Im Rahmen des Internationalen Studienganges für Pflegeleitung an der Hochschule Bremen verbrachte ich ein Auslandssemester an der Glasgow Caledonian University in Schottland. Ich belegte unter anderem die Lehrveranstaltung Pflegeforschung, die dort einen Schwerpunkt darstellt (siehe dazu den Beitrag von Prof. Dr. Monika Habermann in dieser Ausgabe). Um dem Ziel, Forschungsergebnisse in die Praxis zu transferieren, näher zu kommen, lohnt sich ein Blick nach Großbritannien.
Das Modul Pflegeforschung
Das Modul „Research Methods in Health Care" vermittelt einen weit gespannten Überblick über Forschung im Bereich des Gesundheitswesens mit speziellem Blick auf die Pflegeforschung. Im Mittelpunkt stehen die Methoden der empirischen Sozialforschung.
Ziel des Moduls ist es, das bereits in der schottischen Pflegegrundausbildung erlangte Wissen zu vertiefen. Durch die geschulte kritische Analyse von Forschungsartikeln sollen spezielle Kompetenzen entwickelt werden, um Probleme im Gesundheitswesen besser identifizieren und beurteilen zu können (School of Nursing, Midwifery and Community Health – NMCH 2003). Darüber hinaus soll die Fähigkeit, Forschungswissen in der Praxis besser anwenden zu können, ausgebaut werden. Es geht hier insbesondere darum, Forschungsergebnisse kritisch würdigen und ihre Relevanz für die tägliche Praxis beurteilen zu können.
Mit diesen Zielsetzungen werden unter anderem verschiedene methodologische und methodische Forschungsansätze dargestellt, der Ablauf von Pflegeforschungsarbeiten von der Ideenfindung bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse aufgezeigt sowie deskriptive und analytische Auswertungsmethoden diskutiert (NMCH 2003).
Die Studenten werden zum einen in Form von Seminaren, zum anderen in Form von Gruppenarbeiten an die Inhalte des Moduls herangeführt. In Kleingruppen werden beispielsweise anhand einer selbstgewählten praxisrelevanten Fragestellung Forschungsartikel kritisiert, um so zu einer Beantwortung dieser Frage zu kommen. Durch die praktische Anwendung soll der Prozess einer Literaturrecherche zu einer bestimmten Fragestellung und die kritische Analyse von Forschungsartikeln erlernt werden (NMCH 2003).
Ich empfand das Modul als gute Ergänzung zu der an der Hochschule Bremen im Grundstudium durchgeführten Seminarreihe „Pflegeforschung I–III". Hier bestand der Abschluss im Anfertigen einer kleinen Forschungsarbeit.
Durch die Forschungsseminare in Deutschland und Schottland denke ich, ein umfassendes Bild des Gebietes der Gesundheits- und Sozialforschung – vor allem im Bezug auf Pflegeforschung – bekommen zu haben.
Von Grau zu Bunt: Wird das Ziel erreicht?
Ein zentrales Ziel des schottischen Pflegeforschungsmoduls ist, dass die Studenten Forschungsergebnisse besser verstehen, aber auch in die Praxis umsetzen können (NMCH 2003). Es stellten sich mir die Fragen:
– In welcher Weise gehen Pflegende in Schottland in der täglichen Praxis mit Pflegeforschung um?
– Welche Schwierigkeiten treten dabei auf?
– Wie kann man Pflegende darin unterstützen, diese Schwierigkeiten zu überwinden?
Auch in Deutschland bewegen uns diese Fragestellungen. Einerseits wird in der Alten- und Krankenpflegeausbildung eine stärkere Verflechtung von Theorie und Praxis angestrebt, andererseits beklagen Pflegende häufig, über zu wenig Kompetenz zu verfügen, um eigenständig wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis implementieren zu können (Bundesrepublik Deutschland – BRD 2003a; BRD 2003b; Panfil und Wurster 2001). In Bezug auf den Theorie-Praxis-Transfer von Pflegeforschungswissen und die Unterstützung von Pflegenden hierin, können wir vielleicht aus den in Schottland gewonnenen Erkenntnissen lernen.
Krankenpflegeschüler/innen in Großbritannien absolvierten schon in den 1990er Jahren während der dreijährigen Grundausbildung (Abschluss: Diploma of Higher Education) 30 Unterrichtsstunden und während eines Degree-Studienganges (Abschluss: Bachelor) 225 Unterrichtsstunden Pflegeforschung (Wendt 1995). Im Vergleich dazu weist die deutsche Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege den Unterrichtsumfang in Pflegeforschung nicht speziell aus. Pflegeforschung fällt in den Bereich „Kenntnisse der Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sowie der Pflege- und Gesundheitswissenschaften"; für das Gesamtgebiet werden 950 Unterrichtsstunden veranschlagt (BRD 2003a, S. 2270).
Auch in der Altenpflegeausbildung wird keine genaue Stundenzahl genannt; hier fällt Pflegeforschung in den mit 80 Unterrichtsstunden veranschlagten Bereich der theoretischen Grundlagen für das altenpflegerische Handeln (BRD 2003b).
Trotz der teilweise relativ umfangreichen Pflegeforschungsausbildung in Schottland hat das Krankenpflegepersonal eine deutliche Hemmschwelle, sich mit Pflegeforschung zu befassen, und es bestehen Schwierigkeiten, Forschungserkenntnisse in die Praxis umzusetzen (Veeramah 2004, Walsh 1997, Rodgers 2000). Zwar halten die meisten Pflegenden Pflegeforschung für wichtig, jedoch gibt es viele Barrieren, Forschungswissen in die Pflegepraxiszu integrieren (Walsh 1997, Veeramah 2004, Parahoo et al. 2000, Rodgers 2000).
Stolpersteine
Zum Umgang mit Forschungserkenntnissen in der Pflegepraxis wurden zahlreiche Untersuchungen angestellt, deren Ergebnisse sich vielfach ergänzen. Folgende Probleme konnten identifiziert werden:
- Es wurde mehrfach festgestellt, dass heutzutage immer noch ein kleiner Prozentsatz des Krankenpflegepersonals Pflegeforschungswissen als irrelevant erachtet (Veeramah 2004, Parahoo et al. 2000).
- Bei der Suche nach Ursachen hierfür wurde festgestellt, dass die wissenschaftliche Fachsprache in Pflegeforschungsartikeln oft unverständlich ist (Walsh 1997, Veeramah 2004). Es besteht der Eindruck, dass viele Forschungsartikel für Wissenschaftler und nicht für Praktiker geschrieben sind; es wird sogar von zwei Subkulturen in der Pflege gesprochen: einerseits die Praktiker, andererseits die Wissenschaftler (Walsh 1997). Defizite bestehen vor allem im Verständnis von statistischen Auswertungsmethoden und Beschreibungen (Walsh 1997, Veeramah 2004).
- Es wird weiter häufig bemängelt, dass die Praxisrelevanz der erforschten Themen nicht eindeutig dargestellt werde. Auch wird die Überlegung angestellt, ob die Sicht der Forscher auf das Forschungsfeld praxisgerecht ist. In vielen Gebieten der Pflege lägen kaum Forschungsergebnisse vor, zum Beispiel in den Bereichen psychiatrische Pflege und Behindertenpflege; wohingegen in anderen Pflegebereichen, wie der allgemeinen Krankenpflege, ein Überangebot bestehe. So gäbe es beispielsweise mehrere Untersuchungen bezüglich der Pflege bei Inkontinenz oder der Prävention und Pflege von Dekubitalulcera (Veeramah 2004, Parahoo et al. 2000, Rodgers 2000).
- Hinzu kommt, dass heutzutage immer noch wenig finanzielle Mittel für Pflegeforschung aufgewendet werden, im Unterschied zur medizinischen Forschung, der im Allgemeinen mehr Förderungsmittel gewährt werden (Walsh 1997, Rodgers 2000). Pflegeforschung mit entsprechend großen Fallzahlen und komplexem Forschungsaufbau kann somit nur sehr begrenzt durchgeführt werden.
- Zudem neigen Pflegende in Schottland dazu, sich eher mit Forschungsergebnissen bezüglich Innovationen in der Pflege zu beschäftigen. Forschungsergebnisse zu in der Praxis bereits bewährten pflegerischen Tätigkeiten werden eher weniger beachtet (Rodgers 2000).
- Die Untersuchungen haben auch gezeigt, dass während der Berufsausübung zu wenig Zeit besteht, sich mit Forschungsergebnissen auseinander zu setzen. In der Freizeit fehlt vielen Mitarbeitern zum Teil die Motivation, sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beschäftigen (Walsh 1997, Veeramah 2004, Parahoo et al. 2000).
- Auch haben viele Pflegende nicht den Ansporn, Forschungserkenntnisse in die Praxis umzusetzen, da sie fürchten, nicht über die dazu nötigen Fähigkeiten zu verfügen oder die zum Teil ritualisierten Pflegeverrichtungen nicht verändern zu können. Die Sorge, dass Kollegen ihre Bemühungen nicht gutheißen oder verstehen und sie dadurch keinen kompetenten Gesprächspartner, somit auch keine Unterstützung finden, blockiert viele Pflegende in ihren Umsetzungsbemühungen (Veeramah 2004).
- Immer wieder stellen die Untersuchungen fest, dass die Pflegenden die Meinung vertreten, über zu wenig Autonomie und Autorität zu verfügen, um Forschungsergebnisse in ihrem Tätigkeitsbereich eigenständig zu implementieren (Walsh 1997, Veeramah 2004, Parahoo et al. 2000).
- Vielen Pflegenden fehlt der Zugang zu Fachartikeln, wenn die Pflegeeinrichtung diese nicht zur Verfügung stellt. Oft besteht auch ungenügende Erfahrung hinsichtlich der Literatursuche. Vielfach wünschen die Pflegenden mehr Unterstützung von Vorgesetzten, sei es in Form von Bereitstellung von Fachliteratur oder in der Hilfestellung, Forschungserkenntnisse kritisch zu hinterfragen und umzusetzen (Walsh 1997, Veeramah 2004, Parahoo et al. 2000).
Neue Wege zum Ziel
Es gibt verschiedene Ansätze, Pflegepersonal in ihrem Umgang mit Pflegeforschung zu unterstützen. Beispielsweise wird Einrichtungen dazu geraten, ihren Mitarbeitern Fachliteratur wie Bücher, Zeitschriften und Zugang zu Datenbanken zur Verfügung zu stellen. Den Mitarbeitern sollte ein Arbeitsumfeld geschaffen werden, das sie dazu motiviert, Pflegeforschungserkenntnisse aktiv umzusetzen. Hier ist insbesondere das Management gefragt (Walsh 1997, Veeramah 2004).
Ähnliche Zielsetzungen verfolgt auch die Qualitätssicherung der Pflege in der Bundesrepublik. So stellt die Verfügbarkeit von Fachliteratur ein Prüfkriterium für die Qualität ambulanter Pflegedienste durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen dar (Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen – MDS 2000).
Ein anderer Ansatz in Schottland besteht darin, so genannte „Journal Clubs" in den Einrichtungen anzubieten. In einem solchen Projekt wurden von einer Praxisanleiterin verschiedene praxisrelevante Pflegeforschungsartikel ausgesucht und auf einem einstündigen Treffen besprochen, das einmal im Monat stattfand. Zunächst waren diese Treffen nur für Pflegeschüler bestimmt, aber es zeigte sich, dass auch viele examinierte Kräfte daran interessiert waren, teilzunehmen. Dadurch, dass passende Artikel im Vorfeld ausgesucht und in der Gruppe praxisnah analysiert und diskutiert wurden, nahm nicht nur das Verständnis für Forschungsarbeiten, sondern auch der fachliche Austausch zu. Die Pflegenden wurden motiviert, das Erlernte auch in die Praxis umzusetzen (Goodfellow 2004).
Darüber hinaus gibt es die „Nursing, Midwifery and Allied Health Professions Research Unit". Diese Einrichtung wird vom Land Schottland finanziert und hat die Aufgabe, praxisrelevante Pflegeforschung zu betreiben. Die Ergebnisse werden den Pflegenden in Form von Vorträgen und Workshops näher gebracht (Kinn 2004, Smith 1999).
Neue Wege – auch für Deutschland?
Die Probleme, Pflegeforschungserkenntnisse in die Praxis zu transferieren, sind in Deutschland ähnlich gelagert. Auch hier hapert es neben den nötigen Fähigkeiten, Forschungserkenntnisse zu verstehen, an den Rahmenbedingungen dafür (Panfil und Wurster 2001). In der Bundesrepublik gibt es ebenfalls Bemühungen, Pflegeforschungserkenntnisse besser in die Praxis zu integrieren.
In die deutsche Bildungslandschaft halten z. B. die oben erwähnten „Journal Clubs" Einzug, in denen problemorientiert gelernt wird (Hasseler 2004).
Es besteht die Hoffnung, dass akademisch ausgebildete Pflegepädagogen und -manager neue Impulse in die Praxis einbringen und die fachliche Fortbildung der Pflegenden bereichern. Heute schon profitiert die Praxis von der Theorie-Praxis-Vermittlung in den einzelnen Pflegestudiengängen; z. B. haben viele Managementstudiengänge ausgedehnte Projektphasen, in denen Studierende individuell erarbeitete Projekte und Konzepte zu den unterschiedlichsten Themen in der Praxiseinrichtung implementieren (Habermann 2004).
Ein weiters Beispiel für die angestrebte Theorie-Praxis-Verzahnung ist auch der neue Service „Rent a Student" der Universität Witten/Herdecke. Studierende der Universität geben als Dozenten Informationen rund um die Pflegewissenschaft und -forschung an Krankenpflegeschüler, Weiterbildungsteilnehmer usw. weiter (Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke 2004).
Das Ziel: angewandte Pflegeforschung
Das Ziel, Pflegeforschungswissen intensiver in die Praxis zu transferieren, kann nur erreicht werden, wenn Ergebnisse der Pflegeforschung in der täglichen Arbeitspraxis noch intensiver angewendet und von allen Pflegenden verstanden und unterstützt werden. Dazu muss die Ausbildung im Bereich der Pflegeforschung überdacht und gegebenenfalls angepasst werden. Bedeutsam ist die Unterstützung durch die einzelnen Pflegeeinrichtungen auf diesem Gebiet. Die gewünschte Theorie-Praxis-Verzahnung erfordert ein Arbeitsumfeld, das die Vermittlung von Ergebnissen der Pflegeforschung an Mitarbeiter in der Praxis und deren entsprechende Motivation zulässt.
Für Deutschland lohnt sich ein Blick nach Großbritannien. Mit Hilfe der Initiativen beider Länder könnte das Ziel, Forschungserkenntnisse besser in die Arbeitspraxis zu integrieren, näher rücken.
Die Literatur kann über die Autorin oder die Redaktion bezogen werden.
Barbara Napp ist Krankenschwester und studiert im fünften Semester im Internationalen Studiengang für Pflegeleitung an der Hochschule Bremen.
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