• 27.04.2017
  • Praxis
Medikationssicherheit

CIRS: Aus Fehlern lernen

Risiken aktiv begegnen: Ein offener Umgang mit Fehlern und weitere Maßnahmen können die Patientensicherheit erhöhen

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 5/2017

Seite 46

In Gesundheitseinrichtungen kommt es regelmäßig zu Fehlern im Umgang mit Arzneimitteln. Ein Berichts- und Lernsystem, in dem Mitarbeiter unerwünschte Ereignisse anonym melden können, kann helfen, Fehlerquellen zu identifizieren und entsprechend gegenzulenken.
 

Medikationsfehler gehören in Gesundheitseinrichtungen zum Alltag. In Pflegeheimen sind nach neuesten Studien zwischen 15 und 30 Prozent der Bewohner von Medikationsfehlern betroffen, wobei die dabei selten auftretenden Schäden eher leichter Natur sind (1). Im Krankenhaus sind Medikationsfehler mit Schadensfolge für den Patienten häufiger: Bei zirka fünf Prozent der eingewiesenen Patienten konnte dies anhand der Auswertung von Routinedaten nachgewiesen werden (2). Dies hängt damit zusammen, dass das Risikopotenzial einiger Arzneimittel, die im Krankenhaus gegeben werden, hoch ist – zum Beispiel Zytostatika, Opiate und gerinnungshemmende Medikamente. Zudem werden Medikamente in Kliniken im Gegensatz zu anderen Versorgungsbereichen sehr oft intravenös gegeben werden, wodurch eine Wirkung – oder auch Nebenwirkung – unmittelbar einsetzt.

 

Fehler anonym melden

Es ist unbestritten, dass die pharmakologische Versorgung der Patienten zu den Risikobereichen in Gesundheitseinrichtungen zählt. Medikationsfehler sind ein Abweichen von dem für den Patienten optimalen Medikationsprozess. Das kann zu einer grundsätzlich vermeidbaren Schädigung des Patienten führen (3). Medikationsfehler können jeden Schritt des Medikationsprozesses betreffen und von jedem am Medikationsprozess Beteiligten – Ärzten, Apothekern, Pflegenden, Patienten, Angehörigen oder Dritten – verursacht werden. 

Daten aus einem Critical Incident Reporting System (CIRS) liefern wertvolle Hinweise darauf, welche Art von Medikationsfehlern auftreten und wie häufig sie vorkommen. Eins dieser Systeme ist das Netzwerk CIRS-Berlin, ein regionales, einrichtungsübergreifendes Berichts- und Lernsystem, an dem aktuell 31 Krankenhäuser in Berlin und Brandenburg beteiligt sind. Im Netzwerk CIRS-Berlin wurden zwischen 2008 und 2016 über 350 Berichte aus den internen CIRS der beteiligten Häuser eingestellt. Dabei bilden mit 163 Berichten die Medikationsfehler fast die Hälfte der eingegangenen Berichte. Die absolute Zahl erscheint als gering und lässt keine Rückschlüsse auf die Häufigkeit dieser Ereignisse zu. Dennoch sind diese Berichte dazu geeignet, um über Risiken, Problemfelder und Gründe für Medikationsfehler hinzuzulernen.

Ein Großteil der Berichte, nämlich 102 von 136, betreffen injizierbare Medikamente und Infusionen. Bei diesen ist das Risikobewusstsein und die Aufmerksamkeit der Pflegenden und Ärzte vermutlich größer als bei Tabletten, Tropfen oder Salben. Mitarbeiter berichten daher vermutlich häufiger über Probleme in diesem Bereich. 

Wie lassen sich Fehlerberichte im Detail analysieren, um daraus lernen zu können? Es werden zu jedem Bericht bestimmte Fragen gestellt:

  • Bei welchem Schritt im Medikationsprozess tritt ein Fehler auf?
  • Welche Applikationsart ist betroffen?
  • Welche konkrete Abweichung von der eigentlich geplanten Medikation resultiert?
  • Welche Gründe und beitragende Faktoren führten zu dem Ereignis?

Zur Verdeutlichung soll folgendes Fallbeispiel dienen: Eine Patientin mit Bauchschmerzen erhielt im Nachtdienst eine Kurzinfusion mit einer Ampulle Buscopan und 1 Gramm Novaminsulfon. Die Kurz-infusion (Applikationsart) wurde auf Anordnung (Schritt im Medikationsprozess) vom Arzt durch die zuständige Pflegeperson vorbereitet. Kurz nach Anhängen der Medikamente durch den Arzt sagte die Patientin, dass sie allergisch reagiert auf Novaminsulfon (Gründe: Nicht nach Allergien gefragt oder Patientenkurve nicht geprüft auf Allergiehinweise; beitragende Faktoren: Müdigkeit, hohe Arbeitsbelastung).

Oft wird über Ereignisse berichtet, die während der Verschreibung/Verordnung, bei der Transkription/Dokumentation, vor allem aber bei Ausgabe/Vorbereitung und bei der Verabreichung auftraten (Abb. 1). 
 

Typische Fehlerberichte und Problemfelder sind folgende:
Berechnungsfehler bei der Verordnung: Ein Lokalanästhetikum soll zur Schmerzmedikation für ein Kind über einen Perfusor eingesetzt werden. Die Rate wurde statt mit 0,2 Milliliter pro Kilogramm Körpergewicht pro Stunde mit zwei Millilitern zu hoch berechnet. Berechnungsfehler sind ein typisches Problemfeld in der Kinder- und Jugendmedizin, da Medikamente auf das Körpergewicht des Kindes berechnet werden müssen. Wenn das Körpergewicht des Kindes nicht korrekt ermittelt wurde oder beim Rechnen das Komma nach rechts oder links verrutscht, kann ein Medikament schnell versehentlich unter- oder überdosiert werden.
Übertragungsfehler bei Verordnungen: Ein Medikament wird für die einmal tägliche Gabe verordnet (Gentamicin). Bei der Übertragung auf die Tageskurve wird fälschlich die Gabe um 8, 16 und 24 Uhr dokumentiert. Außerdem wird die Dosis zehnmal so hoch notiert wie verordnet (Ereignis trat auf der Kinderstation auf). In der ärztlichen Dokumentation stand von Anfang an die richtige Dosierung. In der handschriftlichen Übertragung vom Verordnungsblatt oder vom aktuellen aufs folgende Kurvenblatt liegt ein weiteres typisches Risiko in der Medikation, das insbesondere im stationären Bereich besteht: Jede und vor allem jede handschriftliche Übertragung birgt das Risiko, dass Informationen vergessen oder falsch übertragen werden.
Verwechslung bei der Vorbereitung von Medikamenten: Im Kreißsaal werden die für die Sectio benötigten Medikamente im Kühlschrank aufbewahrt. Zur schnellen Verfügbarkeit liegt dort je ein Ampullenträger mit Succinylcholin (Muskelrelaxans), Atracurium (Muskelrelaxans) und Oxytocin (zur Wehenförderung). Im Rahmen der morgendlichen Kontrolle fiel der Anästhesiepflegeperson auf, dass anstelle des Oxytocins Adrenalin-Ampullen in dem Träger lagen. Da das Anästhesiepersonal im Kreißsaal im Notfall schnell auf dieses Depot zugreift, wäre eine schwerwiegende Medikamentenverwechslung – Adrenalin statt Oxytocin – denkbar gewesen. Die Ampullen sehen sich äußerlich sehr ähnlich: gleiche Größe und fast identisches weißes Etikett.
Dies sind sogenannte Look-alike-Ereignisse, bei denen eine Ampulle oder Infusionsflasche vor allem anhand des Aussehens ausgewählt und das Etikett nicht vollständig gelesen wird. Diese Verwechslungen können bei der Lagerung, Vorbereitung und Gabe von Medikamenten auftreten. In einem eigens dafür eingerichteten Internet-System können diese Verwechslungsfälle gemeldet werden: www.adka-dokupik.de > Berichte > Sound-Alike/Look-Alike
Verwechslung bei der Verabreichung von Medikamenten: Eine Perfusorleitung zum Periduralkatheter wurde fälschlicherweise am zentralen Venenkatheter angeschlossen und das Lokalanästhetikum Ropivacain wäre beinahe intravenös verabreicht worden.
Ähnliche Verwechslungen werden im Netzwerk CIRS-Berlin und in anderen Berichtssystemen immer wieder gemeldet. Gerade diese Fehlverbindungen an liegenden Kathetern stellen ein großes Risiko dar, da zum einen die Verbindungsstücke zueinander passen, also kompatibel sind, und andererseits Medikamente auf diese Weise in Blutgefäße gelangen, die im Kreislaufsystem schnell hochgefährlich bis sogar tödlich werden können.
Die Gründe, die zu den berichteten Ereignissen geführt haben, lagen überwiegend in menschlichem Versagen. Häufig handelte es sich um Missverständnisse, Verwechslungen und falsche Annahmen, nicht erfragte oder übergebene Informationen sowie „Abkürzungen“, indem Prüfschritte ausgelassen oder vergessen wurden. Zur Fehlerquelle des menschlichen Versagens gehören auch Probleme, die vor allem bei der Zubereitung und Verabreichung der Medikamente entstehen und bei denen Verpackungs- und Etikettierungsfragen eine wichtige Rolle spielen. Zudem trugen Rahmenbedingungen und Arbeitsplatzfaktoren wie Zeitdruck, Personalbesetzung, Lichtverhältnisse und häufige Ablenkungen oft zum Entstehen dieser unerwünschten Ereignisse bei.
Selten wird dagegen ein individueller, etwa ein allein auf unzureichenden Kenntnissen zurückzuführender Fehler berichtet. Menschliches Versagen tritt immer unter Bedingungen auf, die dieses Versagen auch möglich macht oder nicht verhindert. 
Um also einem Missverständnis vorzubeugen: Da menschliches Versagen die relevanteste Ursache für Schäden in der Medizin, aber auch der Luftfahrt und Atomindustrie ist, wird angenommen, dass Sicherheit vor allem durch das Training richtigen Verhaltens und die Anweisung sicherer Prozesse zu erreichen sei. Das Gegenteil ist allerdings der Fall: Schulungen und Verfahrensanweisungen sind eher schwache Maßnahmen, um Fehler und Schäden zu vermeiden. Viel stärker im Sinne der Fehlervermeidung sind Maßnahmen, die sich auf das Gesamtsystem beziehen und insbesondere Arbeitsplatz, Technik und Organisation berücksichtigen.

Welche Lösungen sind denkbar?

Mit den mittels CIRS identifizierten Problemfeldern haben Krankenhäuser die Möglichkeit, zu prüfen, ob bestimmte Risiken bei ihnen bestehen, wie sie den Risiken begegnen und wie sie Maßnahmen zur Risikoreduktion umsetzen können.
Elektronische Verordnungssysteme helfen, menschliche Fehler beim Schreiben oder Übertragen zu verhindern, beim Verordnen automatisch auf bekannte Arzneimittelallergien hinzuweisen oder bei der Dosisberechnung zu unterstützen.
Die Vor- und Zubereitung von Medikamenten wird mancherorts von der Station in die Apotheke oder in Bereiche verlagert, die vor ständiger Ablenkung und Unterbrechung geschützt sind. So gibt es so genannte Unit-Dose-Versorgungssysteme, bei denen die Mitarbeiter der Krankenhausapotheke die oralen Medikamente für jeden Patienten einzeln abpacken beziehungsweise maschinell verblistern. In anderen Häusern wird das Stellen der täglichen Medikation von Pflegepersonen übernommen, die nicht einer Tagesschicht zugeordnet sind und auch keine Bereichskleidung tragen. Dies soll verhindern, dass sie zusätzlich zum Stellen der Medikamente Aufgaben des Früh- oder Spätdienstes übernehmen.
Einheitliche Etiketten an Spritzen und Perfusoren können dazu beitragen, gravierende Verwechslungen zu vermeiden. Hierzu existiert eine hilfreiche Empfehlung zur Kennzeichnung von Spritzen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) (4).
Eine hausinterne Vereinheitlichung der Therapie-Dokumentation, etwa hinsichtlich der Schreibweise von Verordnungen oder des Dokumentationsorts der Bedarfsmedikation, können versehentlich doppelte Gaben und ähnliche Ereignisse vermeiden.
Die konsequente aktive Identifikation des Patienten vor jeder Verabreichung eines Medikaments („Bitte nennen Sie mir Ihren Vor- und Zunamen sowie Ihr Geburtsdatum“) erhöht die Sicherheit, dass der richtige Patient das Medikament erhält.
Vier-Augen-Prinzip: Die unabhängige Prüfung durch eine zweite Person, bevor ein Medikament verabreicht wird, reduziert ebenfalls Medikationsfehler.
Die prüfende Rückfrage, etwa bei mündlichen Anordnungen von Medikamenten („Ich soll Patient XY jetzt fünf Milligramm des Medikaments als intravenöse Injektion geben. Ist das korrekt?“) kann auch zur Sicherheit beitragen.
Nicht alle sinnvollen Maßnahmen liegen allein im Verantwortungsbereich der Krankenhäuser; auch die Hersteller von Arzneimitteln sind gefragt. Im Umgang mit der Problematik ähnlicher Namen und ähnlichen Aussehens von Pharmaprodukten gibt es international unterschiedliche Ansätze: Die einen empfehlen, Arzneiverpackungen durch verschiedene Farben und andere Gestaltungsmittel weniger leicht verwechselbar zu machen. Die anderen propagieren eine einheitliche Gestaltung, die zum Lesen aller Informationen zwingt. Im Rahmen des Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) der Bundesregierung sollen bis 2019 „Leitlinien zur Verbesserung der AMTS durch geeignete Packmittelgestaltung“ erarbeitet werden.
Fazit: Mithilfe eines einrichtungsübergreifenden CIRS kann das Wissen über die Entstehung und die Vermeidung von Fehlern in der Arzneitherapie geteilt und verbreitet werden. Dazu müssen sie allerdings auch berichtet werden – am besten zuerst intern im Krankenhaus, um dann an externe Systeme weitergeleitet zu werden. Man muss nicht jeden Fehler selbst machen, um aus ihm zu lernen.

Download-Tipp

Die Checkliste „Arzneimitteltherapiesicherheit im Krankenhaus“ des Aktionsbündnisses Patientensicherheit gibt Tipps

(1) Ferrah N, Lovell JJ, Ibrahim JE. Systematic review of the prevalence of medication errors resulting in hospitalization and death of nursing home residents. J Am Geraitr Soc 2016; doi 10.1111/jgs.14683
(2) Stausberg J, Hasford J. Drug-related admissions and hospital-acquired adverse drug events in Germany: a longitudinal analysis from 2003 to 2007 of ICD-10-coded routine data. BMC Health Serv Res 2011; 11: 134
(3) Aly F. Definitionen zu Pharmakovigilanz und Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS). Arzneiverordnung in der Praxis 2015 (Themenheft Arzneimitteltherapiesicherheit); 42: 99–104
(4) Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI): Empfehlung zur Kennzeichnung von Spritzen in der Intensiv- und Notfallmedizin. www.divi.de/empfehlungen/empfehlung-zur-kennzeichnung-von-spritzen.html, Abruf: 10.3.2017

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