Arne Evers, Pflegedirektor am St. Josef-Hospitals Wiesbaden, kommentiert die Bilanz der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Claudia Moll, zum Sachstand der Pflege in der aktuellen Legislaturperiode.
Tariftreueregelung. Zustimmen möchte ich zu den Ausführungen Molls, dass über das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz eine verpflichtende tarifliche Bezahlung in der stationären und ambulanten Langzeitpflege eingeführt wurde. Das war notwendig und richtig. Allerdings wurde das Gesetz in der 19. Legislaturperiode beschlossen und ist bereits im Juli in 2021 in Kraft getreten. Das Pflegeberufegesetz, das – so Moll – den „Grundstein für eine zukunftsfähige und qualitativ hochwertige Pflegeausbildung“ gelegt habe, was absolut zutrifft, stammt aus dem Jahr 2020 und fällt somit ebenfalls nicht in die Amtszeit der jetzigen Bundesregierung.
Pflegebonus. Erschütternd finde ich Molls Aussage zum Pflegebonusgesetz unter der Überschrift „Professionelle Pflege stärken“. Auch wenn der Pflegebonus sicherlich ein gut gemeintes Vorhaben war, hat die Einmalzahlung für die Profession Pflege keine nachhaltige Verbesserung bewirkt, sondern innerhalb der Berufsgruppe für viel Unverständnis gesorgt und Politikverdrossenheit gefördert. Als Pflegedirektor, der vielen seiner Beschäftigten, etwa Pflegefachpersonen in der Notaufnahme oder Pflegehilfskräften, persönlich erklären musste, wieso diese keine Einmalzahlung erhalten, kann ich nie und nimmer zu der Aussage kommen, dass der Pflegebonus für eine Stärkung der professionellen Pflege gesorgt hätte.
Pflegestudiumstärkungsgesetz. Positiv hervorzuheben ist in der Tat das Pflegestudiumstärkungsgesetz, das inhaltlich wie fachlich richtig ist – auch wenn wahrscheinlich mehr möglich gewesen wäre. Dennoch: Die dringend benötigte Finanzierung der hochschulischen Pflegeausbildung ist ein Meilenstein, den es nun weiter auszubauen gilt. Aus aktuellem Anlass ist hier allerdings auf widersprüchliche Landespolitik hinzuweisen, die vom Bund schweigend gebilligt wird: die auslaufende Förderung des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld. Akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen ja, Pflegewissenschaft nein – das passt nicht zusammen!
Projekt GAP. Moll lobt das Projekt „GAP - Gute Arbeitsbedingungen in der Pflege zur Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“, das nicht von ihr, sondern von ihrem Amtsvorgänger Andreas Westerfellhaus initiiert wurde. Prinzipiell ist GAP sehr sinnhaft. Kritisch ist allerdings zu sehen, dass seit der ursprünglichen Initiierung keine Weiterentwicklung oder Übertragung auf andere Settings wie das Krankenhaus erfolgt ist – aus meiner Sicht eindeutig ein Versäumnis.
Klinikreform. Was Molls Bilanz fehlt, ist die Einbettung in den Gesamtkontext – und in der 20. Legislaturperiode gibt es da einiges einzuordnen. Was die Pflegebevollmächtigte völlig außen vor lässt sind die vielfach verpassten Chancen für eine echte, nachhaltige Stärkung der Pflegeprofession im Rahmen der Krankenhausreform. Der Bundesregierung muss man vorwerfen, dass sie sämtliche Vorschläge der Regierungskommission zur Aufwertung des Pflegeberufs bis zum heutigen Tag nicht aufgegriffen haben. Dieses Versäumnis ist allenfalls als Stagnation der Pflege zu bezeichnen und sicher nicht als Stärkung. Ganz lebendig sieht man dies im Umgang mit akademischen Pflegekräften: Im ersten Entwurf zur Klinikreform gab es noch eine Berücksichtigung und Eigenständigkeit akademischer Pflege im Rahmen eigener Versorgung in Level-1i-Häusern. Dieser Fortschritt wurde kontinuierlich heruntergewertet: erst Selbstständigkeit, dann Abhängigkeit, jetzt die komplette Streichung. Zwar war der angedachte § 115h „medizinisch-pflegerische Versorgung“ in der praktischen Umsetzung mehr als fraglich, so hätte er dennoch für die Eigenständigkeit der Pflegekräfte und damit der Professionalisierung einen Schub bedeutet. Davon ist heute nichts mehr vorhanden.
Gesundheitskioske. Ähnlich verhält es sich mit den Gesundheitskiosken. Ursprünglich waren diese Einrichtungen als eigenständiges Tätigkeitsgebiet für Pflegefachpersonen gedacht; das Berufsbild der Community Health Nurse wäre endlich etabliert worden. Auch das wäre ein echter Meilenstein für die pflegerische Autonomie gewesen. Mittlerweile ist Community Health Nursing vollumfänglich gestrichen, das Gesetz wird gemeinhin als „Hausärztebefriedungsgesetz“ tituliert, von Aufwertung der Pflege ist auch hier nichts mehr vorhanden.
Berufsständische Selbstverwaltung. Was ich in Molls Bilanz ebenfalls vermisse, sind Aussagen zum Thema Selbstverwaltung. Laut Koalitionsvertrag sollte es hier deutliche Fortschritte geben, passiert ist bislang kaum etwas. In Baden-Württemberg ist die Haltung und der Umgang der Landespolitik mit der beschlossenen Landespflegekammer sehr fragwürdig. Nach dem Hin und Her der vergangenen Monate ist heute noch immer nicht klar, ob das Quorum zur Gründung der Kammer erreicht wurde oder nicht. Auch das gehört zur Einordnung dazu und darf in einem Zwischenfazit nicht fehlen.
Klinikatlas. Abschließend sei noch auf den Klinikatlas des Bundesgesundheitsministeriums und der Darstellung des Pflegepersonalquotienten verwiesen, der für massive Irritation sorgt: Ein Tacho zur Differenzierung von „guter oder schlechter Pflegepersonalausstattung“, bei dem die gesamte Klinik über einen Kamm geschoren wird, kann weder für Patient:innen noch für dort arbeitende Pflegepersonen ein Stärkungsfaktor sein. Wer die Pflegepersonalausstattung einer Kinderklinik, einer Geriatrie, einer allgemeinen Chirurgie und einer Station für Knochenmarkstransplantation zusammengewürfelt abbildet, der hat die Differenziertheit der Abbildung von Pflegeleistung schlicht und einfach ignoriert.
Was können wir in dieser Legislatur noch erwarten?
Größere Gesetzesvorhaben hat die Bundesregierung noch auf der Agenda. Zu nennen sind hier insbesondere das Pflegekompetenzgesetz in zwei Teilen und die generalistisch ausgerichtete, bundeseinheitliche Pflegeassistenzausbildung. Bis zur nächsten Bundestagswahl ist nicht mehr allzu viel Zeit. Insofern ist zu befürchten, dass die Reform der Pflegeassistenzausbildung ähnlich wie die beiden angedachten Teile des Pflegekompetenzgesetzes mit heißer Nadel gestrickt werden oder den bevorstehenden Fachdiskurs nicht unbeschadet überstehen. Somit könnten wesentliche Aspekte zur Aufwertung des Pflegeberufs gestrichen oder abgemildert werden. Auf die angekündigte Progressivität des Pflegekompetenzgesetzes im Abgleich mit den bereits veröffentlichten Eckpunkten bin ich mehr als gespannt und dem daraus entstehenden Diskurs mit anderen Leistungserbringen des Gesundheitswesens blicke ich energisch entgegen.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass das in dieser Legislatur Erreichte im Hinblick auf eine Stärkung der Profession Pflege als dürftig zu bezeichnen ist. Viele Chancen wurden verpasst. Hierzu passt auch das Ende von Molls Bilanz – die Aufforderung, Pflege neu zu denken und gemeinsam zu gestalten. Das liest sich fast wie eine Zuweisung von Schuld, dass der Pflegeberuf derzeit nicht mitmachen würde. Für mich und ganz viele andere Kolleg:innen gilt: Wir wollen! Dann lasst uns aber auch.