sich selbst sprechen und muss sich nicht durch die vielen anderen Player, die sich im Gesundheitssystem tummeln, „vertreten“ lassen. Mit der Verkammerung haben wir eine Autorisierung durch die Berufsgruppe und können innerhalb dieses Systems eine gemeinsame Haltung zu bestimmten Themen entwickeln. Zudem gibt es einen anderen finanziellen Hintergrund, um Dinge voranzutreiben.
Wie stehen Sie zum neuen Entwurf für die neue Ausbildungs- und Prüfungsverordnung? Den hat Spahn ja bereits wenige Wochen nach seinem Amtsantritt auf den Weg gebracht.
Wir sind froh, dass das Pflegeberufegesetz weiter in der Umsetzung vorangebracht wird und begrüßen die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung. Es gibt zwar noch einige Baustellen, wie die überdimensionierte Zwischenprüfung oder Unsicherheiten bei den künftigen organisatorischen Strukturen. Aber bei der Anhörung der Ministerien ist in den Detailfragen schon deutliche Änderungsbereitschaft signalisiert worden. Gut ist: Die Generalistik kommt, die Hochschulausbildung ist primärqualifizierend, die benannten Vorbehaltsaufgaben eröffnen neue Möglichkeiten.
Arbeitgeberverbände kritisieren den engen Zeitrahmen. Die Verordnung soll ja noch vor der Sommerpause verabschiedet werden. Reicht das, um alle notwendigen Nachbesserungen auszuführen?
Die Ministerien arbeiten im Moment die Anmerkungen der Länder und Verbände ein. Viele Kritikpunkte betreffen jedoch das Gesetz generell. Hier gibt es seitens der Ministerien eine klare Aussage: Diese Dinge diskutieren wir nicht mehr, das Gesetz ist verabschiedet. Es ist ja auch nicht so, dass wir in den Schulen erst jetzt mit den Vorbereitungen beginnen. Diejenigen, die sich aktiv mit der Ausbildungsreform auseinandergesetzt haben, haben bereits über die Finanzierung nachgedacht und Kooperationen in die Wege geleitet. Von daher sind wir überhaupt nicht an einer Verzögerung interessiert, sondern vielmehr an einer verbindlichen, zeitnahen Umsetzung.
Kritisiert wird von vielen, dass die Zwischenprüfung gleichzeitig eine Helferqualifikation umfassen soll. Wird das wirklich kommen?
Nein, das wird es nicht. Die Länder, aber auch die Verbände haben sich dafür eingesetzt, dass die Helferqualifikation eine eigene Ausbildung bleiben muss. Im Rahmen der Verbändeanhörung ist das durch die Ministerien auch so anerkannt worden.
Sowohl das Deutsche Institut für Pflegeforschung (DIP) als auch der DPR und der DBfK haben bereits vor einem halben Jahr einen Masterplan Pflege gefordert. Was umfasst dieser genau?
Es geht um die Gesamtschau aller Faktoren, mit denen sich die Rahmenbedingungen der Pflege in Krankenhäusern, Altenheimen und ambulanten Diensten verbessern ließen. Dazu gehören dann auch spürbar bessere Vergütungen für Pflegefachpersonal, vor allem in der Altenpflege, mit bis zu 30 Prozent Lohnerhöhung. Zeitgleich sollen bis zum Ende der kommenden Legislatur bis zu 100 000 zusätzliche Stellen entstehen, die etwa hälftig auf die Krankenhäuser sowie den ambulanten und stationären Sektor aufgeteilt werden. Auch wird neben einigen anderen Punkten gefordert, dass ein Runder Tisch Masterplan Pflege mit allen relevanten Akteuren eingerichtet wird.
Wie war die Resonanz auf diesen Masterplan?
Der Masterplan ist in der Politik angekommen – Herr Westerfellhaus hat die ersten Maßnahmen angekündigt. Wir hoffen, dass sie erst ein Anfang sind und das große Ganze über die Legislatur hinaus gedacht und weiterentwickelt wird. Die jetzige Situation ist mehr als kritisch. Es darf nicht sein, dass die Pflege wieder mit einigen kleinen Maßnahmen ruhig gehalten wird – dafür ist die Lage zu ernst. Wir können uns ein Abwarten nicht leisten. Wir sind die Einzigen, die im Moment darauf hinweisen, dass wir noch eine Versorgungsqualität sicherstellen müssen. Alle Zahlen der letzten 20 Jahren sprechen eine eindeutige Sprache: die Zunahme der ärztlichen Stellen, der Abbau der Pflegestellen, die internationalen Studien, die den Zusammenhang zwischen Qualifizierung der Pflegenden und Versorgungsqualität belegen – aber: All diese Daten haben in der politischen Entscheidung letztendlich keine Relevanz! Und das muss doch sehr wundern!
In den vergangenen Monaten sind viele Kliniken bestreikt worden – ist dieses Mittel der richtige Weg?
Streiks sind ein wichtiger Weg, um Positionen und Rechte einzufordern. Aber nicht der einzige. Für uns ist es auch wichtig, die Prozesse im Gesundheitssystem mitzugestalten, und das institutionalisiert mit einer eigenen Vertretung. Am besten, bevor gestreikt werden muss. Wir vom Deutschen Pflegerat möchten, dass Pflege professionell arbeiten kann. Deshalb dürfen wir auch nicht aufhören, auf diese Missstände immer wieder hinzuweisen. Die Pflege ist ein ernst zu nehmender Partner – ohne uns wird die künftige Gesundheitsversorgung nicht gesichert werden können.
Während die Politik zaudert, geht vielen Pflegenden in Kliniken und Heimen gerade die Luft aus. Was muss aus Ihrer Sicht nun akut passieren?
Es geht darum, jetzt schnell zu handeln und die einzelnen Schritte des Masterplans umzusetzen. Das heißt, Geld in die Hand nehmen, Stellen schaffen – und zwar deutlich mehr als 8 000 – und losmarschieren. Es muss nachvollziehbar festgelegt werden: Was geschieht wann? Die Not wächst jeden Tag, deshalb gibt es gar keine andere Wahl.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Vogler.