• 01.06.2016
  • Management
RWI-Gutachten zur Personalsituation in der Pflege

Handlungsbedarf ja – akut nein

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 6/2016

Zu viele hochaufwendige Patienten, zu wenig Pflegefachkräfte – ist der Personalmangel in der Pflege so drängend, wie vielerorts beklagt? Ein aktuelles Gutachten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) kommt nun zu einem überraschenden Ergebnis. Es gibt aber noch lange keine Entwarnung.

Werden im Krankenhaus ausreichend Pflegekräfte eingesetzt? Sind die Patienten pflegerisch gut versorgt? Diese Fragen werden in der Öffentlichkeit derzeit intensiv diskutiert. Der Hintergrund: Die Einführung der Vergütung nach Fallpauschalen (DRG) könne die Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege verschlechtert, die Arbeitsbelastung erhöht, die Arbeitszufriedenheit gemindert und letztendlich die Versorgungsqualität und Patientenzufriedenheit reduziert haben.

Die Forderung, die damit meist einhergeht: Die Zahl der Pflegekräfte in Krankenhäusern sollte über gesetzliche Personalmindestanforderungen deutlich erhöht werden. Eine Erhöhung der Zahl der Pflegekräfte könne die Versorgungsqualität und Patientenzufriedenheit wieder verbessern.

Gutachten untersucht Personalsituation in der Pflege

Doch wie sieht die Realität in deutschen Kliniken tatsächlich aus? Wie hängt die Versorgungsqualität für die Patienten vom Personaleinsatz ab? Würde ein Mehr an Personal die Qualität spürbar erhöhen?

Ein aktuelles Gutachten des Rheinisch-Westfälisches Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) beschäftigt sich ausführlich mit der Personalsituation in deutschen Kliniken. Grundlage der Analysen bilden Makro- und Mikrodaten des Statistischen Bundesamts sowie andere Datenquellen. Das Gutachten thematisiert insbesondere folgende Fragen:

  • Wie kann die pflegerelevante Leistungsmenge definiert werden? Wie stark hängt die Zahl der Pflegekräfte von der Zahl der behandelten Patienten und der Zahl der Belegungstage ab? Dabei ist zu klären, welcher Pflegeaufwand „fallfix" und welcher „fallvariabel" ist.
  • Wie hat sich die pflegerelevante Leistungsmenge in den vergangenen Jahren und infolgedessen die Belastung der Pflege verändert?
  • Wie hängen Pflege und Versorgungsqualität für den Patienten zusammen? Lässt sich eine Verschlechterung in der medizinischen Qualität oder der Patientenzufriedenheit in den vergangenen Jahren erkennen? Wenn ja, kann dies an einer Reduktion der Pflege liegen?

Pflegeaufwand hat nicht erkennbar zugenommen

Zwischen 2002 und 2014 sank die Zahl der Pflegekräfte insgesamt um vier Prozent. Betrachtet man den Zeitraum von 2006 bis 2014 stieg sie um fünf Prozent.

Um einen möglicherweise wichtigen Trend im Bereich der Pflege nicht auszublenden, wählten wir als Startzeitpunkt der meisten Analysen das Jahr 2002. Um beurteilen zu können, ob sich die Arbeitsbelastung der Pflege seit 2002 verändert hat, sind die Kennzahlen „Pflegekräfte je Belegungstag" („fallvariabel") sowie „Pflegekräfte je Fall" („fallfix") von großer Bedeutung. Dabei wurde der Frage nachgegangen, welche Anteile der Arbeit fallfix sind, zum Beispiel Aufwand bei Aufnahme, nach einer Operation, bei der Entlassung, und welche fallvariabel sind, also von der Verweildauer im Krankenhaus abhängen.

In der Literatur finden sich durchschnittliche Werte von 40 Prozent fallfixem Aufwand. Eigene Analysen mit Mikrodaten auf Krankenhausebene deuten darauf hin, dass die Fallzahl mit einer Gewichtung von 60 Prozent einen etwas höheren Einfluss auf die Zahl der Pflegekräfte hat als die Verweildauer mit einer Gewichtung von 40 Prozent.

Wird die pflegerelevante Leistungsmenge über erstere Gewichtung dieser beiden Einflussfaktoren „Fallzahl" (40 %) und „Belegungstage" (60 %) definiert, ergibt sich, dass die Zahl der Pflegekräfte je pflegerelevanter Leistungsmenge zwischen 2002 bis 2014 um 1,0 Prozent gestiegen ist. Nimmt man hingegen an, dass 50 Prozent des Pflegeaufwands fallfix sind, ergibt sich eine Abnahme der Zahl der Pflegekräfte je pflegerelevanter Leistungsmenge um 1,3 Prozent. Unterstellt man, dass 60 Prozent fallfix und 40 Prozent fallvariabel sind, so ergibt sich ein Rückgang in der Zahl der Pflegekräfte je pflegerelevanter Leistungsmenge von 3,6 Prozent (Abb. 1). Die Änderungen fallen insgesamt also jeweils vergleichsweise klein aus. Insgesamt hängt der Pflegeaufwand aber auch noch von anderen Faktoren ab.    

Wovon hängt der Pflegeaufwand ab?

Beim Pflegeaufwand müssen unabhängig von fallfixem und fallvariablem Aufwand noch weitere Faktoren bedacht werden. Dazu gehören zum Beispiel die Fluktuation der Pflegekräfte, das Aufgabenspektrum der Pflege, der Grad der Digitalisierung, die Anforderungen an Patientensicherheit und Hygiene sowie Bürokratieanforderungen. Zu diesen möglichen Einflussfaktoren liegen allerdings keine belastbaren Daten über den Untersuchungszeitraum vor. In Gesprächen mit Experten wurde hervorgehoben, dass sich das Aufgabenspektrum des Pflegediensts stark gewandelt habe. Einige nicht-pflegerische Tätigkeiten, die Pflegekräfte 2002 noch übernommen hatten, wurden mittlerweile an Hilfskräfte, auch im nicht-medizinischen Bereich, delegiert. Beispiele sind Transportdienste und Essensausgabe. Die amtliche Statistik greift einen solchen Wandel nicht auf. Die Veränderung des Aufgabenspektrums der Pflege sowie eine zunehmende Digitalisierung könnten entlastend gewirkt haben. Umgekehrt dürften steigende Anforderungen an Patientensicherheit, Hygiene und Bürokratie belastend gewirkt haben.  

Auch kann ein höheres Alter der Patienten unabhängig von der Fallzahl und Verweildauer einen höheren Pflegebedarf auslösen. Allerdings ist zu vermuten, dass gerade bei älteren Patienten ein Teil der Pflege aus dem Krankenhaus in die häusliche Umgebung und in Pflegeheime verlagert wurde. So stieg der Anteil der von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanzierten ambulanten Pflege an den gesamten Gesundheitsausgaben besonders stark von 1,3 Prozent im Jahr 2002 auf 2,4 Prozent bis 2013. Zu beobachten ist außerdem eine starke Zunahme der Direktüberweisungen vom Krankenhaus in das Pflegeheim: 2002 waren es nur 48.000 Fälle, 2013 schon 339.000. Die Alterung der Bevölkerung kann diesen großen Anstieg alleine nicht erklären. Ferner hat die Kurzzeitpflege nach SGB XI weit überproportional zugenommen: zwischen 2003 und 2013 um 91 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Dauerpflege nur um 21 Prozent. All diese Veränderungen deuten darauf hin, dass es zu einer gewissen Verlagerung der Pflege aus dem Krankenhaus kam, was zu einer Entlastung der Pflege im Krankenhaus geführt haben könnte.

Arbeitszufriedenheit ist gesunken

Die Arbeitszufriedenheit in der Pflege scheint abgenommen zu haben. Zwischen 1998 und 2010 sank die Zufriedenheit mit dem Arbeitsklima und der Ausstattung mit Pflegepersonal. Es gibt jedoch große Unterschiede in der Unzufriedenheit mit der Arbeitssituation in deutschen Krankenhäusern. Grundsätzlich korreliert die Arbeitszufriedenheit positiv mit der Pflegepersonalausstattung.

Ferner ist ein leichter Anstieg im Krankenstand seit 2006 erkennbar – jedoch war er nicht pflegespezifisch und fiel in anderen Branchen ähnlich aus. Die Teilzeitquote in der Pflege hat ebenfalls zugenommen. Jedoch war auch dies keine pflegespezifische Entwicklung, sondern ist vergleichbar mit anderen Branchen – und auch mit dem ärztlichen Dienst. Der Anteil der Pflegenden mit Kündigungsabsicht in Deutschland lag im europäischen Durchschnitt.

Keine Qualitätsverschlechterung erkennbar

Ungeachtet der Veränderungen im Pflegedienst ist anhand von öffentlich verfügbaren Qualitätsinformationen keine Verschlechterung der Versorgungsqualität von Krankenhäusern in den vergangenen Jahren zu beobachten. Bei objektiven Qualitätsindikatoren ist sogar eine leichte Verbesserung festzustellen. Hierunter fallen Indikatoren nach der Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR), des AQUA-Instituts und dem BQS Institut für Qualität & Patientensicherheit.

Die durch Patienten empfundene, über Fragebögen gemessene Versorgungsqualität blieb konstant auf hohem Niveau. Die Dekubitusrate (Wundinfektionsrate) sank: 2004 wurden 1,5 Prozent der Patienten mit Dekubitus 1 bis 4 aus dem Krankenhaus entlassen – ohne dass ein Dekubitus bei der Aufnahme vorgelegen hatte. 2012 lag der Wert nur bei 0,9 Prozent. Auch sank der Anteil der Patienten mit postoperativer Wundinfektion.

Umfangreiche multivariate Regressionsanalysen auf Basis von Krankenhausdaten der Jahre 2002 bis 2013 des Statistischen Bundesamts mit einer gesamten Stichprobengröße von bis zu 20.000 konnten keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Zahl der eingesetzten Vollkräfte in der Pflege und der Mortalitätsrate nachweisen. Zwar ergab sich ein leicht negativer Zusammenhang, das heißt, ein Mehr an Pflegekräften hängt mit einer leicht niedrigeren Mortalitätsrate zusammen. Er war jedoch statistisch schwach und von der Größe des Effekts her nicht aussagekräftig: Eine Erhöhung der Zahl der Vollkräfte im Pflegedienst pro Fall um zehn Prozent korreliert mit einer Verringerung der Mortalitätsrate um nur 0,001 Prozentpunkte oder um 0,05 Prozent, wenn man die Verringerung der Mortalitätsrate zur durchschnittlichen Mortalitätsrate in der vorliegenden Stichprobe von 2,24 Prozent in Bezug setzt. Ebenso wenig konnte ein Zusammenhang zwischen der Menge an Pflegekräften und der Patientenzufriedenheit sowie Pflege und den QSR-Indikatoren nachgewiesen werden. Keine Aussage konnte auf Grundlage der Indikatoren von AQUA oder BQS getroffen werden, weil die Datenqualität und vor allem Datenverfügbarkeit für mehrere Jahre auf Krankenhausebene dazu nicht ausreichend war.

Bedarf an Pflegefachkräften wird stark wachsen

Derzeit kann auf Basis der vorliegenden Analysen kein akuter Handlungsbedarf in Bezug auf die Menge an Pflegedienst im Krankenhaus abgeleitet werden. Perspektivisch ist aber damit zu rechnen, dass der künftig wachsende Bedarf an Pflegefachkräften am Arbeitsmarkt nicht ohne weiteres gedeckt werden kann – zumal auch die Altenpflege einen massiven Mehrbedarf in der Zukunft aufweisen wird. Schon zwischen 2002 und 2013 ist die Zahl der Pflegefachkräfte in der Altenpflege um 43 Prozent gestiegen. Aufgrund der aktuellen und künftig steigenden Knappheit dürften Pflegestellenförderprogramme – wie im Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) vorgesehen – den wachsenden Bedarf an Pflegekräften nicht lindern können. Von Bedeutung sind vielmehr Maßnahmen, die darauf abzielen, dem Arbeitsmarkt kurz-, mittel- und langfristig mehr Pflegefachkräfte zur Verfügung zu stellen.

Dies kann erreicht werden mit einem Bündel an Maßnahmen: eine Reduktion der Teilzeitquote von Pflegekräften, eine Ausweitung der Ausbildungs- sowie Weiterbildungsaktivitäten zur Höherqualifikation von Hilfspersonal und eine Verlängerung der Verweildauer von Pflegekräften in ihrem Beruf. Dazu muss die Attraktivität des Pflegeberufs erhöht werden durch

  • eine höhere Vergütung, die sich über die Knappheit am Arbeitsmarkt einstellen wird,
  • eine größere Lohnspreizung, um Anreize zur Weiterbildung zu erhöhen und um die mittlere Führungsebene zu stärken,
  • Rückkehrangebote nach einer beruflichen Auszeit,
  • eine altersgerechte Arbeitsorganisation, um ältere Pflegekräfte zu halten und
  • neue Karrierepfade und Aufgabenfelder, um die berufliche Laufbahn interessanter zu machen. Hierzu gehört auch das Aufbrechen des Denkens in Berufsgruppen. Im Vordergrund muss vielmehr die patientenorientierte Gestaltung von Prozessen stehen.

Eine weitere Option besteht in der qualifizierten Zuwanderung. Hierbei geht es darum, den Standort Deutschland für qualifizierte Zuwanderer attraktiv zu gestalten. Dazu gehören beispielsweise rechtliche Aspekte, wie die Einstufung von Pflegeberufen als Engpassberufe, die Überarbeitung der Zuwanderungsregeln oder die Vereinfachung und Vereinheitlichung von Regeln zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse, aber auch die Unterstützung bei der Einwanderung, zum Beispiel Visabeschaffung, Sprachschulung, Unterstützung bei Wohnungssuche, Einschulung von Kindern. Gemäß einer aktuellen Studie hat es das Vereinigte Königreich in den Jahren 2001 bis 2004 geschafft, mithilfe aktiver Rekrutierungsmaßnahmen pro Jahr etwa 15.000 Pflegekräfte anzuwerben.

Ferner sind Maßnahmen zu ergreifen, um die Pflege von pflegefremden beziehungsweise pflegefernen Tätigkeiten zu entlasten. Eine wichtige Rolle wird dabei künftig der Ausbau der technischen Assistenz spielen, unterstützt durch die aufkommende Digitalisierung und technische Hilfen. Einen sehr großen Effekt auf den Personalbedarf würde generell die Reduktion der Zahl der stationären Patienten haben. Hierunter fallen Themen wie die sektorenübergreifende Versorgung, die Ambulantisierung von Leistungen, die bessere Organisation der Notfallversorgung, die bessere Steuerung der Patienten.

Schlechte Qualität sollte „abgestraft" warden

Insgesamt ist davon abzuraten, zusätzliche Vorgaben an Mindestbesetzungen in der Pflege zu schaffen. Sie würden den Fachkräftemangel noch erhöhen und können zu einer Fehlallokation knapper Fachkräfte führen. Sollte eine Unterbesetzung zu mangelhafter Qualität bei Krankenhausleistungen führen, sind stattdessen Maßnahmen zu empfehlen, die direkt an der Qualität für den Patienten ansetzen. Es ist dann die Aufgabe des Krankenhauses, diese durch eine dafür adäquate Kombination der Ressourcen Personal, Sachmittel und Kapital zu erreichen und aus den damit erzielten Erlösen zu finanzieren.

Zentrale Frage ist damit, welche Qualität – einschließlich der pflegerischen Betreuung – beim Patienten ankommt und wie stark der Beitragszahler durch die Erbringung dieser Qualität belastet wird, also wie die Kosten-Nutzen-Relation aussieht. Hierzu ist der weitere Ausbau der Qualitätstransparenz erforderlich.

Das Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) hat hierzu bereits entsprechende Weichen gestellt. Der Fokus muss dabei auf Ergebnis- und Indikationsqualität liegen. Wer dann wegen mangelhafter Pflege schlechte Qualität liefert, wird über die Qualitätstransparenz „abgestraft", soweit es gelingt, diese nachfragewirksam zu kommunizieren.

Ergänzend nutzbar wären Maße zur Pflegequalität. Dazu gehören auch eher subjektiv empfundene Indikatoren wie die Patientenzugewandheit, die von einzelnen Krankenhäusern bereits eingesetzt werden. Sie könnten vom Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) weiterentwickelt und standardisiert werden. Auch könnte eine angestrebte künftige qualitätsorientierte Vergütung um Aspekte der Pflegequalität ergänzt werden.

Das Autorenteam: Prof. Dr. Boris Augurzky, Dr. Christian Bünnings, Prof. Dr. Ansgar Wübker, Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), Essen


„Arbeiten wie am Fließband"

Die Belastung hat nur leicht zugenommen, aber die Unzufriedenheit der Pflegenden wächst, so das aktuelle RWI-Gutachten. Diese könnte aber auch ganz andere Gründe haben als den Pflegemangel, meint Studienleiter Prof. Dr. Boris Augurzky.

Herr Professor Augurzky, Berechnungen von Professor Michael Simon von der Hochschule Hannover zufolge fehlen in deutschen Kliniken 100.000 Vollkräfte in der Pflege. Ihr Gutachten sieht nur eine „leichte Unterbesetzung". Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz? 

Das ist immer eine Frage der Methodik. Professor Simons Berechnungen setzen bereits Mitte der 1990er-Jahre an, unsere Berechnungen beginnen ab dem Jahr 2002, vor Einführung der DRG. Die Analysen hängen zudem davon ab, ob die vorhandenen Pflegepersonen in Relation zu den Belegungstagen oder zu den Fallzahlen gesetzt werden. Wir gehen bei unseren Berechnungen von einer Mischkalkulation aus, das heißt, die Fallzahl hat mit 60 Prozent eine etwas höhere Gewichtung als die Verweildauer mit 40 Prozent. Ausgehend von dieser Berechnung ist die Zahl der Pflegekräfte pro pflegerelevanter Leistungsmenge zwischen 2002 und 2014 um 3,6 Prozent zurückgegangen. 

Was heißt das in konkreten Zahlen?

Hochgerechnet auf etwa 320.000 Vollkräfte in Krankenhäusern würde das bedeuten, dass gut 10.000 Pflegekräfte in Kliniken „fehlen". Dabei muss aber auch bedacht werden: Macht die Pflege heute noch das Gleiche wie vor etwa 15 Jahren? Einige pflegerische Tätigkeiten sind inzwischen an Servicepersonal delegiert worden, andere sind neu hinzugekommen. Solche Entwicklungen können mit Statistiken nicht erfasst werden.

Ihre Daten deuten darauf hin, dass die Arbeitszufriedenheit in der Pflege abgenommen hat. Wie erklären Sie sich dies, wo doch der Pflegeaufwand Ihrem Gutachten zufolge nur geringfügig zugenommen hat?

Ich denke, dass dabei auch andere Aspekte eine Rolle spielen. Durch die geringere Verweildauer wechseln die Patienten schneller, das heißt, als Pflegeperson kann ich mich heute weniger auf den Einzelnen einstellen. Die Patienten sind älter geworden und machen entsprechend mehr Arbeit. Auch gibt es sicherlich Unterschiede zwischen einzelnen Kliniken. Denn keine Klinik entspricht exakt dem Durchschnitt. In manchen Krankenhäusern wurden in den vergangenen Jahren aufgrund schlechter wirtschaftliche Lage Pflegestellen gekürzt, woanders wurden aber auch Stellen aufgebaut. Die Pflegenden in Krankenhäusern mit Kürzungen, die einen zuvor höheren Personalschlüssel gewohnt waren, erleben nun natürlich subjektiv eine höhere Belastung, weil sie früher mehr Zeit für die Patienten hatten.

Einer Studie zufolge ist in Deutschland durchschnittlich eine Pflegefachkraft für 10,3 Patienten zuständig, während sie in der Schweiz beispielsweise nur 5,5, in Norwegen sogar nur 3,8 Patienten betreut. Halten Sie den deutschen Pflegepersonalschlüssel tatsächlich für ausreichend?

Diese Unterschiede sind tatsächlich eklatant und werfen die Frage auf, ob die Arbeitsverteilung in deutschen Kliniken sinnvoll organisiert ist. In anderen Ländern übernehmen die Pflegenden mehr ärztliche Aufgaben, dafür sind weniger Mediziner eingestellt. Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen zu überlegen, ob wir Tätigkeiten von den relativ teuren Ärzten auf die Pflege übertragen können und das dadurch frei werdende Geld den Pflegenden zugute kommen lassen. Gleichzeitig sollte man bedenken: Wir sind in Deutschland zwar pro Patient im Krankenhaus Schlusslicht, betrachten wir hingegen die Anzahl der Pflegenden je Einwohner, liegen wir im Mittelfeld.

Also haben wir mehr stationäre Fälle als in anderen Ländern?

Ja, wir haben nicht unbedingt weniger Pflegekräfte, aber die Menschen in Deutschland liegen häufiger im Krankenhaus. Wir könnten diese Entwicklung nun in zwei Richtungen ändern: Wir könnten mehr Pflegekräfte einstellen – die wir im Moment gar nicht haben – oder wir könnten weniger stationäre Patienten anstreben. Letzteres wäre deutlich von Vorteil. Im Moment arbeiten wir in den Kliniken wie am Fließband und schleusen unheimlich viele Patienten durch. Wie schön wäre es, dieses Fließband etwas langsamer laufen zu lassen. Dazu brauchen wir aber – sektorenübergreifende – alternative Versorgungskonzepte. 

Sie haben in Ihren Daten keine Qualitätsverschlechterungen bei Patienten feststellen können. Andere Studien, zum Beispiel aus der Pflege-Thermometer-Reihe, weisen jedoch darauf hin, dass viele pflegerische Maßnahmen aus Zeitmangel nicht mehr ausreichend erfolgen können, wie die Überwachung von verwirrten Patienten, Patientengespräche oder die Betreuung Schwerstkranker oder Sterbender. Sind Maßnahmen wie diese in Ihren Qualitätsbegriff eingeflossen? 

Nein, für diese Maßnahmen, die ich unter dem Obergriff Zuwendung zusammenfassen würde, haben wir keine belastbaren Zahlen. Es liegt natürlich nahe, dass man unter Zeitdruck zuerst an der Zuwendung spart. Wenn der nächste Patient schon wartet, leiden darunter als erstes die Patientengespräche. Eine Beziehung aufzubauen, wird also immer schwieriger, auch weil die Patienten oft nur kurz im Krankenhaus bleiben. Das könnte mit eine wichtige Ursache sein, warum die Zufriedenheit der Pflegenden so gesunken ist: Der Patient geht schon wieder, bevor ich mich überhaupt richtig auf ihn einlassen konnte. Ein Zurück zu längeren Verweildauern werden wir aber nicht mehr erleben. 

Was ist das wichtigste Fazit, das Sie aus der Studie mitnehmen?

Wir müssen das Thema Personalmangel in der Pflege auf jeden Fall im Blick behalten. Es ist eine leichte Zunahme der Belastung der Pflegenden hinsichtlich messbarer Kennzahlen zu erkennen, allerdings müssen wir mit Lösungsoptionen sehr behutsam sein. Wenn Sie zum Beispiel durch unflexible Personalschlüsselvorgaben Pflegekräfte binden, laufen wir auf einen noch größeren Fachkräfteengpass als ohnehin schon zu. Generell gilt: In einer Gesellschaft mit immer weniger Kindern und immer mehr älteren Menschen wird schlichtweg rein rechnerisch die Zuwendung für ältere Menschen seitens jüngerer Menschen abnehmen. Dies passiert in den Familien, im sozialen Umfeld und auch im Gesundheitswesen. Japan, das schon weit stärker „gealtert" ist als Deutschland, erlebt dies gerade in einer bitteren Form. Dort sucht man das Heil in Robotern. Wichtig ist daher, dass wir langfristig dafür Sorge tragen, dass wir in Zukunft überhaupt ausreichend Pflegekräfte haben. Denn der Pflegebedarf wird immer weiter wachsen.

Interview: Brigitte Teigeler  


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