Der AWO Bundesverband hat Ende Januar ein Praxishandbuch veröffentlicht, das Altenpflegeeinrichtungen unterstützen möchte, ihre Angebote für Lesben, Schwule, Bisexuelle sowie für trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTIQ*) zu öffnen. Worauf Einrichtungen dabei achten sollten, wie das erarbeitete Coaching-Konzept aussieht, was der VielfALT-Scan bedeutet und welche praktischen Tipps die AWO hat, verdeutlicht Projektleiter Lothar Andrée im Interview.
Sind Pflegeheime oder ambulante Dienste auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen, kurz LSBTIQ*, als Zielgruppe gut vorbereitet?
Laut Pflegestatistik gibt es in Deutschland rund 30.000 Pflegeheime und ambulante Pflegedienste. Ich gehe davon aus, dass dort zunächst alle Menschen willkommen sind. Allerdings wurden LSBTIQ* als Zielgruppe in den Konzepten und Angeboten der Altenhilfe bisher systematisch kaum bis gar nicht bedacht. Um diese Lücke zu schließen, hat der AWO Bundesverband Anfang 2019 ein Modellprojekt zur Öffnung der Altenhilfeeinrichtungen für LSBTIQ* ins Leben gerufen.
"LSBTIQ* wurden als Zielgruppe in den Konzepten und Angeboten der Altenhilfe bisher systematisch kaum bis gar nicht bedacht."
Inwiefern bedarf es im Pflegefall eines anderen Umgangs mit LSBTIQ* im Vergleich zu heterosexuellen Pflegebedürftigen?
Die heute pflegebedürftigen LSBTIQ* wuchsen größtenteils mit sozialer Ausgrenzung auf. Nicht nur Beschimpfungen und Beleidigungen, sondern ebenso die Erfahrung oder ständige Androhung von Denunziation, körperlicher Gewalt sowie teilweise auch staatlicher Verfolgung und Bestrafung gehörten für viele zum Alltag. Allein in der Bundesrepublik Deutschland wurden bis 1969 rund 50.000 Männer nach § 175 des Strafgesetzbuchs, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, verurteilt. Auch für Lesben, Bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche Menschen bedeutete das Bekanntwerden ihrer Identität die Gefahr, familiäre und soziale Kontakte, den Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu verlieren – mitunter hatte das weitreichende Folgen für die physische und psychische Gesundheit sowie die eigene Existenz. Früh erworbene Selbstzweifel, auferlegte Schuldgefühle und verinnerlichte Ängste begleiten einige Personen bis heute. Wer den mühsamen, aber auch mit Stolz verbundenen Weg raus aus dem Schrank – „coming out of the closet“, hiervon stammt übrigens die Redewendung „coming out“ – geschafft hat, steht im hohen Lebensalter schließlich vor einer neuen Herausforderung.
"LSBTIQ* haben oft großes Misstrauen gegenüber heteronormativen Institutionen wie Pflegeheimen."
Welcher?
Der Suche nach einem geeigneten Pflegeangebot. Denn im Alter sind LSBTIQ* aufgrund geringerer familiärer Unterstützung oder häufigerer Kinderlosigkeit stärker auf professionelle Angebote der Altenhilfe angewiesen. Zudem haben sie wegen ihrer internalisierten Diskriminierungsgeschichte nicht selten großes Misstrauen gegenüber heteronormativen Institutionen, als welche zum Beispiel auch Pflegeheime angesehen werden. Folglich ziehen sich nach allgemeiner Einschätzung aus Wissenschaft und Praxis viele LSBTIQ* in Pflegeheimen zunehmend zurück oder bleiben gar als LSBTIQ* unsichtbar. Die eigene Identität wird aus Angst vor Zurückweisung oft verborgen gehalten. Eine an der Person ausgerichtete und biografieorientierte Langzeitpflege und Betreuung ist in diesem Fall kaum möglich. Es ist daher wenig verwunderlich, dass viele Mitarbeitende von Pflegeeinrichtungen keine LSBTIQ* als Bewohnende kennen und für diese schließlich auch keine besonderen Angebote bereithalten. Doch statistisch betrachtet liegt der LSBTIQ*-Anteil an der Gesamtbevölkerung je nach Forschungsansatz bei fünf bis zehn Prozent. Folglich leben in vermutlich jedem Pflegeheim auch LSBTIQ* noch oder wieder im Schrank – um im Bild zu bleiben.
"Vermutlich leben in jedem Pflegeheim LSBTIQ*."
Rund eine Millionen LSBTIQ* über 65 Jahre leben in Deutschland. Viele von ihnen befürchten, dass sie im Alter und mit beginnender Pflegebedürftigkeit nicht nur viel Selbstständigkeit verlieren, sondern erneut auf Ablehnung stoßen könnten. Inwiefern können Sie mit dem aktuellen Praxishandbuch diese Bedenken nehmen?
Im Grunde genommen geht es auch hier um das Thema Vielfalt. Das Praxishandbuch liefert Instrumente dafür, dass sich Pflegeeinrichtungen vorbereiten und die Vielfalt sexueller Lebensweisen sowie geschlechtlicher Identitäten berücksichtigende Angebote vorhalten, damit sie sich nach außen sichtbar als queer-freundlich positionieren können. Dann wird das Leben in Altenhilfeeinrichtungen auch zu einer positiven Zukunftsperspektive für LSBTIQ*-Senior*innen, ohne die angesprochenen Ängste und Bedenken.
Mit einer engen Zusammenarbeit und Sensibilisierung des Pflegepersonals, des nicht pflegerischen Personals und der Führungskräfte kann es gelingen, LSBTIQ*-freundliche Strukturen in der Altenhilfe zu etablieren – so Ihre Überzeugung. Dafür hat die AWO ein eigenes modulares Fortbildungspaket mit Coaching-Konzept entwickelt. Was zeichnet dieses Konzept aus?
Eine der zentralen Maßnahmen ist tatsächlich die Sensibilisierung aller Mitarbeitenden für die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Lebensweisen und Identitäten. Das Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat hierfür ein modulares Fortbildungspaket erarbeitet. Es enthält insgesamt dreizehn eigenständige Module, die sowohl einzeln als auch aufeinander aufbauend anwendbar sind. Mitarbeitende von Altenhilfeeinrichtungen werden darin nicht nur für Vielfalt sensibilisiert, sondern erfahren zudem die Relevanz geschlechtlicher Diversität und sexueller Lebensweisen im Kontext der Altenhilfe. Neben den einzelnen Modulbeschreibungen wird eine umfangreiche Methoden- und Materialsammlung bereitgestellt, wodurch die Module unmittelbar anwendbar sind. Was das Konzept besonders auszeichnet, fasst die Einleitung des Fortbildungspakets gut zusammen: "Der Fokus liegt dabei auf der Individualität von LSBTIQ*, ohne zu verallgemeinern, zu gruppieren oder zu exotisieren und ohne andere und weitere Facetten einer Persönlichkeit auszuklammern. Die Diversität von Individuen steht stärker im Mittelpunkt des Fortbildungspaketes als die ausschließliche Wissensvermittlung zu LSBTIQ*."
Das Praxishandbuch als kostenloser Download
Das "Praxishandbuch zur Öffnung der Altenhilfe-Einrichtungen für LSBTIQ*" ist entstanden im Rahmen des Modellprojekts "Queer im Alter – Öffnung der Altenhilfeeinrichtungen der AWO für die Zielgruppe LSBTIQ*".
Das Projekt hat der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Bundesverband im Zeitraum Januar 2019 bis Februar 2021 koordiniert und gemeinsam mit 6 Modellstandorten der AWO umgesetzt – gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die beteiligten Modellstandorte sind:
Mönchengladbach (NRW): AWO-Pflegedienst gGmbH
Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern): AWO Pflege- und Betreuungs gGmbH
Bernau (Brandenburg): Altenpflegeheim Wohnen „Am Weinberg"
Köln (NRW): Seniorenzentrum Arnold-Overzier-Haus
Dortmund (NRW): Seniorenwohnstätte Eving
Neu-Ulm (Bayern): AWO-Seniorenzentrum Neu-Ulm
Zum Projektbeirat gehören u. a.:
Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren
Dachverband Lesben und Alter
Intersexuelle Menschen Bundesverband
Bundesverband Trans*
BiNe – Bisexuelles Netzwerk
Das Praxishandbuch steht kostenlos zum Download bereit.
In ausgewählten Einrichtungen haben Sie die Fortbildung getestet. Was sind Ihre Erfahrungen daraus?
Insgesamt waren zwei ambulante und vier vollstationäre Altenhilfeeinrichtungen der AWO als bundesweite Modellstandorte mit jeweils zwei Multiplikator*innen beteiligt. Die erste Fortbildung für alle Multiplikator*innen fand auf Basis des entwickelten Fortbildungspakets Anfang März 2020 – kurz vor dem SARS-CoV-2-bedingten Lockdown – an drei Tagen in Berlin statt. Ein Schwerpunkt war die intensive Auseinandersetzung mit beispielhaften queeren Biografien, um die besondere Situation und die Bedarfe älterer LSBTIQ* besser verstehen zu können. Die Teilnehmenden schätzten unter anderem die große Methodenvielfalt und die Möglichkeit eines Perspektivwechsels. Dies bestätigte auch die extern durchgeführte Projektevaluation, deren zentrale Ergebnisse mit Handlungsempfehlungen das Handbuch abschließen. Die zweite Fortbildung fand aufgrund der Pandemie-Situation als Online-Seminar statt. Dabei ging es vorwiegend um die Relevanz für die Betreuung und Langzeitpflege sowie um körperliche und gesundheitliche Aspekte. So ergab beispielsweise eine aktuelle Befragung älterer Trans*-Personen große Befürchtungen bezüglich der Offenheit des Pflegepersonals, nicht nur gegenüber anderen Lebensweisen, sondern auch in Hinsicht auf nicht normative Körper.
Im Praxishandbuch ist der Fortbildungsansatz auch noch einmal beschrieben. An wen richten Sie sich mit diesem Buch?
Zunächst profitieren die queeren Senior*innen selbst davon. Denn in queer-freundlichen Einrichtungen müssen sie sich nicht „outen“, können es aber. Sie müssen sich nicht am Lebensende erneut verstecken oder erklären und sie können queeren Besuch oder ihre Partner*innen empfangen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Ältere LSBTIQ* möchten ihre teilweise mühsam erkämpften selbstbestimmten Lebensentwürfe in Pflegeeinrichtungen nicht aufgeben. Das Handbuch wendet sich an alle Einrichtungen der institutionellen Altenhilfe und deren Träger. Es ermöglicht ihnen die Implementierung eines Vielfalt bejahenden Betreuungs- und Lebensumfelds. Damit werden Angebote der Altenhilfe meines Erachtens nicht nur für queere Menschen attraktiver, sondern für alle, die auch im Alter selbstbestimmt leben möchten. Aber auch für queere Fachpersonen kann ein mithilfe des Praxishandbuchs sichtbarer Öffnungsprozess einer Altenhilfeeinrichtung ein wichtiges Signal sein. Ebenso richtet sich das Buch an Anbieter*innen der beruflichen Erwachsenenbildung. Ihnen wird ein bereits erprobtes Gesamtpaket inklusive Methodenanleitungen und umfassender Materialiensammlung zur Verfügung gestellt.
"Zentral ist die Fortbildung der Mitarbeitenden, denn erst durch das Bewusstwerden von Vorurteilen und Unsicherheiten bezüglich anderer Lebenswelten entstehen von Vertrauen geprägte Beziehungen zwischen Einrichtungspersonal und LSBTIQ*-Bewohner*innen."
Das Handbuch beinhaltet auch einen Leitfaden mit Instrumenten für die Praxis, u. a. den VielfALT-Scan. Was genau ist das?
Der VielfALT-Scan ist ein erstes Instrument zur Selbsteinschätzung und Überprüfung, inwieweit einzelne Altenhilfeeinrichtungen und deren Träger auf queere Senior*innen als Zielgruppe vorbereitet sind. Anhand von insgesamt 24 Kriterien schafft der VielfALT-Scan ein Bewusstsein für eine bereits vorhandene LSBTIQ*-Willkommenskultur und einen möglichen Handlungsbedarf in den jeweiligen Einrichtungen.
Pflege und LSBTIQ
Ausgabe 8/2019 von Die Schwester | Der Pfleger hat sich ausführlich damit beschäftigt, wie Pflegende vor Diskriminierung schützen und die Lebensqualität erhöhen können.
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Welche Instrumente können Heime noch anwenden?
Queere Senior*innen sollten zunächst überhaupt davon erfahren, dass es in ihrer Nähe zum Beispiel ein Pflegeheim gibt, in dem sie ausdrücklich willkommen sind. Das Handbuch bietet hierzu etwa eine Muster-Pressemitteilung. Ebenso können über die Gewinnung sogenannter Botschafter*innen Kooperationen mit den lokalen queeren Communities aufgebaut werden, damit beispielsweise mithilfe von Veranstaltungen auch unter den Bewohner*innen die große Vielfalt von Lebensweisen und Identitäten sichtbar und erfahrbar wird. Über eine Checkliste für Botschafter*innen werden die damit verbundenen Anforderungen erfasst.
Das Praxishandbuch ist im Rahmen des Modellprojekts "Queer im Alter" entstanden. Was hat dieses Projekt bislang erreicht?
Ein Hauptanliegen war natürlich die Entwicklung des nun vorliegenden Praxishandbuchs mit den bereits dargestellten Elementen. An dessen Entstehung waren neben den Modellstandorten auch Selbstvertretungsverbände der queeren Communities intensiv beteiligt. Die enge Einbeziehung dieser Verbände auch über die Mitwirkung in einem Projektbeirat hat aus meiner Sicht zu einer hohen Akzeptanz der Projektergebnisse innerhalb der Zielgruppe geführt. Darüber hinaus fanden auch an den Modellstandorten erste Schritte eines Praxistransfers der Fortbildungsinhalte in die Einrichtungen statt. Ebenso konnten regional Kontakte zu queeren Organisationen aufgebaut und intensiviert werden. Allerdings wurde der Umsetzungsprozess innerhalb der Modelleinrichtungen durch die SARS-CoV-2-Pandemie stark ausgebremst, weshalb wir uns sehr darüber freuen, noch ausstehende Schritte in diesem Jahr nachholen zu können. Zudem möchten wir über eine Regiestelle beim AWO Bundesverband die Thematik und Materialien einer breiteren Fachöffentlichkeit bekannt machen. Während der Projektlaufzeit entstanden zudem weitere Netzwerke zur Implementierung vielfaltssensibler Angebote der Altenhilfe. Nicht zuletzt hat das Projekt die zunehmende Wahrnehmung von queeren Senior*innen als Zielgruppe der Altenhilfe bewirkt.
Was sind Ihre drei wichtigsten Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige und flächendeckende Öffnung der Pflege für LSBTIQ*-Senior*innen?
Zentral ist die Fortbildung der Mitarbeitenden, denn erst durch das Bewusstwerden von Vorurteilen und Unsicherheiten bezüglich anderer Lebenswelten entstehen von Vertrauen geprägte Beziehungen zwischen Einrichtungspersonal und LSBTIQ*-Bewohner*innen. Hierfür hat der AWO Bundesverband mit dem beschriebenen Fortbildungspaket ein innovatives und frei zugängliches Instrument entwickelt. Ebenso wichtig ist eine nach außen sichtbare Willkommenskultur für queere Menschen. Auch der Aufbau langfristiger Kooperationen mit den regionalen queeren Communities ist für beide Seiten sicherlich sehr gewinnbringend.