Mehr Geld und mehr Zeit – das wünschen sich viele Pflegende. Jobaussteiger sagen sogar, dass sie dann in ihren Beruf zurückkehren würden. Einige Krankenhäuser reagieren darauf jetzt mit flexiblen Arbeitszeitmodellen.
Dennis und Julia Greger sind Pflegefachpersonen im Klinikum Westfalen in Dortmund. Julia Greger hat eine Teilzeitstelle und ist im Schichtdienst tätig, Dennis Greger arbeitet voll, ist als Fachkrankenpfleger für Onkologie aber freigestellt und arbeitet in Gleitzeit.
Das Ehepaar hat zwei Söhne, sechs und zehn Jahre alt. Damit immer einer von ihnen für die Jungs da sein kann, ist ihre Woche minutiös durchgetaktet. Wenn Julia Greger Frühdienst hat, fährt sie frühmorgens um 5 Uhr los. Dennis Greger steht dann um 6.30 Uhr mit den Kindern auf und macht sie für die Schule fertig. Kurz vor 8 bricht er selbst zur Arbeit auf. Abhängig vom Verkehr braucht er von Selm, dem Wohnort der Familie, bis zum Klinikum eine Stunde oder mehr. Seine Frau macht um 14 Uhr Feierabend und ist dann ab 15 Uhr mit den Kindern zu Hause. Dennis Greger trifft zwischen 18.30 und 19 Uhr zu Hause ein. In der nächsten Woche läuft das Ganze umgekehrt ab: Dennis Greger verlässt das Haus morgens um 5, seine Frau startet um 8 in den verkürzten Frühdienst. So oder so: Viel gemeinsame Zeit bleibt den Gregers nicht.
In den Ferien müssen die Eheleute einen noch größeren Spagat hinbekommen. „Schichtdienst nimmt keine Rücksicht auf Ferien“, sagt Dennis Greger. Die städtischen Ferienfreizeiten beginnen nicht vor 9 Uhr. Das heißt, der zweifache Vater kann frühestens um 10 Uhr anfangen zu arbeiten und ist dann noch später zu Hause. Wenn die Stadt überhaupt Ferienfreizeiten anbietet: Im vergangenen Sommer war sie dafür zu knapp bei Kasse, die Ferienspiele mussten ausfallen.
Model 1: "34 zusätzliche Urlaubstage, 13 Prozent Gehalt weniger"
Als das Klinikum im Oktober ein neues Arbeitszeitmodell vorstellte, setzten sich die Gregers sofort hin und rechneten es durch. Das Klinikum nennt das Modell „FerienFreiZeit“: Ab 2024 gibt es zusätzlich zu den tariflich festgelegten 30 Urlaubstagen weitere 34 freie Tage – so viel wie Ferientage in Nordrhein-Westfalen. Im Gegenzug verzichten die Mitarbeitenden über das Jahr auf 13 Prozent ihres Gehalts. Sie können sich jeweils für ein Jahr dafür entscheiden. Bewerben können sich Angehörige aller Berufsgruppen.
„Uns liegen etwa 35 Bewerbungen für das kommende Jahr vor“, sagt Pflegedirektor Klaus Böckmann. Möglicherweise können nicht alle auf einmal berücksichtigt werden – das hängt davon ab, ob die jeweiligen Abteilungen die zusätzlichen freien Tage mit anderen Arbeitskräften abdecken können. Aber es soll gerecht zugehen. „Jede und jeder, die oder der sich dafür interessiert, soll die Möglichkeit bekommen, wenn nicht im nächsten, dann im übernächsten Jahr zusätzliche Urlaubstage zu beantragen“, sagt Böckmann. „Kinder im schulpflichtigen Alter sind dafür keine Bedingung – aber hilfreich.“
Dennis Greger und seine Frau haben entschieden, dass er die „FerienFreiZeit“ wahrnimmt. Würden sich beide darauf bewerben, wären die finanziellen Einbußen für die Familie zu groß. Der Fachkrankenpfleger freut sich auf mehr Familienzeit im nächsten Jahr, auf Angelwochenenden mit seinen Jungs und dass sie öffentliche Betreuungsangebote annehmen können, aber nicht müssen. „Das wird mal ein etwas entspannteres Jahr“, sagt er.
Aktuelle Studie: Neue Arbeitszeitmodelle bieten das Potential für bis zu 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte
Mehr Zeit – das wünschen sich viele Beschäftigte in der Pflege. Eine Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen in Zusammenarbeit mit der Arbeitskammer des Saarlandes und dem Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule zeigt, dass in Deutschland mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte mehr zur Verfügung stünden, wenn die Arbeitsbedingungen besser wären. An der Online-Befragung „Ich pflege wieder, wenn ...“ haben im vergangenen Jahr rund 12.700 Aussteiger sowie in Teilzeit beschäftigte Pflegende teilgenommen. Ganz weit oben steht für die Befragten neben einer ausreichenden Personaldecke, einer besseren Bezahlung und verlässlichen Arbeitszeiten auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Dienstpläne sollten sich stärker an individuellen Bedürfnissen ausrichten.
„Viele Pflegende hängen diesen wunderbaren Beruf an den Nagel, weil er sich nur schwer mit ihrem Familienleben vereinbaren lässt“, weiß auch Böckmann. „Das soll und darf uns nicht passieren.“ Um Fachkräfte von sich zu überzeugen und vor allem auch zu halten, hat das Klinikum Westfalen schon vor vier Jahren flexible Arbeitsmöglichkeiten geschaffen. Zum Klinikum gehören vier Krankenhäuser mit insgesamt 3.000 Beschäftigten. Seit drei Jahren gibt es „½ ganzes Jahr“, ein Arbeitszeitmodell, bei dem die Beschäftigten sechs Monate arbeiten und dann sechs Monate am Stück frei bekommen (Textkasten). Über das Jahr hinweg erhalten sie 50 Prozent ihres Gehalts. Daneben gibt es noch „1/4 ganzes Jahr“: Für drei Viertel ihres Gehalts können Pflegekräfte neun Monate am Stück arbeiten und dann eine dreimonatige Auszeit nehmen.
„Neben einer größeren Mitarbeiterzufriedenheit profitieren wir auch von einem großen öffentlichen Interesse“, erzählt Böckmann. „Man nimmt uns wahr als Krankenhaus, das es seinen Mitarbeitenden ermöglicht, ihre Träume zu verwirklichen.“ Es lägen bereits Bewerbungen vor, weil sich die „FerienFreiZeit“ herumgesprochen hat. Auch zum „1/4 ganzen Jahr“ gebe es interessierte Nachfragen. Leider habe es solche Angebote noch nicht gegeben, als seine Kinder – heute 17 und 19 Jahre alt – noch klein waren. „Es wäre mein großer Traum gewesen, vor ihrer Einschulung noch einmal längere Zeit mit der Familie zu verreisen“, sagt Böckmann.
Modell 2: 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich
Viele Krankenhäuser beschreiten derzeit neue Wege, um für Fachkräfte attraktiver zu werden. Die Waldkliniken Eisenberg und die Gewerkschaft Verdi haben im Juli einen Tarifvertrag abgeschlossen, der bis 2028 die schrittweise Einführung einer 35-Stunden-Woche vorsieht – bei vollem Lohnausgleich. Außerdem soll das Gehalt in zwei Schritten um insgesamt neun Prozent angehoben werden. Der Vertrag sieht darüber hinaus 31 Urlaubstage im Jahr vor, Nachtzulagen bereits ab 20 Uhr und fünf Tage bezahlte Fort- und Weiterbildung im Jahr. Beschäftigte, die Vollzeit arbeiten, bekommen jedes zweite Wochenende frei, mindestens aber an sechs Wochenenden im Quartal. Darüber hinaus gibt es ab 2025 eine Sonderzahlung von 3.000 Euro pro Jahr. Mitarbeitende, die bei der 40-Stunden-Woche bleiben wollen, bekommen dafür entweder mehr Geld oder können auf ein Lebensarbeitszeitkonto einzahlen: So können sie entweder früher in Rente gehen oder Zeit für ein Sabbatical ansparen.
„Die höheren Bezüge sind für die wenigsten interessant“, berichtet Geschäftsführer David-Ruben Thies, „die allermeisten entscheiden sich für die 35-Stunden-Woche.“ Der „Eisenberger Tarif“ gilt für die Verdi-Mitglieder unter den Beschäftigten der Waldkliniken Eisenberg, der Rudolf-Elle-Service GmbH und des angegliederten Medizinischen Versorgungszentrums Meine Poliklinik. Derzeit sind etwa 65 Prozent der Mitarbeitenden in der Gewerkschaft – „Tendenz steigend“, sagt Thies, „ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir die 100-Prozent-Marke knacken.“
Die Waldkliniken Eisenberg werben nicht nur sehr erfolgreich neue Gewerkschaftsmitglieder an. „Wir erhalten wesentlich mehr Bewerbungen und führen viele interessante Gespräche mit potenziellen neuen Mitarbeitenden“, erzählt Thies. Insbesondere das Recruiting für die Rehaklinik, die im Frühjahr 2024 eröffnet wird, sei hervorragend gelaufen; nahezu alle 120 Stellen seien besetzt – anderthalb Monate nach Einführung des neuen Tarifs und in Zeiten des Fachkräftemangels. Zwar habe schon vorher in Eisenberg kein Personalmangel geherrscht. Aber die Waldklinik muss mehr Personal aufbauen, um bei verkürzter Arbeitszeit die Patientenversorgung aufrechterhalten zu können. Bis 2028 werden dafür etwa 70 neue Pflegefachpersonen gebraucht. „Wir werden sie finden“, ist Thies überzeugt. Um die Finanzierung der höheren Personalkosten macht er sich keine Sorgen. Die Kapazitätsgrenze der Einrichtung sei noch nicht erreicht, „und mit mehr Mitarbeitenden werden wir die Fallzahlen noch etwas hochfahren können.“
Mit seiner Zuversicht erntet Thies nicht nur Applaus. „Es kommt vor, dass andere Geschäftsführer ihren Kopf wegdrehen und mich nicht mehr grüßen, wenn sie mich auf einem Kongress sehen“, erzählt der gelernte Krankenpfleger. Weil er sie unter Zugzwang setzt? Weil sie befürchten, dass ihnen ihr Personal wegläuft? Möglicherweise ist diese Angst nicht ganz unberechtigt: „Wir erhalten tatsächlich Bewerbungen aus dem gesamten Bundesgebiet. Wenn die Arbeitsbedingungen stimmen, kann eben auch eine Kleinstadt in Thüringen zu einem Magneten für Fachkräfte werden.“ Den Wettbewerb um Mitarbeitende gibt es schon lange; auch das Bemühen, Jobaussteiger in den Pflegeberuf zurückzuholen, ist nichts Neues. „Jedes Krankenhaus muss seinen eigenen Weg finden, damit umzugehen“, sagt Thies.
Modell 3: Vier-Tage-Woche: Mehr Freizeit bei gleichem Lohn, aber mehr Stress an den Arbeitstagen?
Für die Hochtaunus-Kliniken sieht das so aus: vier Tage arbeiten, drei Tage frei. An allen drei Standorten – in Bad Homburg, Usingen und Königstein – wird ab dem 1. Januar 2024 die Vier-Tage-Woche eingeführt. „Wir wollen unseren Mitarbeitern mehr zeitliche Flexibilität, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und längere Erholungsphasen ermöglichen“, sagt Klinikgeschäftsführerin Dr. Julia Hefty. Damit eine volle Vergütung weiterhin möglich ist, ändert sich nichts an der Gesamtarbeitszeit. Die Beschäftigten können sich allerdings aussuchen, ob sie an vier oder fünf Tagen arbeiten möchten. „Niemand muss auf Geld verzichten, um einen zusätzlichen freien Tag zu haben“, so Hefty.
Das Angebot gilt für Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte ebenso wie für alle anderen Berufsgruppen. Dafür seien die Strukturen auf allen Stationen geschaffen worden. „Wir haben uns bewusst gegen einen Testlauf auf nur wenigen Stationen entschieden“, unterstreicht die Klinikchefin. Um die Vier-Tage-Woche im Pflegedienst umsetzen zu können, sei der Flexi-Pool ein wichtiges Instrument. „Während bei uns jede Pflegekraft in einer Abteilung ihr festes Team und ihre Kern-Fachabteilung hat, ist das bei den Pflegekräften, die sich für den Flexi-Pool entscheiden, ganz anders“, sagt Julia Hefty. „Sie suchen sich aus, an welchen Tagen, zu welchen Zeiten und wie viel insgesamt sie arbeiten wollen und werden dann dort eingesetzt, wo sie gebraucht werden.“
Ein wenig anders sieht es beim ärztlichen Dienst aus: Bevor alle Ärzte frei wählen können, wollen die Hochtaunus-Kliniken zunächst in begrenztem Rahmen einige Monate Erfahrungen damit sammeln. Dies soll an den internistischen und pneumologischen Kliniken am Standort Usingen geschehen. Die dort beschäftigten Ärzte in der Weiterbildung sowie die Fach- und Oberärzte können sich ebenfalls zwischen einer Vier- oder Fünf-Tage-Woche entscheiden. Wenn das gut funktioniert, sollen die anderen Kliniken und Standorte später nachziehen.
Auch an anderen Kliniken gibt es bereits die Vier-Tage-Woche ohne Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit. Dazu zählt das Klinikum Bielefeld. Es hat im Juli ein Pilotprojekt gestartet, bei dem das Pflegepersonal einer Station zunächst bis zum Ende dieses Jahres seinen Dienst an nur vier Wochentagen absolviert.
Oder das Krankenhaus Bethanien im niederrheinischen Moers: Dort wurde die Vier- Tage-Woche probeweise auf einer Palliativstation eingeführt. Allerdings ist das Klinikum nach nur sechs Wochen wieder zu den alten Arbeitszeiten zurückgekehrt. „Anfangs waren alle positiv gestimmt, doch leider herrschte schnell immer mehr Unzufriedenheit“, erklärt der stellvertretende Pflegedirektor Andre Filipiak. „Die verlängerten Dienstzeiten haben zu Schwierigkeiten im Privatleben und einer hohen Erschöpfung des Pflegepersonals geführt.“ Dennoch habe das Experiment gezeigt, wie wichtig es ist, die Arbeitszeiten an den Wünschen des Personals auszurichten. „Wer will, kann weiterhin an nur vier Tagen arbeiten“, sagt Filipiak. Vereinzelte Mitarbeiter machten nach wie vor von diesem Angebot Gebrauch.