Das Pflege-Thermometer 2018 hat die Missstände in der Altenpflege ans Tageslicht gebracht. Wie sollte in der gegenwärtigen Situation verfahren werden?
Im Jahr 1994 wurden in Dänemark die Regelungen zum Erziehungsurlaub reformiert: Frauen und Männer hatten seitdem das Recht, bis zu einem Jahr für die Betreuung von Kindern zu Hause zu bleiben, um danach an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Doch das Gesetz wirkte anders als erwartet: Denn den Erziehungsurlaub nahmen fast ausschließlich Frauen. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass in der Berufsgruppe Pflege zwölf Prozent weniger Personal beschäftigt war. Denn in der Pflege arbeiteten zu diesem Zeitpunkt in Dänemark zu 97 Prozent Frauen.
Die Situation war die ideale Voraussetzung für ein interessantes Forschungsprojekt (Benjamin/Hackmann 2017). Die Wissenschaftler stellten sich die Frage, wie sich die kleineren Belegschaften auf Patienten in Krankenhäusern und Bewohner von Pflegeheimen auswirken. Die Ergebnisse waren alarmierend: In den ersten drei Jahren nach der Reform stieg die Mortalität der Heimbewohner, die älter waren als 85 Jahre, sprunghaft an, während der Pflegepersonalmangel in den Kliniken deutlich geringere Auswirkungen hatte.
Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Die Autoren argumentierten, dass das Pflegepersonal in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege die zentrale Rolle spiele, während in Krankenhäusern eine hierarchische Struktur aus unterschiedlichen Berufsgruppen vorherrsche. Zweitens seien Kliniken weitaus größere Organisationen, in denen Pflegepersonalausfälle leichter kompensiert werden könnten als in den deutlich überschaubareren Heimen. Drittens seien Krankenhäuser auf schwere Patientenfälle ausgerichtet, Lebensrettung sei also praktisch das Kerngeschäft. In Pflegeheimen führe ein Personalmangel hingegen dazu, dass sich die Mitarbeiter weniger intensiv um die Bewohner kümmern könnten. Problemsituationen würden dann nicht rechtzeitig erkannt, notwendige Krankenhauseinweisungen zu spät oder gar nicht eingeleitet.
Natürlich kann man jetzt jeden der genannten Erklärungsgründe kritisch zurückweisen. Doch das ist irrelevant. Entscheidender ist, dass die Untersuchung eindrücklich belegt, welch dramatische Folgen ein Personalmangel vor allem in Heimen haben kann.
Im Pflege-Thermometer 2018 werden vor dem Hintergrund des bundesweiten Personalmangels in der Altenpflege Bemühungen der Einrichtungen beschrieben, Mitarbeiter zu binden und zu finden. Es ist weitgehend unbestritten, dass die Erhöhung der Personalressourcen – vor allem bezogen auf das Fachpersonal – als ein entscheidender Punkt zur Verbesserung der Pflege- und Lebensqualität der Bewohner angesehen werden muss. Aber die gesamte Diskussion wird zu eng geführt. Die Ursachen der Misere werden von den Protagonisten bei Trägern, Verbänden und Politik nicht genau genug analysiert, die Verantwortung der verschiedenen Akteure nicht klar benannt und die Konsequenzen einer zunehmend auch kulturell heterogenen Zusammensetzung des Personals nicht ausreichend beachtet. Im Vordergrund stehen kurzfristige „Lösungen“, während zentrale Grundfragen vernachlässigt werden. Doch wie sollte in der gegenwärtigen Situation verfahren werden? Drei Forderungen.
1. Personalniveau nicht weiter absenken!
Kürzlich waren erneut Rufe nach Flexibilisierung der Personalvorgaben und zur Abschaffung der Fachkraftquote in der Altenpflege zu vernehmen. Hierzu ist zu sagen: Die Argumente zur weiteren Flexibilisierung und/oder Abschaffung einer Fachkraftquote in der Altenpflege sind nicht überzeugend! Eine generelle Absenkung der Personalniveaus ist zudem weder sinnvoll noch wissenschaftlich zu begründen. Ohne eine ausreichende Personaldecke besteht die Gefahr, dass die ohnehin prekäre Versorgungssituation in der stationären Langzeitpflege verschärft wird. Dies ist aus meiner Sicht nicht zu verantworten. Stattdessen sollten die laut Landespersonalverordnungen bereits bestehenden Möglichkeiten eines flexiblen Personaleinsatzes stärker in der Praxis genutzt werden und seitens der Politik ein umfassendes Gesamtkonzept für die Aufwertung der Pflegeberufe erstellt und umgesetzt werden – ausdrücklich unter Beteiligung der Pflegenden selbst.
2. Einen zeitgemäßen Personalmix auf den Weg bringen!
Bevor man die Senkung der Personallevel ernsthaft auf die politische Agenda rückt und darauf abzielt, angelernte und nicht ausgebildete Personen als „Ersatz“ für Fachkräfte anerkannt zu bekommen, sollte man zunächst die bisherige Praxis in den Blick nehmen: Wie wird eine multiprofessionelle Personalzusammensetzung in den Einrichtungen gegenwärtig realisiert? Welche Schwerpunkte lassen sich erkennen? Gibt es begründete Konzepte, an denen sich die Praxis ausrichtet?
Die Beantwortung dieser Fragen war Gegenstand eines aktuellen Forschungsprojekts zum multiprofessionellen Personalmix in der Langzeitpflege (PERLE), das vom Sozialministerium Baden-Württemberg gefördert wurde (Brandenburg/Kricheldorff 2018). Das Ergebnis war etwas ernüchternd, denn zwischen den detailliert untersuchten acht Einrichtungen zeigte sich eine hohe Heterogenität im Hinblick auf Verständnis, Praxis und Umsetzung eines multiprofessionellen Personalmix. Dies spiegelte sich auch innerhalb der Einrichtungen – Leitung, Mitarbeiter und Bewohner – wider. In der Studie zeigte sich jedoch ein hohes Maß an „Klugheit der Praxis“, vor allem im Hinblick auf das Überleben der Organisation und den Umgang mit teilweise widersprüchlichen externen Anforderungen.
Beispielsweise wurde in vielen Heimen die Notwendigkeit hervorgehoben, im Alltag flexibel zu reagieren und die engen Grenzen zwischen den Berufsgruppen zu überschreiten. Einerseits ist damit die Chance einer professionsübergreifenden Kooperation gegeben. Andererseits besteht so die Gefahr einer Grenzüberschreitung, zum Beispiel durch Übernahme von grund- und manchmal auch behandlungspflegerischen Tätigkeiten durch nicht oder nur ansatzweise in der Pflege qualifizierte Personen. Eine multiprofessionelle Zusammenarbeit von Pflege, Hauswirtschaft und sozialer Unterstützung wurde im Rahmen der Studie zwar betont, eine Konkretisierung und Grenzziehung der Aufgaben- und Kompetenzprofile war jedoch nicht erkennbar.
Das bedeutet konkret: Die konzeptionelle Grundlage für einen echten Personalmix ist noch nicht ausgereift. Künftig müssen andere Berufsgruppen, wie Sozialarbeiter, therapeutische Gruppen und Hauswirtschaft, systematisch in den Arbeitsalltag eines Pflegeheims integriert werden. Das ist gegenwärtig nur ansatzweise der Fall. Notwendig ist zudem die Entwicklung eines Rahmenmodells und eines praktikablen Instruments, um in den Heimen einen zeitgemäßen Personalmix auf die Bewohner- und Mitarbeiterbedürfnisse abzustimmen. In diesen Ansätzen sollten verschiedene Professionen, unterschiedliche Qualifikationsgrade und kulturelle Kontexte Beachtung finden. Externe Vorgaben können nur eine erste Orientierung darstellen, dessen konkrete Ausführung sich an den Bedingungen vor Ort orientieren muss.
3. Die Personalfrage breiter diskutieren!
Bei der Diskussion, was zur Verbesserung der Situation in der Altenpflege zu tun ist, geht es meist nur um die Frage, in welcher Art und Weise geeignetes Personal für die Einrichtungen gewonnen werden kann. Andere, mindestens genauso wichtige Herausforderungen in den Heimen, geraten hierbei häufig in den Hintergrund. Ich plädiere dafür, die Personalfrage mit anderen wichtigen Themen zu verbinden:
- Was ist die vorrangige Aufgabe des Personals? Pflege- und Lebensqualität sind entscheidende Orientierungspunkte für eine bewohnerbezogene Versorgung. Es ist zu prüfen, ob und inwieweit der Personaleinsatz tatsächlich die von allen betonte Personenzentrierung innerhalb der Einrichtung fördert – oder ob das nicht der Fall ist.
- Wie wird in den Einrichtungen Personalentwicklung betrieben? Auch hier ist noch Luft nach oben. Denn warum unterscheiden sich Träger und Einrichtungen diesbezüglich in erheblichem Umfang? Es stellt sich die Frage, in welcher Art und Weise tatsächlich Mitarbeiter nachhaltig begleitet und gefördert, welche Karrierewege ihnen offeriert und wie sie langfristig an die Einrichtung gebunden werden.
- Um Innovationen anzustoßen, ist auch der Einsatz von akademisch qualifiziertem Pflegepersonal unverzichtbar, und zwar in relevantem Umfang. Wenn man mit Verantwortlichen spricht, dann ist wenig visionäres Potenzial erkennbar. In vielen Kliniken und Heimen wird akademisch qualifiziertes Personal mehr oder weniger genauso bezahlt wie Mitarbeiter mit einer klassisch dreijährigen Ausbildung. Hinzu kommt, dass wenig konkrete Vorstellungen existieren, in welchen Aufgabenfelder diese Personen, womöglich auch einrichtungsübergreifend, eingesetzt werden. Diese Vorgehensweisen eignen sich nicht, um wirkliche Perspektiven für das Feld zu eröffnen.
- Ist der Blick beim Personaleinsatz auch über die Einrichtungen hinaus gerichtet? Die Öffnung der Einrichtungen nach außen ins Quartier ist außerordentlich wichtig, wird aber sehr unterschiedlich aufgegriffen. Gesamtversorgungsverträge sind seitens der Kassen möglich; allein in sechs Bundesländern sind 160 Verträge abgeschlossen worden. Natürlich – sie sind nicht einfach, auch nicht unumstritten. Aber sie ermöglichen nicht nur eine quartiersbezogene Öffnung, auch ein flexibler Personaleinsatz wird dadurch im Ansatz realisiert.
Abschließend: Es muss nicht explizit betont werden, dass die Personalfrage essentiell ist. Aber mit mehr oder weniger unreflektierten Machbarkeitsfantasien Personal einzusetzen, ohne die Voraussetzungen und Folgen eines entsprechenden Einsatzes zu bedenken, ist problematisch. Und zwar auch deswegen, weil die Probleme, aufgrund derer der Personalnotstand in der stationären Langzeitpflege überhaupt entstanden ist, nicht substantiell reflektiert und erst recht nicht beseitigt werden.
Geld ist nur eine Seite der Medaille, aber muss der Daimler-Chef Dieter Zetsche mit 9,8 Millionen Euro im Jahr wirklich 370-mal mehr verdienen als eine Altenpflegerin? Man kann Mitarbeiter in der Pflege verstehen, die nicht mehr bereit sind, für ein Monatsgehalt von durchschnittlich 2 188 Euro Schwerstarbeit zu leisten.
Es ist ein gesellschaftlicher Skandal, dass wir die Pflege der uns anvertrauten multimorbiden und an Demenz erkrankten Großelterngeneration überwiegend gering qualifizierten, überlasteten und schlecht bezahlten Mitarbeitern überlassen. Aber nicht nur die Politik ist angesprochen; auch die Verbände, Träger und Verantwortliche in den Heimen selbst haben eine Verantwortung dahingehend, echte Alternativen zu den bestehenden Verhältnissen zu entwickeln.
Das Pflege-Thermometer 2018 resümiert, dass trotz einer insgesamt positiven finanziellen Einschätzung wichtige Impulse nicht umgesetzt werden. Signifikant erscheint mir hier der Hinweis, dass jede dritte Einrichtung angibt, strategische Entwicklungen aufgrund des Personalmangels nicht vornehmen zu können. Warum eigentlich nicht? Und was sind die Strategien der anderen? In jedem Fall ist aber deutlich: Maßnahmen der Mitarbeiterrekrutierung und -bindung alleine reichen nicht aus. Man muss sich schon auch fragen, wie der im Pflege-Thermometer beschriebene „Trampolineffekt“ zu erklären ist und warum es auch bei aus dem Ausland angeworbenen Pflegenden nach relativ kurzer Zeit zu Abwanderung in die Krankenhäuser kommt.
Das hat etwas damit zu tun, dass der gesamte Bereich der gemeinwohlorientierten Wohlfahrtspflege gegenüber der Akutpflege viel zu defensiv eingestellt ist. Es ist kein Konzept und keine politische Strategie erkennbar, die einen Gegenentwurf zu den rein erwerbswirtschaftlich und international aufgestellten Ketten darstellen, die den Markt aufrollen und mit einer Billigversorgung Angehörigen neue Optionen eröffnen. Eine Ausnahme bilden die Bemühungen um die Gemeinwohlökonomie in Teilen der konfessionell orientierten Wohlfahrtspflege.
Und die Pflegenden selbst? Sie verharren nach wie vor in einer passiven Rolle, treten allenfalls durch hilflose Protestmaßnahmen wie „Pflege am Boden“ an die Öffentlichkeit. Sie sind mehrheitlich noch immer kaum in der Lage oder bereit, sich politisch zu engagieren und Druck zu machen. Der Habitus der Duldsamkeit und Selbstaufopferung verhindert einen politischen Protest.
Am Ende ist es Aufgabe einer konzertierten Aktion aller Verantwortlichen – der Politik, der Verbände, der Einrichtungen und der Pflegenden selbst – für angemessene Bedingungen zu sorgen, sodass die in den Leitbildern formulierten Ziele nach guter Pflege und Lebensqualität nicht als bloße Ideologie entlarvt werden.
Wie heißt es abschließend im Pflege-Thermometer: „Mehr Geld alleine löst die vorhandenen Probleme nicht und das Nadelöhr der Fachkräfteentwicklung kann nur erweitert werden, wenn mutige Schritte eingeleitet werden, die mittelfristig zu einer Entlastung des Personals, zur Attraktivitätssteigerung der altenpflegerischen Arbeit und zu besseren Arbeitsbedingungen vor Ort führen. Diese Aufgaben können nicht von den Einrichtungen alleine gelöst werden. Es bedarf daher einer umfassenden und Sektoren übergreifenden Strategieentwicklung, von der alle in der Versorgung arbeitenden Einrichtungen profitieren könnten.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Benjamin, B.U.; Hackmann, M.B. (2017): The Returns to Nursing. Evidence from a Parental Leave Program, NBER Working Paper No. 23174. www.utah-wbec.org/wp-content/uploads/2017/02/Friedrich_ Hackmann_ latest. pdf, Zugriff: 4.4.2018
Brandenburg, H.; Kricheldorff, C. (Hrsg.) (2018): Multiprofessioneller Personalmix in der stationären Langzeitpflege. Stuttgart: Kohlhammer