Pflegewissenschaftler Peter Nydahl vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein hat die Idee des Intensivtagebuchs vor zehn Jahren aufgegriffen und seitdem maßgeblich vorangetrieben. Dass das Intensivtagebuch für Patienten, Angehörige und Pflegende sehr hilfreich ist, beweist folgendes Interview, das Nydahl kürzlich mit dem ehemaligen Intensivpatienten Dieter Jost führte.
Herr Jost, Sie lagen vier Wochen im Koma. Wie kam es dazu?
Ich hatte das Miller-Fisher-Syndrom – eine seltene Erkrankung des Nervensystems, die in meinem Fall mit einer starken körperlichen Schwäche einherging. Weil ich Probleme mit der Atmung hatte, kam ich ins Krankenhaus und wurde ins Koma versetzt. Das alles wurde mir im Nachhinein von meiner Frau erzählt. Ich selbst habe daran keine Erinnerung. Eigentlich waren nur drei bis fünf Tage Koma geplant. Doch ich entwickelte eine schwere Lungenentzündung, und es kam eine Blutvergiftung dazu. Dadurch wurde es ein Monat Koma. Ich hatte in dieser Zeit sehr heftige Träume, häufig Albträume. Alles, was ich in diesen erlebt habe, weiß ich noch bis ins Detail. Ich habe ja nicht gewusst, dass ich im Koma bin – für mich war das mein reales Leben.
Was haben Sie geträumt?
Was mich richtig zermürbt hat, war folgender Horrortraum: Ich bin von einem Krankenwagen abgeholt und in ein Krankenhaus gebracht worden. Dort hieß es nur „Grüß Gott, Herr Jost“, und mir wurde eine Spritze gesetzt. Danach konnte ich nichts mehr bewegen, absolut nichts. Irgendwann merkte ich, dass ich in ein Versuchslabor gebracht worden war. Es wurden schlimme Experimente an mir und anderen Patienten gemacht. Neben mir fingen sie schon alle an zu sterben. Anfangs war ich fest entschlossen, zu überleben. Doch dann wurden die Versuche so schlimm, dass ich nicht mehr konnte und nur noch sterben wollte. Meine Frau hat mir später erzählt, dass sie diese Resignation an meinem Gesicht regelrecht ablesen konnte. In meinen Träumen habe ich immer wieder die Stimme meines Sohnes gehört: „Papa, Du bist stark! Papa, Du schaffst das! Papa, ich brauche Dich!“ Da habe ich mir gedacht: Das kannst du ihm nicht antun, du musst weiterleben. So fasste ich im Traum wieder neuen Lebensmut. Als ich wieder gesund war, erfuhr ich, dass mein Sohn mir diese Sätze tatsächlich jeden Tag am Krankenbett gesagt hat.
Erinnern Sie sich auch noch an einen anderen Traum?
Ja, in einem anderen Albtraum kamen lauter arabische Frauen ins Zimmer, die mich anschauten und sagten: toller Mann, schöner Mann. Irgendwann merkte ich, dass diese Frauen Körperteile von europäischen Männern kaufen und ihren Männern anoperieren lassen, damit diese europäischer aussehen. Mir wurde ein Mittel gespritzt, damit ich sterbe. Später habe ich über ein Gespräch mit einer Pflegerin herausgefunden, dass es auf der Intensivstation eine verschleierte Putzfrau gibt. Die habe ich wahrscheinlich unterbewusst wahrgenommen und in meinen Traum eingebaut. Ich habe auch geträumt, dass mein Sohn einen Oscar gewonnen hat – klingt absurd, aber zumindest war das mal was Schönes. Heute weiß ich, dass die Schwestern während meiner Zeit im Koma ab und zu das Radio haben laufen lassen, und in der Zeit fand die Oscarverleihung statt. Unterbewusst habe ich das wahrscheinlich aufgenommen. So erklären sich viele Träume. Ich habe zum Beispiel auch geträumt, interviewt worden zu sein – wie ein Filmstar oder berühmter Sportler. Es wurde auch ein Foto von mir gemacht. Später habe ich erfahren, dass ein Foto von mir gemacht wurde für das Intensivtagebuch.
Dieses haben Ihre Frau, Ihr Sohn, die Pflegenden und Therapeuten für Sie geschrieben. Wann haben Sie zum ersten Mal darin gelesen?
Ich lag vier Wochen komatös auf der Intensivstation in Dachau. In dieser Zeit wurde das Tagebuch für mich geschrieben. Als ich wieder wach war, wurde ich in eine Spezialklinik in Kipfenberg verlegt. Auf der dortigen Intensivstation wurde ich weitere drei Wochen behandelt. Insgesamt ging es mir dort aber schon wesentlich besser, und ich machte peu à peu Fortschritte. Eines Tages dachte ich mir: So, jetzt lese ich das mal. Ich fand es richtig schön, was die Schwestern da reingeschrieben haben.
Hat Ihnen das Tagebuch geholfen, die Zeit des Komas zu rekonstruieren?
Ja, es lässt sich damit gut nachvollziehen, was wann passiert ist und welche Fortschritte ich gemacht habe. Leider hatten die Pflegenden der Intensivstation in Kipfenberg noch nie von einem Intensivtagebuch gehört. Also habe ich versucht, den Schwestern klarzumachen, dass die da reinschreiben sollen. Und die haben das so gut gefunden, dass eine Schwester über Pfingsten sogar einen Fünf-Tages-Bericht geschrieben hat.
Hatte das Intensivtagebuch für Ihre Familie eine Bedeutung?
Meine Frau und mein Sohn finden das Tagebuch super. Sie möchten es aber nicht lesen – zumindest noch nicht –, weil für die beiden alles noch zu frisch ist. Für meine Familie war die Zeit ja viel schwerer als für mich. Mir hat das Tagebuch auf alle Fälle super geholfen. Immer wieder schaue ich rein und lese, was die Schwestern geschrieben haben. Ich finde es genial.
Haben Sie einen Lieblingseintrag?
Ja, eine Therapeutin hat mitgekriegt, dass ich eine Vespa habe. Sie hat auch eine und viel darüber reingeschrieben. Sie hat mir sogar eine Vespa reingemalt. Es fasziniert mich, im Tagebuch nachzulesen, wie es langsam, aber sicher bergauf ging. Das macht einen wahnsinnig stolz und gibt Kraft, weiterzumachen. Am Anfang sah es ja lange so aus, als würde ich nicht überleben.
Das Koma liegt nun ein gutes Jahr zurück. Wie geht es Ihnen heute?
Heute bin ich fast wieder der Alte. – Nein, stimmt nicht, ich bin nicht mehr der Alte. Vorher war ich hektisch, unruhig, schnell genervt. Jetzt bin ich ausgeglichener, geduldiger, feinfühliger. Das sagt auch meine Frau. Insofern hat das Koma im Nachhinein auch etwas Positives bewirkt. Früher habe ich mich immer sehr schnell aufgeregt, auch wegen der Arbeit. Manchmal konnte ich nächtelang nicht schlafen. Das ist heute nicht mehr der Fall.
Arbeiten Sie wieder?
Ja, schon seit letztem Jahr. Ich bin ja selbstständig und kann nicht lange pausieren. Alles geht wieder, ich habe keine Einschränkungen.
Was würden Sie Angehörigen, Pflegenden und Ärzten empfehlen, die einen Patienten auf einer Intensivstation betreuen?
Ganz wichtig ist, für eine positive Kommunikation und Atmosphäre zu sorgen. Auf der ersten Intensivstation lag ein Mann neben mir, der verstorben ist. Das habe ich wohl mitbekommen, und das hat zu den Albträumen geführt. Unterbewusst kriegen die Patienten viel mit.
Wie bewerten Sie die Pflegenden, die Sie in Dachau und Kipfenberg betreuten?
Die Leistung, die in der Pflege gebracht wird, ist der Wahnsinn! Ich habe den Schwestern immer gesagt: Wenn ich irgendwann Bundeskanzler werde, seid ihr die Ersten, die eine Lohnerhöhung erhalten. Wirklich, Hut ab, was in der Pflege geleistet wird! Ich glaube, es ist wichtig, dass das Fundament der Krankenversorgung stimmt, und das sind die Schwestern und Pfleger. Ich habe gesehen, was Pflegende leisten, und ich bewundere sie dafür. Deswegen besuche ich die Pflegenden der Klinik in Kipfenberg auch immer, wenn ich geschäftlich dort bin. Ich hoffe, dass ich denen mit meinen Besuchen meine Dankbarkeit zeigen und etwas zurückgeben kann.
Herr Jost, vielen Dank für dieses Gespräch.