• 03.05.2024
  • Praxis

Moralische Zwickmühlen in der Pflege meistern

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 3/2024

Seite 26

Moralische Zwickmühlen sind in der Pflege häufig. Oft werden sie im Alltag aber nicht thematisiert oder es heißt sogar: „Da musst du drüberstehen.“ Berufspädagogin Julia Göhler erläutert, warum dieser Ansatz riskant ist und was es braucht, um in der Pflege angemessen mit Dilemmata umzugehen. 

 

Frau Professorin Göhler, was sind typische Dilemmata von Pflegefachpersonen im Krankenhaus?

Es gibt ganz unterschiedliche Zwickmühlen, die Pflegefachpersonen erleben. Dilemmata betreffen zum Beispiel das Einstellen lebenserhaltender Maßnahmen in Notsituationen oder auch die Frage, wie viel Therapie terminal erkrankte Menschen auf der Intensivstation noch erhalten sollten – speziell bei knappen Ressourcen. Diese Entscheidungen treffen Pflegende zwar nicht selbst, sie setzen sich damit aber auseinander und erleben dies mitunter als belastend.

Viele Dilemmata betreffen auch das eigene berufliche Handeln. Eine Pflegefachperson hat zum Beispiel versäumt, ein wichtiges Medikament zu verabreichen. Jetzt steht sie vor der Entscheidung: Räumt sie ihr Versäumnis offen ein? Oder behält sie es für sich? Vielleicht passiert ja gar nichts. Natürlich wäre es von außen betrachtet naheliegend, den Fehler offen zuzugeben. Je nach Situation und Fehlerkultur im Team könnte die Pflegefachperson aber negative Sanktionen befürchten.

Was ist der Unterschied zwischen einem Dilemma und einem Problem?

Bei einem Problem handelt es sich meist um eine schwierige Aufgabe oder Frage. Dabei gibt es in der Regel aber eine oder auch mehrere Lösungen und danach entspannt sich die Situation zumeist. Bei einem Dilemma – oder auch einer moralischen Zwickmühle – gibt es zwei Möglichkeiten der Entscheidung. Aber gleich, wie man sich entscheidet: Beide Wege führen zu einem unerwünschten Resultat. Es gibt also nicht den Moment der Lösung und Entspannung. Damit lebt die Situation in uns weiter. Wir hadern mit uns und fragen uns: Hätten wir es besser oder anders machen sollen?

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir eine Pflegedienstleitung, die immer wieder jonglieren muss, um die Dienste in ihrem Team abzudecken. Dann meldet sich ein Kollege krank und die Pflegedienstleitung bittet die junge neue Kollegin, den Dienst zusätzlich zu übernehmen. Sie weiß, dass es dieser Mitarbeiterin schwerfällt, Nein zu sagen, und sie nimmt auch wahr, dass die junge Pflegende erschöpft und müde wirkt. Aber was soll sie tun? Die Patientinnen und Patienten müssen ja versorgt werden.

Das ist ein häufig genanntes Dilemma: jemanden zu belasten, obwohl man weiß, dass man ihn möglicherweise überlastet. Würde die neue Kollegin in der Folge selbst krank werden oder kündigen, könnte die Pflegedienstleitung ins Hadern geraten: „Ach, hätte ich die Situation doch anders gelöst.“

Die Pflegedienstleitung hat also zwischen zwei Übeln zu wählen?

Ja, und in der Dilemmasituation kann sie mitunter gar nicht abschätzen, zu welchen Folgen es kommt. Es könnte sein, dass die neue Kollegin den Dienst übernimmt und gar kein Problem entsteht. Trotzdem erlebt die Pflegedienstleitung dieses Dilemma, weil zwei Werte, die ihr persönlich wichtig sind, in Konflikt geraten. Auf der einen Seite möchte sie ihre Mitarbeitenden vor einer zu hohen Belastung schützen, auf der anderen Seite möchte sie eine gute Patientenversorgung sicherstellen.

Was sind wichtige Werte, die bei Dilemmata im Pflegebereich eine Rolle spielen?

Das sind zum Beispiel Respekt, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit, Fürsorge, Mitgefühl, Empathie, Vertrauenswürdigkeit und Integrität – also alles Werte, die auch im Ethikkodex des International Council of Nurses genannt werden. Wenn diese Werte in Konflikt geraten oder Pflegefachpersonen ihnen aufgrund äußerer Bedingungen nicht nachkommen können, hat das Folgen für die Betroffenen. Das haben Pflegende in Interviews, die ich mit ihnen geführt habe, sehr anschaulich beschrieben. Sie berichteten zum Beispiel: „Ich konnte selbst gar nicht fassen, was ich da gemacht habe.“ Sie waren also erst mal erschrocken über sich und das eigene Tun. Es braucht aber einen Moment, um zu realisieren: Das war nicht gut, was ich gerade gemacht habe. Oft kommt es dann zu einem gedanklichen Pingpong: Muss ich das jetzt noch klären? Sollte ich noch mal hingehen? Dieses Grübeln ist typisch im Rahmen eines Dilemmas.

Was passiert, wenn andere Mitarbeitende, also die Kollegen im Team, gegen die eigenen persönlichen Werte handeln?

Auch das kommt vor und kann durchaus zu Rissen innerhalb des Teams führen. Pflegende sagten in den Interviews zum Beispiel: „Ich habe gedacht, ich erkenne meine Kollegen nicht wieder“, „Ich frage mich wirklich, ob ich dort noch arbeiten kann“ oder „Ich habe das Gefühl, ich arbeite mit abgestumpften Menschen zusammen“. Inwieweit man sich dem Handeln des Teams beugt, weil man vielleicht neu ist und noch keinen festen Platz im Team hat, hängt sehr von der Persönlichkeit und auch dem inneren Wertesystem ab. Ich würde immer empfehlen, im Team anzusprechen, wenn mich eine Situation moralisch belastet oder es schwierig für mich ist, eine bestimmte Situation mitzutragen. Dann habe ich zumindest meine Bedenken geäußert – auch dann, wenn ich selbst nicht in der unmittelbaren Verantwortung bin.

Sind sich die Pflegenden dieser alltäglichen Dilemmata bewusst?

Nein, das war für mich auch eine wichtige Erkenntnis. Oft sind die Pflegenden, die ich befragt habe, im Interview erstmals mit dem Dilemmabegriff in Kontakt gekommen. Man sagt zwar schnell: „Das ist ein echtes Dilemma“, aber was genau damit gemeint ist, ist den wenigsten klar. Trotzdem erleben Pflegende immer wieder Situationen, die einem Dilemma entsprechen, und fühlen sich damit oft allein. Gerade wenn man ins Hadern oder Grübeln kommt und das bei den Kollegen anspricht, heißt es schnell: „Jetzt fängst du schon wieder davon an, das liegt doch jetzt schon so weit zurück.“

Aber es gibt dieses Phänomen im Zusammenhang mit einem Dilemma: Man ist nicht fertig damit, kann es aber nirgendwo richtig äußern. Man hat für sich selbst den Anspruch, sich damit abzufinden, kann es aber nicht. Viele Betroffene fühlen sich damit sehr allein. Sie trauen sich möglicherweise auch im privaten Umfeld nicht, etwas zu sagen, weil sie sich für das, was passiert ist, schämen.

Es fehlt also eine Anlaufstelle für Dilemmata?

Viele der interviewten Pflegenden hätten sich gewünscht, dass sie in der Situation des Dilemmas anders aufgefangen worden wären. Zum Beispiel über eine dritte, unabhängige Person, mit der sie anonym hätten sprechen können. Oder auch, dass das Thema stärker in der Ausbildung oder in Fortbildungen thematisiert würde. Eine Kultur, wie wir mit Dilemmata umgehen, scheint in den Einrichtungen noch wenig etabliert. Oft steht die implizite Forderung im Raum, man solle das alles nicht so schwernehmen, man müsse da drüberstehen. Auf der anderen Seite wünschen wir uns in der Pflege sehr empfindsame Menschen, die empathisch sind und feinfühlig wahrnehmen können. Warum sollten die so etwas einfach wegdrücken und über den Dingen stehen können?

Mitwirken am Pilotprojekt „Bring dein Dilemma zur Sprache“

Haben Sie selbst ein Dilemma erlebt? Oder eines beobachtet? Dann können Sie sich an Julia Göhler wenden. Im Rahmen des Pilotprojekts „Bring dein Dilemma zur Sprache“ sammelt sie anonymisiert Dilemma-Situationen in der Pflege und kategorisiert diese. Über diesen Pool an Dilemmata möchte sie Lehrpersonen unterstützen, das Thema aufzugreifen, und damit die Pflegeaus­bildung verbessern. Unter dem abgebildeten QR-Code können Sie ein selbst erlebtes oder beobachtetes Dilemma anonym berichten und somit zum Wissen über Dilemmata und dem Umgang damit beitragen. Auch freut sich Julia Göhler über den Kontakt zu Pflegefach­personen, die zu einem Interview bereit sind (Kontakt: julia.goehler@medicalschool-berlin.de).

Was können Vorgesetzte tun, um Pflegefachpersonen im Umgang mit Dilemmata zu unterstützen?

Das hängt von der Situation, der Art und der Schwere des Dilemmas ab. Wenn es zum Beispiel um die Entscheidung „PEG – ja oder nein“ geht und die Teammitglieder unterschiedlicher Meinung sind, ist es sinnvoll, vorhandene Strukturen zu nutzen wie Ethikberatung, Ethikkomitees oder auch Supervision. Für solche Grenzsituationen braucht es klare Richtlinien und Vorgehensweisen. Im Stationsalltag ist vor allem eine offene Fehlerkultur gefragt, in der allen Beteiligten klar ist: Fehler passieren, sie dürfen auch passieren und es ist im Team erwünscht, dass sie ausgesprochen werden. Sonst kommt es zu der häufig berichteten Dilemmaentscheidung: Ich will keine Fehler machen, also gebe ich sie auch nicht zu. Wichtig finde ich zudem Fortbildungen, um sich der eigenen Werte, aber auch ethisch und moralisch grenzwertiger Entscheidungen bewusst zu werden und Möglichkeiten des Umgangs damit auszuloten.

Wie kamen Sie als Berufspädagogin dazu, sich mit dem Thema zu beschäftigen?

Im Austausch mit den Studierenden und angehenden Pflegefachpersonen ist mir auf­gefallen, dass sie immer häufiger wirklich schwierige Probleme aus ihrem Pflegealltag thematisiert haben – und das in einer Frequenz, dass einem fast schwindelig geworden ist. Bei diesen Problemen handelte es sich aber eigentlich um Dilemmata. In der Auseinandersetzung mit diesem Thema war mir klar: Bei einem Dilemma braucht es einen ganz anderen Ansatz als bei einem Problem. Da es dazu relativ wenig Literatur gibt, war mein Forschungsinteresse geweckt.

Was weiß man aus wissenschaftlicher Sicht über Dilemmata und den Umgang damit – gerade in den Gesundheitsberufen?

Vergleichsweise wenig. Insbesondere Berichte aus dem deutschsprachigen Raum sind rar. Es gibt einige Studien, die Dilemmasituationen dokumentieren. Speziell zum Umgang Pflegender mit Dilemmata gibt es aber wenig belastbare Literatur. Eine Ausnahme sind die bekannten Coolout-Studien der Pflegewissenschaftlerin Karin Kersting. Sie hat untersucht, wie Pflegende den Widerspruch zwischen dem hohen pflegefachlichen Anspruch und den ökonomischen Zwängen in ihrem Arbeitsalltag aushalten – auch das ist ja ein fortwährendes Dilemma. In ihrer Coolout-Theorie beschreibt Frau Kersting, wie Pflegende lernen, sich kühl und unempfindlich gegenüber dem Widerspruch zu machen. Die Gefahr dabei aus meiner Sicht: Wir könnten gute Pflegende verlieren, wenn wir das Thema Dilemmata nicht adressieren und Pflegende damit alleinlassen. Wir brauchen ein professionelles Angebot, um damit angemessen umzugehen. Sonst schichtet sich der moralische Distress, der mit einem Dilemma einhergeht, immer weiter auf.

Was ist das Ziel Ihrer weiteren Forschung?

Ich möchte zunächst einmal ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es Dilemmata im Pflegealltag gibt und wie wichtig es ist, einen bewussten Umgang damit zu finden. Wichtig wäre mir auch, gute Angebote zu schaffen, um das Thema in die Ausbildung von Pflegefachpersonen einzubinden. Das gilt ebenso für Studierende, die sich im Lehramtsstudium befinden, wie auch für erfahrene Lehrpersonen. Ein wichtiges Ziel ist natürlich, dazu anzuregen, über Dilemmata im Berufsalltag zu sprechen. Hier gibt es einen großen Bedarf: Pflegende sprechen spät oder gar nicht über ihre Dilemmata. In den Interviews haben viele gesagt: „Endlich interessiert sich mal jemand dafür.“ Wünschen würde ich mir auch, dass das Thema interprofessionell bearbeitet wird, mit Ethikerinnen, Juristen, Pflegewissenschaftlerinnen, Psychologen, Medizinerinnen und so weiter. Wir brauchen ein möglichst breites Spektrum an Sichtweisen, um dieses Thema professionell anzugehen.

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