Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat Mitte Dezember Eckpunkte für ein Pflegekompetenzgesetz vorgestellt und dafür Begeisterung geerntet. Im Interview erklärt die Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR), Christine Vogler, warum der Entwurf ein enormer Fortschritt für die Pflege ist und was nun ausformuliert werden muss.
Frau Vogler, das Eckpunktepapier für ein Pflegekompetenzgesetz ist innerhalb der Profession Pflege euphorisch aufgenommen worden. Was macht das Papier so besonders?
Am meisten beeindruckt mich die neue Haltung des Gesetzgebers zur Pflege. Denn so wie hier wurde unser Berufsstand noch nie in den Mittelpunkt gestellt. Das Vertrauen in unsere Kompetenzen war noch nie so groß. Pflege war Beiwerk. Mit diesem Entwurf erkennt das Bundesgesundheitsministerium die Profession Pflege als das an, was sie ist: ein hochkompetenter Teil der Versorgung.
Pflegefachpersonen sollen künftig heilkundliche Aufgaben ausüben. Das Bundesgesundheitsministerium nennt hier Ernährung, Wundbehandlung oder Demenz – also die Bereiche, für die es schon Module für den Erwerb erweiterter heilkundlicher Kompetenzen gibt. Hätte man hier nicht weitergehen sollen?
Der Verweis auf die Module ist als erster Schritt zu verstehen. Im Spitzengespräch im Dezember ist klar geworden, dass das nur der Anfang ist. Die Pflege soll Handlungsautonomie erhalten: vom Diagnostizieren übers Verordnen bis zur Betreuung. Doch auch Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden. Ein einzelnes Gesetz wird das System nicht von jetzt auf gleich verändern können. Mit den Eckpunkten wurde der erste Schritt getan, dem viele weitere folgen müssen. Es kommt viel Arbeit auf uns zu. Vor allem wird ein unablässiges Mit- und Einwirken im Rahmen der Gesetzgebung notwendig sein.
Erweiterte Kompetenzen sind insbesondere für akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen geplant. Welchen Effekt wird dies in der Praxis konkret haben?
Die erweiterten Befugnisse sollen für alle Pflegefachpersonen gelten. Sie sollen entsprechend ihrer vorhandenen Kompetenzen zum Beispiel eigenverantwortlich Leistungen häuslicher Krankenpflege beziehungsweise Pflegehilfsmittel verordnen oder aber auch komplexe Beratungs- und Aufklärungsgespräche führen. Die damit verbundene Ausweitung der Pflegekompetenzen hat aber auch den Effekt, dass Deutschland für Pflegefachpersonen aus dem Ausland attraktiver wird. Viele von diesen haben bisher abgewunken nach dem Motto: „Mit dem, was ich kann, werde ich hier nicht gebraucht.“ Hoch qualifiziertes Personal aus dem Ausland kann in Zukunft hier auch eine Heimat finden.
Pflegefachpersonen mit einem Master könnten neben der Verordnung von Hilfsmitteln künftig unter Umständen auch bestimmte Arzneimittel verordnen. Diese Arzneimittel sollen anhand einer Positivliste geprüft werden, so Lauterbach. Das Feststellen der Diagnose und das Ansetzen eines Medikaments bleibe aber ärztliche Tätigkeit. Reicht Ihnen das?
Wir steigen erst mal mit den Verordnungen ein und schauen, wie sich das entwickelt.
Wird der Masterabschluss nicht überbetont? Schließlich verfügt Deutschland über eine qualifizierte, kürzlich erst grundlegend reformierte berufliche Pflegeausbildung.
Wie schon gesagt: Es geht um Pflegefachpersonen insgesamt – mit und ohne akademischem Abschluss. Alle sollen mehr Befugnisse erhalten. Acht von 17 Punkten des Eckpunktepapiers beziehen sich explizit auf Pflegefachpersonen mit beruflicher Ausbildung. Wichtig ist für uns, Karrierewege in der Pflege künftig bundeseinheitlich, transparent und durchlässig zu gestalten. Das würde der Attraktivität des Pflegeberufs einen Riesenschub verleihen. Denn Pflegefachpersonen schätzen ihren Beruf in der Regel sehr und sind ihm treu. Keiner geht aus Versehen in die Pflege. Es ist eine bewusste Entscheidung. Weiterentwicklungsmöglichkeiten und klare Perspektiven sind da Gold wert. Nun muss der Bund mit den Ländern dafür sorgen, dass einheitliche Bildungsstrukturen entstehen.
Vorläufige Eckpunkte Pflegekompetenzgesetz
Ein Kurzpapier der vorläufigen Eckpunkte für ein Pflegekompetenzgesetz steht auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums zum Download zur Verfügung.
Lauterbach bekräftigt, dass Pflegefachpersonen künftig kleine Krankenhäuser leiten dürfen. Die Idee stammt aus dem Entwurf zur Krankenhausreform. Sie wurde in den vergangenen Monaten allerdings verwässert. Freut es Sie, dass der Minister den umstrittenen Punkt aufnimmt, oder fürchten Sie, es könnte nur ein Lippenbekenntnis bleiben?
Im Zuge der Diskussion um die Krankenhausreform ist dieser Punkt leider verloren gegangen. Insofern begrüßen wir diese Ankündigung. Es ist die Chance der Pflege auf mehr Mitbestimmung im Versorgungsprozess.
Die Eckpunkte sehen eine berufsständische Vertretung der Pflege auf Bundesebene vor. Kann der Deutsche Pflegerat diese Funktion übernehmen?
Um die Pflegeprofession zu stärken, ist eine Berufsvertretung auf der Bundesebene dringend erforderlich. Eine solche Organisation muss dauerhaft und unabhängig an wichtigen Themen wie Handlungskompetenz, Bildung, Versorgungssicherung, Berufsverständnis und Berufsrollen arbeiten können. Sie muss gleichzeitig etabliert und politisch ansprechbar sein. Sie muss in der Lage sein, Verantwortung zu übernehmen und die Anliegen der Profession effektiv auf der Bundesebene zu vertreten. Viele dieser Aufgaben kann der Deutsche Pflegerat übernehmen – bei weiterer Stärkung durch den Bund. Wichtig ist zudem der Aufbau weiterer Pflegekammern, um eine stabile Bundespflegekammer zu sichern. Hier sind die Länder gefragt.
Der Deutsche Pflegerat erhält derzeit vom Bund 900.000 Euro pro Jahr, um Strukturen aufzubauen. Was machen Sie mit dem Geld?
Die Förderung durch das Bundesgesundheitsministerium aufgrund eines Beschlusses des Bundestags dient vor allem dem Aufbau der Geschäftsstelle des DPR. Verwendet wird das Geld unter anderem für die Anstellung von sechs Referent:innen. Davor wurde die Arbeit des DPR weitgehend ehrenamtlich geleistet. Ein Teil des Geldes fließt in die Öffentlichkeitsarbeit. Unsere Arbeit wird bereits jetzt vom Ministerium evaluiert. Wir sind dankbar und hoffen, dass die Finanzierung nach den angesetzten drei Jahren weitergeht.
In den Eckpunkten steht folgender Satz: „Darüber hinaus prüfen wir geeignete Beteiligungsrechte bei Prozessen, die berufsständische und pflegerische Fachfragen auf Bundesebene betreffen.“ Wie interpretieren Sie diesen Satz – ist hier das Stimmrecht der Pflege im Gemeinsamen Bundesausschuss gemeint? Haben Sie eine konkrete Vorstellung davon, wie die Pflege in diesem obersten Beschlussgremium des Gesundheitswesens verortet sein sollte?
Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung sieht eine Reform des Gemeinsamen Bundesausschusses vor – inklusive erweiterter Mitsprachemöglichkeiten für die Pflege in Fragen, die die Berufsgruppe betreffen. Diese Umsetzung gilt es, im Auge zu behalten. Ansonsten gilt momentan Folgendes: Was wir jetzt in den Händen halten, sind erst mal nur Eckpunkte. Wir freuen uns über jedes Signal, das eine Stärkung der Profession Pflege und eine Anerkennung ihrer Kompetenzen bedeutet. Aber wir sind nicht naiv. Es muss jetzt darum gehen, jeden einzelnen Punkt aufzunehmen und im Gesetzgebungsprozess zu präzisieren. Das wird ein komplexer Weg. Auch intern gibt es einiges zu diskutieren, denn die Pflege ist eine riesige Berufsgruppe.
In der Pflege gibt es sehr akute Probleme – eines der größten ist der Fachkräftemangel. Was könnte ein Gesetz, wenn es im Laufe dieses Jahres kommt, kurzfristig ändern?
Alles, was wir jetzt aufsetzen, hilft nicht unmittelbar. Die Weichenstellung ist auf die Zukunft gerichtet. Außerdem dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass die Umsetzung in einer Legislatur zu schaffen ist. Andere Länder haben dafür viele Jahre gebraucht. Allerdings könnte uns die Not in die Hände spielen und den ein oder anderen Prozess beschleunigen.