Die Entbürokratisierung in der Altenpflege kommt nach Ansicht des Pflegebeauftragten zügig voran. Er will nun die Dokumentationspflichten der Krankenhäuser verschlanken. Doch das dürfte eine noch größere Herausforderung werden.
Knapp 40 Prozent aller stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen nutzen aktuell das vereinfachte Dokumentationssystem, das von der ehemaligen Ombudsfrau zur Entbürokratisierung in der Pflege, Elisabeth Beikirch, im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums ab Mitte 2011 entwickelt worden war. In konkreten Zahlen ausgedrückt waren dies Mitte Juli rund 5.200 Pflegeheime und 4.600 ambulante Dienste. „Das wohl größte Entbürokratisierungsprojekt in der Geschichte der Pflegeversicherung ist ein voller Erfolg", sagte der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), Anfang August stolz im Rahmen einer Pressekonferenz in Berlin, die über den Stand der Entbürokratisierung informierte.
"Eine neue Denke etabliert"
Zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2013 hätten die Pflegenden in Heimen und ambulanten Diensten noch den Eindruck gehabt, für die Prüfdienste zu dokumentieren, so Laumann. Deshalb habe er 2014 alle Medizinischen Dienste der Krankenkasse in den Bundesländern besucht. Diese hätten vom neuen Strukturmodell, das Beikirch entwickelt hatte, überzeugt werden können. „Damit war die Bahn frei für die Umsetzung. Es ist gelungen, eine neue Denke der Pflegedokumentation in Deutschland zu etablieren", ist der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium überzeugt und appelliert an die noch ausstehenden 60 Prozent der Häuser: „Diejenigen, die noch zurückhaltend sind, sollten nicht zu lange warten."
Denn: Dem CDU-Sozialpolitiker zufolge bleibt mit dem neuen Dokumentationssystem mehr Zeit am Bett. Denn Pflegende müssten deutlich weniger dokumentieren, von 30 Prozent geringerem Schreibaufwand ist die Rede. Laumann sieht die Reform gar als Blaupause für das Gesundheitssystem. Die Schulen müssten daher rasch umstellen und die neue Dokumentationsart lehren.
Der politische Ansatz, wie die bisherige Umsetzung der neuen Pflegedokumentation erfolgt sei, könne zudem zum Vorbild werden. „So kann man auch andere Themen der Gesundheitspolitik angehen", sagte Laumann. Die enge Vernetzung der betroffenen Akteure sei eine zentrale Voraussetzung gewesen.
Erfahrungen in die Krankenhäuser tragen Trotz aller Euphorie: Einzelne Pflegeexperten kritisieren nach wie vor, dass im neuen Dokumentationssystem der seit Jahrzehnten etablierte sechsstufige Pflegeprozess vier Stufen reduziert wurde. Damit drohe eine „völlige Intransparenz des pflegediagnostischen Prozesses", moniert etwa Pflegewissenschaftlerin Dr. Pia Wieteck. „Pflegediagnosen und -ziele sind künftig nicht mehr nachvollziehbar, sondern existieren nur noch in den Köpfen der Pflegenden. Zu befürchten sind deutliche Qualitätseinbußen und eine Diskontinuität in der pflegerischen Therapie und Versorgung." Carsten Drude, Vorsitzender des Bundesverbandes Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe (BLGS) und Leiter der Katholischen Schule für Gesundheits- und Pflegeberufe in Dortmund, plädiert dafür, trotz des verschlankten Strukturmodells weiterhin den „umfassenden Pflegeplan" zu lehren. „Denn nur so lernen unsere Schüler den gesamten Prozess einer Pflegeorganisation zu planen", so Drude. „Dennoch ist es richtig, dass wir schon in den Schulen die neue Denke der Pflegedokumentation lehren müssen; und dort, wo ich das überblicken kann, geschieht das auch." Drude unterstützt die Idee Laumanns, die Erfahrungen aus der Altenpflege in die Krankenhäuser zu tragen. Doch gerade hier ergäben sich Schwierigkeiten: „Die Menschen bleiben immer kürzer im Krankenhaus." Die neue Pflegedokumentation baue jedoch darauf auf, dass sie sich individuell am Patienten ausrichte. Dokumentiert werden sollen nur noch Unregelmäßigkeiten und Auffälligkeiten, aber nicht mehr das tägliche Waschen oder Anziehen, also mehr oder weniger die Tagesroutine. Doch im Krankenhaus gibt es aufgrund der kurzen Verweildauern kaum Routine in der Pflege, erklärt Drude.
Es bleibt noch viel Arbeit
Vor diesem Hintergrund sei es auch besonders wichtig, dass der Entwurf für das Pflegeberufsgesetz in seiner jetzigen Fassung eine Mehrheit in Bundestag und Bundesrat finde: „Das gegenseitige voneinander Lernen und Partizipieren ist ein weiteres Argument für die Zusammenführung der Pflegeausbildungen in Richtung Generalistik", erklärt Drude.
Für die Fachkräfte in der Altenpflege scheint die neue Dokumentation in vielen Einrichtungen positive Veränderungen zu bewirken. Aber klar ist: Es bleibt noch viel Arbeit. Das Strukturmodell muss dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff angepasst werden, der ab dem 1. Januar 2017 gilt. Außerdem soll noch in diesem Jahr im Rahmen eines Praxistests ein Konzept für eine vereinfachte Pflegedokumentation in den Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen erprobt werden. Dafür hätten sich, so der Pflegeauftragte, bereits 500 Einrichtungen angemeldet.
Und: 60 Prozent der Heime und ambulanten Einrichtungen arbeiten noch nicht mit dem neuen System.
Das neue Strukturmodell
Basis für das neue Verfahren sind vier Elemente des Strukturmodells:
- Strukturierte Informationssammlung (SIS),
- Maßnahmenplanung,
- Berichteblatt,
- Evaluation.
Probleme, Ressourcen und Ziele werden nicht mehr separat erfasst. Die Gliederung etwa in AEDL oder ATL entfällt. Ebenso entfällt eine separate Erhebung der Biografie und im stationären Bereich auch die Einzelleistungsnachweise für die Grundpflege.
Die Anwendung der SIS als Einstieg in den Pflegeprozess bedeutet dabei eine Konzentration auf die Perspektive der pflege‧bedürftigen Person sowie eine übersichtliche Erfassung der individuellen Situation auf Grundlage von sechs Themenfeldern:
- Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
- Mobilität und Beweglichkeit
- Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen
- Selbstversorgung
- Leben in sozialen Beziehungen
- Wohnen/Häuslichkeit.
Die Themenfelder orientieren sich am Neuen Begutachtungsassessment (NBA), der künftigen Systematik zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Hinzu kommt eine Matrix zur Risikoeinschätzung.
Die größte Änderung im Vergleich zur herkömmlichen Dokumentationspraxis ist die SIS, eine abschließende Ersteinschätzung. Auf dieser Grundlage erfolgt eine individuelle Maßnahmenplanung. Nur diese wird noch ständig aktualisiert und nicht mehr zusätzlich die Informationssammlung wie bisher üblich. Die SIS besteht aus der Kopfzeile, der Einstiegsfrage (Was bewegt Sie im Augenblick? Was brauchen Sie? Was können wir für Sie tun?), den Themenfeldern und der Risikomatrix.
Die Risikomatrix dient zu einer ersten Einschätzung, ob pflegerisch relevante Risiken bestehen. Wenn der pflegefach‧lichen Meinung nach kein Risiko besteht, sind keine weiteren Assessments nötig, um die Beurteilung zu untermauern. In der Matrix müssen Dekubitus-, Sturz-, Inkontinenz-, Schmerz- und Ernährungs‧risiko eingeschätzt werden.