Nach wie vor ist es eines der größten und zugleich ungelösten Probleme in der Pflege: Seit langem und bis heute leidet die Profession unter dem massiven Stellenabbau der vergangenen Jahre. Die demografische Entwicklung, die in ihrer ganzen bedrohlichen Perspektive endlich in nahezu allen Köpfen angekommen zu sein scheint, hat letztlich nicht unerheblich dazu beigetragen, Bewegung in die Pflegepolitik zu bringen. Was in seligen Zeiten liberaler Ministeriumsführung nichts weiter waren als zweckdienliche Profilierungsversuche in eigener Sache mithilfe der Instrumentalisierung eines ganzen Berufsstandes, kann mittlerweile schon fast als Herzensanliegen der Verantwortlichen auf Bundes- und Landesbühne gesehen werden.
Mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zum 1. Januar 2017 werden Fakten geschaffen, die für sich genommen zunächst kaum einen Bestand haben werden. Zwangsläufig wird zu einer umfangreicheren und besseren Versorgung auch das gehören müssen, was von Beginn der gesetzlichen Planung an von vielen Seiten angemahnt und unlängst vom Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, nochmals über ein Positionspapier dringlich in die Diskussion gebracht wurde. „Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff erfordert (…) neue Konzepte für die Pflege – der höhere Personalaufwand, der damit in aller Regel einhergeht, ist zukünftig selbstverständlich auch in den Personalschlüsseln abzubilden. Im Klartext bedeutet das: Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff werden wir mehr Personal in unseren Pflegeheimen brauchen", schreibt Laumann.
Nicht nur in den Pflegeheimen, möchte man hinzufügen, ist doch die Personalnot in fast allen Krankenhäusern bundesweit nicht weniger groß. Deren allzu berechtigte Klagen sind allerdings weitaus weniger zu vernehmen. Die Pflegekräfte arbeiten am Limit – und leiden oftmals still, wie es scheint. Im Verständnis für diese Sparte hat die Pflegepolitik trotz der im Krankenhausstrukturgesetz ab 1. Januar 2016 zugesagten 660 Millionen Euro im Pflegestellen-Förderprogramm für die nächsten drei Jahre (hochgerechnet rund drei neue Planstellen pro Klinik), dem jährlichen Pflegezuschlag sowie der Einrichtung einer „Expertenkommission Pflegepersonal im Krankenhaus" offensichtlich einen ganz erheblichen Nachholbedarf.
Zur Erinnerung: Die Verabschiedung des Gesetzes hatte der Deutsche Pflegerat kommentiert: „Als Sofortmaßnahme für die Entlastung der professionellen Pflege und zur Sicherstellung der Patientensicherheit werden jährlich rund 2,5 Milliarden Euro an zusätzlichen Finanzmitteln für die Krankenhäuser benötigt." Die divergierenden Vorstellungen sind grabentief, in den Stellungnahmen der Pflegeverbände ist der resignierte Unterton unverkennbar. Das Trommeln der Altenpflegeverbände und deren Arbeitgeber jedenfalls ist erheblich deutlicher zu vernehmen. Gerade im Bereich der klinischen Pflege aber darf das bislang so gern praktizierte „Ach ja, da sind ja auch noch Pflegende!" nicht weitergehen.
Genau das aber ist dann doch zu befürchten. Selbst wenn es für viele Protagonisten der Szene noch Lichtjahre entfernt scheint – die ersten Vorläufer des Bundestagswahlkampfes 2017 werden uns, so zeigt es die Vielzahl der zurückliegenden Legislaturperioden, spätestens in acht Monaten erreichen. Damit wird im nächsten Jahr erfahrungsgemäß nicht mehr viel an Bewegung zu verzeichnen sein. Auch wenn es zu früh ist, über ein „Und danach?" zu spekulieren, hat zumindest Laumann in westfälisch-trockener Darstellung klar gemacht, was seine persönliche Agenda beinhaltet.
Vor Pressevertretern bestätigte der Bundesvorsitzende des CDU-Arbeitnehmerflügels CDA unlängst, sein politischer Weg führe ihn zwar nicht zurück nach Nordrhein-Westfalen, aber: „Für mich hat der Bundestag Priorität. Ich bin mit Herz und Seele Parlamentarier." Sein „größtes Vorhaben als Patienten- und Pflegebeauftragter" – die Pflegereform – und damit offensichtlich auch die Ära Laumann im BMG ist 2017 abgeschlossen. Hermann Gröhe, so er denn Chef im Amt bleiben sollte, wird einen pflegeorientierten Aktiven weniger in seinen Reihen haben. Nach weiteren wird er lange suchen müssen.
Die Bundesregierung zeigt es dennoch derzeit mit aller Deutlichkeit: Pflegepolitisch soll mit Macht noch in diesem Jahr zu Ende oder zumindest auf den „richtigen Weg" gebracht werden, was man sich vorgenommen hat. Das Arbeitsprogramm entspricht dabei wohl eher dem einer gesamten Legislatur, selbst wenn es sich da und dort lediglich um „eindringliche Empfehlungen" handeln dürfte: In den individuellen Pflegesatzverhandlungen für 2017 müssten die Partner der Selbstverwaltung in den Ländern neue, angemessene Personalschlüssel vereinbaren, denn, so Laumann, „Geld für mehr Leistungen – und damit auch für mehr Personal – ist vorhanden".
Über dessen Höhe ebenso wie über die von ihm geforderte Transparenz der Mittelverwendung hingegen dürfte es noch langatmige Diskussionen geben. Stärkere Heim-Kontrollen einschließlich der Veröffentlichung entsprechender Ergebnisse, ein neues Bewertungssystem für Pflegeeinrichtungen, ein fortgeführter Bürokratieabbau, nicht zuletzt das Reizthema Pflege-Ausbildungsreform, Attraktivitätssteigerung des Berufes, Imagepflege, verbesserte Arbeitsbedingungen – die Liste abzuarbeitender Aufgaben ließe sich fortführen.
Ein handfestes Konzept, geschweige denn ein zeitlicher Rahmenplan ist für all diese Fragestellungen hingegen nicht zu erkennen. Da werden viel eher immer dann die gewohnten Allgemeinplätze bemüht, wenn einmal parlamentarisch-oppositionelle Unruhe entsteht: „Die Bundesregierung baut in der Pflege auf qualifiziertes und motiviertes Personal." Die Regierung setze sich im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten für eine qualitativ und quantitativ belastbare Personalausstattung und eine Aufwertung der Pflegeberufe ein. Es würden zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Rahmenbedingungen für eine bessere Ausstattung der Einrichtungen mit Pflegepersonal weiter zu entwickeln, heißt es beispielsweise gewohnt wolkig in der Antwort der Regierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke.
Genannt werden unter anderem die Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive in der Altenpflege sowie die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns dort, die Modernisierung des Berufsbildes, die Verbesserung des Pflegealltags durch mehr zusätzliche Betreuungskräfte, der Bürokratieabbau, die Vermittlung von Pflegekräften aus dem Ausland und die Entwicklung und Erprobung eines Verfahrens zur Personalbemessung in der Pflege. So soll der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff künftig bei der Personalbemessung berücksichtigt werden. Dazu sei die Pflegeselbstverwaltung verpflichtet worden, bis zum 30. Juni 2020 ein wissenschaftlich fundiertes Personalbemessungsverfahren zu entwickeln und zu erproben, „aus dem sich Maßstäbe für die Personalausstattung von Pflegeeinrichtungen ableiten lassen". Dabei sei auch „der Zusammenhang zwischen der Qualität der Maßnahmen und der Gehaltsstruktur der Beschäftigten in den Blick zu nehmen". Mehr als bewundernd-ironisch „Eindrucksvoll!" lässt sich hier kaum kommentieren …
Es bleibt also alles beim Alten. Einzelne Schritte nach vorne hier, Ja-aber-Gemäkel da, Präsentation von großen (meist kleineren) Erfolgen dort, Forderungslisten von allen Seiten – Verhaltensforscher sind da versucht, von einer „Untugend der Ungeduld" zu sprechen. Denn leugnen lässt sich ja nicht, dass die Probleme bekannt sind, dass, je nach Platz an einer Schaltstelle, versucht wird, ihrer Herr zu werden. Der alte Stoßseufzer „Lieber Gott, gib mir Geduld – aber jetzt sofort!" ist so fehl am Platz wie der Altenpflege-Azubi auf der Intensivstation. Zu hoffen bleibt einfach, dass pflegepolitischen Aktivisten in der Profi- ebenso wie in der Ehrenamtlichen-Liga nicht vorzeitig die Luft des Engagements ausgeht. Alles andere wäre ja wenigstens ein wünschenswerter Trippel-Fortschritt.