Die Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg bietet ab sofort den primärqualifizierenden Bachelor-Studiengang „Evidenzbasierte Pflege" an. Prof. Dr. Gabriele Meyer und Dr. Gertrud Ayerle verraten im Interview, was es mit dem bundesweit bisher einzigartigen Modellstudiengang auf sich hat.
Frau Professorin Meyer, Sie bieten als erste Universität in Deutschland den neuen primärqualifizierenden Bachelor-Studiengang „Evidenzbasierte Pflege" an. Wie ist es dazu gekommen?
Meyer: Die Überlegung für diesen Studiengang war naheliegend. Zum einen ist die Universitätsmedizin der richtige Ort für ein Bachelorprogramm, das Ausbildung und Studium sowie die Übernahme heilkundlicher Tätigkeiten aus einer Hand anbietet. Zum anderen ist das German Center for Evidence-based Nursing seit Jahren an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angesiedelt. Insofern ist es folgerichtig, einen Studiengang mit dem Titel „Evidenzbasierte Pflege" anzubieten. Der neue Studiengang löst unser jetziges Bachelorprogramm Gesundheits- und Pflegewissenschaft ab, das dual berufsintegrierend war. Der Wissenschaftsrat hat diese Weiterentwicklung an unserem Standort empfohlen.
Frau Dr. Ayerle, der Studiengang wird erstmalig für die Übernahme heilkundlicher Tätigkeiten bei Diabetes-Patienten und bei chronischen Wunden qualifizieren, also die erweiterten Kompetenzen nach Paragraf 63, Absatz 3 c des fünften Sozialgesetzbuchs vermitteln. Wie wird das konkret aussehen?
Ayerle: Die heilkundlichen Tätigkeiten werden durch die ärztlichen Kollegen gelehrt, praktisch vermittelt und geprüft. Die Module sind ins Curriculum integriert und nach Erlangen der notwendigen Grundlagen im fortgeschrittenen Studienabschnitt angesiedelt. Diesen zwei Bereichen heilkundlicher Tätigkeiten liegen gesundheitliche Versorgungsfragstellungen mit hoher Prävalenz im höheren Lebensalter zugrunde. Es sind Bereiche der chronischen Krankenversorgung, die sich besonders eignen für die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf dafür qualifizierte Pflegende.
Sehen Sie hier auch die späteren Einsatzbereiche für die Absolventen?
Ayerle: Das Universitätsklinikum Halle hat bereits berufliche Rollen für Bachelorabsolventen in der Pflege definiert. Hier sehen wir auch die Absolventen des neuen Studiengangs „Evidenzbasierte Pflege" in der klinischen Versorgung verortet. Was können weitere Einsatzbereiche sein? Meyer: Die ambulante Versorgung ist künftig natürlich auch ein sinnvoller Einsatzbereich. In einem strukturschwachen Bundesland wie Sachsen-Anhalt, das absehbare Schwierigkeiten haben wird, eine ausreichende ärztliche Versorgung zu gewährleisten, ist die kompetente heilkundliche Versorgung von chronisch kranken Menschen durch Pflegende ein wertvoller Beitrag, um die Gesundheitsversorgung einer überdurchschnittlich alten Bevölkerung zu gewährleisten.
Wie ist der Studiengang konzeptionell geplant?
Ayerle: Der Studiengang dauert acht Semester und umfasst 180 Leistungspunkte. Am Ende werden beide Berufsabschlüsse erlangt – der Bachelorabschluss inklusive der Berufsbezeichnung Gesundheits- und Krankheitspfleger beziehungsweise Gesundheits- und Krankenpflegerin sowie die Erlaubnis, heilkundliche Tätigkeiten auszuüben.
Wie ist das Curriculum aufgebaut?
Ayerle: Das Curriculum berücksichtigt alle Vorgaben des Krankenpflegegesetzes und der bisherigen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung. In den ersten vier Semestern werden die Grundlagen der Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie und Pflege in vier großen Themenfeldern vermittelt. Darauf bauen die nachfolgenden Semester mit komplexen Pflegesituationen auf, wobei der Anspruch an die Kompetenzen, die die Studierenden erwerben, zunehmend steigt und umfangreicher wird. Von Anfang an wird die Pflege als eine ganzheitliche und Individuum-orientierte Versorgung der Patienten verstanden. Pflege und Medizin wird durchgehend auf akademischem Niveau vermittelt und die relevanten wissenschaftliche Befunde zunehmend erarbeitet. Parallel zu den Pflegemodulen werden unter anderem Module zur Evidenzbasierung, zum Sozialrecht, zur Ethik sowie zu Geistes- und Sozialwissenschaften angeboten. Von Anfang an haben die Studierenden praktische Einsätze, wobei ein Zehntel davon angeleitete Praxis sein wird. Teile des Studiums sollen in gemeinsamen Lehrveranstaltungen mit Studierenden der Humanmedizin vermittelt werden.
Welche Fächer betrifft das?
Ayerle: Die gemeinsamen Lehrveranstaltungen umfassen naturgemäß nicht vollständige Module, sondern Lernsituationen, die die Praxis widerspiegeln. Dafür eignen sich Versorgungssituationen, in welchen die multiprofessionelle Teamarbeit besonders kritisch für das Outcome einer Versorgungssituation ist. Das ist zum Beispiel die Notfallversorgung. Weitere Lehrveranstaltungen sind die Lehre und Blockpraktika zu den heilkundlichen Tätigkeiten bei Diabetes Typ 2 und bei chronischen Wunden. Der Studiengang ist bundesweit einzigartig, die Universitätsmedizin Halle ist die bisher erste und einzige, die einen Antrag für einen solchen primärqualifizierenden Studiengang beim Bundesministerium für Gesundheit gestellt hat.
War es schwierig, die Genehmigung für den Modellstudiengang zu erhalten?
Meyer: Schwierig nicht, aber langwierig. Obwohl es recht bald nach Antragstellung positive Signale gab, ließ die qualifizierte Beurteilung viele Monate auf sich warten. Dies ist sicher dem Umstand geschuldet, dass nach Inkrafttreten der gesetzlichen Grundlage im Jahr 2008 und der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses in 2012 sich bislang noch kein Standort aufgemacht hatte, ein Angebot zu beantragen. Die Zusammenarbeit mit der AOK Sachsen-Anhalt war in der Planung des Studienganges wegweisend. Sie unterstützt den Studiengang und hat eine Vereinbarung mit der Fakultät und dem Universitätsklinikum Halle geschlossen.
Könnten andere Universitäten jetzt einfach folgen?
Meyer: Möglicherweise. Für die universitätsmedizinischen Standorte in Deutschland sind dies aussichtreiche Programme. Aber auch nur dort, da Heilkunde in die akademische Ausbildung verflochten sein und in einem integrativen Angebot von den am Haus tätigen Lehrenden und Experten angeboten werden sollte. Das Pflegeberufereformgesetz wird nochmals Dynamik in die Konzeption neuer Studienprogramme der Pflege bringen. Und auch wir werden dann unsere Ausbildungsinhalte an die Anforderungen einer gemeinsamen Ausbildung der drei Pflegeberufe anpassen müssen. Die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat somit eine Vorreiterrolle. Künftig soll eine Fachkommission Module der Übertragung heilkundlicher Tätigkeiten verbindlich definieren. Der Studiengang „Evidenzbasierte Pflege" kann somit ein Referenzprojekt darstellen.
Eine evidenzbasierte Pflege steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Möchten Sie mit diesem Studiengang die Entwicklung forcieren?
Meyer: Auf jeden Fall bietet sich hier die sehr gute Chance, evidenzbasierte Pflege in die klinisch-pflegerische Versorgung zu übertragen. Genau diese Positionen fehlen in Deutschland bisher: gut und mit wissenschaftlichem Sachverstand ausgebildete Pflegende, die in der Lage sind, praktische Versorgungsfragen zu identifizieren und mit wissenschaftlichen Methoden zu durchdringen, Lösungen vorzuschlagen und durchzusetzen.

Prof. Dr. Gabriele Meyer leitet das Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Dr. Gertrud Ayerle ist Beauftragte für den European Master of Science in Midwifery an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und hat das Curriculum für den neuen Studiengang maßgeblich entwickelt