• 01.10.2016
  • Forschung
Menschen mit Behinderung in Pflegeheimen

Inklusion ausgeschlossen?

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 10/2016

In den kommenden Jahren wird der Anteil älterer Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen erheblich zunehmen. Einrichtungen der stationären Langzeitpflege sind auf diese Klientel bislang jedoch kaum eingestellt. Dies steht dem Anspruch der Inklusion behinderter Menschen erheblich entgegen.



Das Ziel ist klar: Menschen mit Behinderung sollen gleichberechtigt an allen Lebensbereichen teilhaben. Dies hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) 2009 mit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung beschlossen. Insofern gilt es, Menschen mit Behinderung auch einen freien Zugang zu Einrichtungen der stationären Langzeitpflege zu ermöglichen und das dortige Personal entsprechend zu qualifizieren. Gesonderte Angebote sollen eine explizite Ausnahme darstellen (1).

Heterogene Heimstruktur

Der Anteil der Menschen mit einer oder mehreren Behinderungen nimmt hierzulande erheblich zu (2). 2013 lebten laut Statistischem Bundesamt rund 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland, was einem Anteil von 9,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung ausmacht. Im Vergleich zum Jahr 2011 stellt dieser Wert eine Zunahme von 3,6 Prozent dar. 54,2 Prozent aller schwerbehinderten Menschen waren 2013 65 Jahre und älter.

In den kommenden Jahren wird eine große Zahl an Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen das rentenfähige Alter erreichen. Damit wird aller Voraussicht nach der Bedarf an pflegerischer Unterstützung für diese Menschen steigen. Dennoch existieren in Deutschland bislang wenige spezialisierte Einrichtungen für diese Klientel. Dies verdeutlicht die nachfolgende Darstellung der Pflegeheimstruktur in Deutschland (Abb. 1).

Einrichtungen für pflegebedürftige Senioren, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und Einrichtungen für psychisch erkrankte Menschen existierten bislang parallel zueinander. 2011 gab es in Deutschland 12.169 Heime, wovon 11.569 Senioreneinrichtungen waren. Lediglich 259 Pflegeheime für Menschen mit Behinderung waren 2011 bundesweit in Betrieb, während im selben Jahr 341 Heime für psychisch Kranke gezählt wurden.

Bei der Verteilung der Heimarten nach der Art der Trägerschaft zeichnen sich deutliche Unterschiede ab. Behindertenheime befanden sich zum größten Teil (72 %) in freigemeinnütziger und zu einem Viertel in privater Trägerschaft, während der Anteil der Altenheime in privater Trägerschaft bei rund 40 Prozent lag. In beiden Heimarten ist der Anteil der öffentlich-rechtlichen Träger vergleichsweise gering. Lediglich 5,0 Prozent der Altenheime gehörten dieser Form der Trägerschaft an, während dies für 3,0 Prozent der Behindertenheime galt.

Auch die durchschnittliche Größe von Heimen variiert. Bundesweit haben Heime im Durchschnitt 69 Plätze. Pflegeheime für Menschen mit Behinderung lagen im bundesweiten Durchschnitt bei einer Größe von 39 Plätzen je Einrichtung.

Die unterschiedlichen Heimarten weisen auch hinsichtlich der Bewohnerstruktur ein heterogenes Bild auf: Das Durchschnittsalter der Bewohner in Altenheimen beträgt 82,4 Jahre und in Behindertenheimen 53,0 Jahre.

Während in Altenheimen 74,4 Prozent der Bewohner weiblich sind, beträgt dieser Wert bei den Behindertenheimen lediglich 50,3 Prozent.

Heimbewohner mit geistigen, körperlichen oder mehrfachen Behinderungen erfordern eine weitreichendere Betreuung. Bei Betrachtung der deutlich höheren Zahl an Vollkräften (VK) pro Bewohner in Behindertenheimen wird der intensivere Betreuungsanspruch in diesen Einrichtungen deutlich. 2011 belief sich die durchschnittliche Anzahl an VK je Bewohner in Behindertenheimen auf 0,83. Reguläre Altenheime weisen indes lediglich 0,60 VK je Heimbewohner auf.

Dieser intensivere Betreuungsanspruch schlägt sich auch in höheren Preisen der Behindertenheime nieder. Gemäß den Berechnungen für das Jahr 2011 beträgt der durchschnittliche Preis für Pflegeleistungen pro Pflegetag über die Pflegestufen 1 bis 3 zuzüglich der Kosten für Unterkunft und Verpflegung für reguläre Pflegeheime 76,3 Euro, während der Preis für Behindertenheime 86,1 Euro beträgt.

Unter den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sind zwischen den Bundesländern ebenfalls deutliche Unterschiede festzustellen – sowohl im Hinblick auf die Preise als auch im Hinblick auf weitere Charakteristika (Abb. 2): So weisen Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein (88,0 Euro), Niedersachsen, Hamburg und Bremen (83,0 Euro) geringere Abweichungen vom durchschnittlichen Preis auf, während dieser in Nordrhein-Westfalen mit 107,0 Euro am höchsten und mit 68,0 Euro in Mecklenburg-Vorpommern am geringsten ausfällt.

Große regionale Unterschiede lassen sich auch im Hinblick auf die Heimgröße feststellen. Die durchschnittliche Größe von Behindertenheimen beläuft sich im Saarland auf 142 Plätze. Das Bundesland mit den durchschnittlich zweitgrößten Heimen für Menschen mit Behinderung ist Mecklenburg-Vorpommern mit 55 Plätzen, während in Sachsen und Sachsen-Anhalt durchschnittlich 25 Heimplätze pro Behindertenheim angeboten werden.

Tatsächlich weisen Behindertenheime im Saarland gleichzeitig mit durchschnittlich 81,0 Prozent die geringste Auslastung auf. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass der kommende Anstieg von Menschen mit Behinderung im Alter von den Behindertenheimen im Saarland flexibel aufgenommen werden kann. Dagegen weisen Behindertenheime in Bundesländern mit durchschnittlich geringen Kapazitäten eine erwartungsgemäß hohe Auslastung auf, so beispielsweise in Thüringen, Brandenburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern mit einer Auslastung von durchschnittlich 96,0 Prozent.

Engpass zu vermuten

Auch wenn gesicherte empirische Befunde und breite Praxiserfahrungen hinsichtlich der Inklusion von Menschen mit Behinderung in Pflegeheimen nicht vorliegen, zeigen die Statistiken, dass aufgrund des ohnehin schon zu erwartenden Anstiegs von älteren Menschen mit und ohne Behinderung ein Engpass in der Versorgung in Pflegeheimen vermutet werden kann.Die in diesem Artikel aufgezeigten Unterschiede in den Heimcharakteristiken von Alten- und Behindertenheimen zeigen eindeutig, dass die derzeitige Pflegelandschaft nur wenig auf die Bedarfe von Menschen mit Behinderung eingestellt ist.Vor diesem Hintergrund ist die angestrebte Inklusion von Menschen mit Behinderung in „klassischen" Altenheimen fragwürdig, da sowohl Kapazitäten als auch Praxiskonzepte fehlen.In diesem Artikel konnte zwar gezeigt werden, dass die unterschiedlichen Heimarten immense Differenzen in der Höhe der Betreuungskosten aufweisen. Ungeklärt bleibt allerdings, welche Folgen die Inklusion von Menschen mit Behinderung in „klassischen" Altenheimen auf deren Preisstruktur hätte.Aufgrund unterschiedlicher individueller und spezieller Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen können notwendige Anpassungen in den Einrichtungen zu höheren Fixkosten führen und somit auch die Betreuungskosten allgemein erhöhen.Weitere Anpassungen werden zudem in der Personalstruktur in den betreffenden Altenheimen notwendig sein. Vorhandenes Personal müsste in der Kommunikation sowie in der speziellen Pflege von Menschen mit Behinderung geschult werden. Ferner bedürfe es der Einstellung von weiteren Fachkräften.Aufgrund fehlender umfassender Erfahrungen bei der Inklusion in Pflegeheimen kann nicht bestimmt werden, inwiefern sich die Umsetzung der Inklusion behinderter Menschen auf die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse der Heimbewohner auswirkt. Es ist anzunehmen, dass diese Frage situationsspezifisch von Heim zu Heim variiert. Daher werden diesbezüglich künftige Erfahrungsberichte aus der praktischen Umsetzung sowie quantitative und qualitative Studien Aufschluss liefern müssen.Zweifelsfrei werden infolge des demografischen Wandels und des medizinisch-technischen Fortschritts immer mehr Menschen mit Behinderung ein hohes Alter erreichen, wodurch die Nachfrage nach stationärer Pflege steigen wird. Dass diese Bevölkerungsgruppe dank der Behindertenrechtskonvention das Recht hat, auch im Alter ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist ohne Zweifel zu begrüßen.Dieser Artikel zeigt jedoch auf, dass es angesichts der derzeitigen Situation fragwürdig bleibt, inwiefern die angestrebte großflächige Umsetzung der Inklusion in Pflegeheimen realisierbar ist.


(1) Landschaftsverband Westfalen-Lippe (2011): Herausforderung Menschen mit Behinderung im Alter. www.lwl.org/@@afiles/28598232/arbeitsmaterial.pdf, Abruf: 22.4.2015
(2) Berlin-Institut (2009): Alt und behindert. Wie sich der demografische Wandel auf das Leben Menschen mit Behinderung auswirkt. www.berlin-institut.org/fileadmin/user_ upload/Alt_behindert/Alt_und_behindert_online.pdf, Abruf: 2.1.2014
(3) FDZ der Länder – Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter des Bundes und Länder (2011): Nutzung von Mikrodaten der Pflegestatistiken 2011, Projektnummer 2237–2013

Das Autorenteam: Prof. Dr. Magdalena Stroka-Wetsch, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung; Prof. Dr. Boris Augurzky, Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), Essen; Adam Przylog, Lehrstuhl für Empirische Wirtschaftsforschung, Ruhr-Universität Bochum

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