• 25.10.2021
  • Praxis
Porträt

Der Maestro der Diplomatie

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 11/2021

Seite 30

Nach 30 Jahren Berufspolitik geht Franz Wagner im November 2021 in den Ruhestand. Als langjähriger Geschäftsführer des DBfK und Präsident des Deutschen Pflegerats hat er die Weiterentwicklung der Pflege mitgeprägt wie kaum ein anderer – mit Diplomatie, Weitblick und einem großen internationalen Netzwerk. Jetzt überlässt er anderen das Ruder. 

In Bewerbungsgesprächen pflegte Franz Wagner immer zwei Ratschläge zu geben. Erstens: „Man braucht mindestens ein Jahr, bis man beim DBfK durchblickt. Nach zwei Jahren wird es dann langsam besser.“ Zweitens: „Egal was wir machen, es wird nie genug sein. Darum ist es wichtig, Prioritäten zu setzen.“

Franz Wagner spricht aus Erfahrung. Seit 30 Jahren ist er auf der berufspolitischen Bühne aktiv, seit über 20 Jahren als Geschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK). Hinzu kommen vier Jahre als Präsident des Deutschen Pflegerats (DPR), elf Jahre als DPR-Vizepräsident, zwölf Jahre als Direktor des WHO Collaboration Center Pflege und vier Jahre als Vizepräsident des International Council of Nurses (ICN). Und das ist nur eine Auswahl der zahlreichen Posten, die er innehatte. Die Liste ist lang.

In Vorträgen zitiert Wagner gerne den Ökonomen und Soziologen Max Weber, der Politik als „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern“ bezeichnete. Denn ob das neue Ausbildungsgesetz, Personalbemessung, Pflegekammern oder Akademisierung – Fortschritte lassen oft lange auf sich warten und sind schwer erkämpft. Da helfen nur Geduld und Optimismus, meint Wagner. Wenn manche beklagen: „Wir drehen uns im Kreis“, sieht er es positiv: „Wir drehen uns in einer Spirale. Manchmal sind die Abstände zwischen den Spiralen halt größer und manchmal kleiner.“ Auch bei Rückschritten ist ihm bewusst: Es hat sich trotzdem etwas verändert. „Wenn man das so sehen und damit zufrieden sein kann, nur dann kann man es in diesem Geschäft aushalten.“

Per Zufall in die Pflege und Berufspolitik

Es ist nie sein Plan gewesen, in die Pflege oder in die Berufspolitik zu gehen. Die Pflegeausbildung nach dem Fachabitur ist eher der Notnagel, eigentlich möchte er Lehrer werden. Es gibt ein Kinderfoto, das zeigt ihn als Vierjährigen mit dem Häubchen seiner Tante Elisabeth, einer langjährigen OP-Schwester, mit einem weißen Geschirrtuch umgebunden. Später sagt er dazu immer im Spaß „Es war mir schon in die Wiege gelegt“, auch wenn er weiß, im Endeffekt war es eher der Zufall.

Was die Pflege betrifft, ist er schon in jungen Jahren vorgeprägt. Seine Mutter erkrankt an Multipler Sklerose, als er neun Jahre alt ist. Er ist der Älteste von drei Kindern und bekommt schon früh mit, was eine chronische Erkrankung für die Familie bedeutet. Über 40 Jahre lang wird seine Mutter zu Hause betreut – überwiegend von seiner Schwester und seinem Vater. Die Erkrankung ist zwar nicht ausschlaggebend für seine Berufswahl, aber sie schärft seine Sensibilität für die Perspektive der Betroffenen. Das kommt ihm später in der Berufspolitik zugute.

Er startet eine Ausbildung als Krankenpfleger in einer psychiatrischen Klinik in Regensburg zu einer Zeit, in der es „eher ums Verwahren als Therapieren“ geht. Danach wechselt er bewusst ans andere Ende des Spektrums und geht auf eine Intensivstation in ein Nürnberger Klinikum. Hier bleibt er sieben Jahre, absolviert eine Weiterbildung als Intensivpfleger und später als Stationsleitung. Als sie an der Pflegeschule Schulassistenten suchen, ergreift er die Chance und schließt noch eine Weiterbildung als Lehrer für Pflegeberufe an. „Für mich schloss sich damit der Kreis“, sagt er. „Ich wollte ja früher Lehrer werden, nun wurde ich also Lehrer für Pflegeberufe. Ich hatte nie einen Karriereplan. Oft waren es Zufälle, und ich hatte immer auch ein bisschen Glück und Fördernde, wenn der nächste Schritt anstand.“

In dieser Nürnberger Zeit beginnt auch sein berufspolitisches Interesse. Er ist zwar schon seit 1982 DBfK-Mitglied, aber zunächst „nicht sonderlich aktiv“. Angeregt durch eine Kollegin übernimmt er 1990 den Vorsitz für den Bezirk Mittelfranken im Bundesausschuss der Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberufe (BA), wie der Verband damals hieß. So kommt er in die organisierte Berufspolitik und wird später stellvertretender Vorsitzender des BA.

Ausflüge in die Wissenschaft und internationales Engagement

In dieser Zeit arbeitet er weiter als Pflegelehrer und kommt durch sein berufspolitisches Engagement immer stärker mit wissenschaftlichen Themen in Berührung. Das weckt in ihm den Wunsch, selbst zu studieren. 1996 geht er nach Edinburgh, Schottland, und macht seinen Master in Pflegewissenschaft. Von seiner Schule wird er in dieser Zeit beurlaubt. Er studiert am ältesten pflegewissenschaftlichen Institut in Europa zusammen mit Studierenden aus dem Libanon, Kanada und Österreich. Im Nachhinein sagt er: „Es war die schönste und schrecklichste Zeit meines Lebens“ – begeisternd und inspirierend auf der einen Seite, ein wahnsinniger Druck auf der anderen Seite, denn alle Essays und auch die Masterarbeit müssen unter Zeitdruck auf Englisch verfasst werden.

Zurück in Deutschland arbeitet er wieder als Lehrer und baut das Pflegewissenschaftliche Institut am Klinikum Nürnberg mit auf, das er dann nebenberuflich als Geschäftsführer leitet. Ein Jahr später in 1999 wird die Stelle des Geschäftsführers beim DBfK ausgeschrieben. Eine Freundin ermuntert ihn: „Das wäre doch etwas für dich.“ Er ist zögerlich, rechnet sich keine guten Chancen aus, schließlich wurden bislang für diese Position immer nur Frauen genommen. Er denkt, bewerben kannst du dich ja, du wirst eh nicht eingeladen. Doch er wird eingeladen und bekommt – für ihn unerwartet – die Zusage. Er hat nur vier Tage Zeit, um sich zu entscheiden. Sein eigentlicher Plan war, ab 2000 in Edinburgh zu promovieren. Doch er entscheidet sich für den DBfK. „Ich dachte, diese Stelle kommt nur einmal im Leben, aber promovieren kannst du immer.“ Ihn reizt, berufspolitisch noch mal auf einer anderen Ebene mitgestalten zu können und damit die Dinge, die ihm wichtig sind, voranzubringen. Und natürlich international zu arbeiten! Der DBfK bietet mit seinen Verbindungen und der Mitgliedschaft im ICN dafür optimale Voraussetzungen.

Schon 2001 wird er in den ICN-Vorstand gewählt und vier Jahre später zum ICN-Vizepräsidenten. International wird er lange Zeit als das „deutsche Gesicht“ der Pflege wahrgenommen und manche seiner ausländischen Kollegen fragen ihn, ob er denn die „only German nurse“ sei, man sehe ja nur ihn. „Ich habe mich immer als Botschafter gesehen“, sagt er. Ihm ist klar, dass die deutsche Pflege von dem, was international passiert, profitieren kann, und er bringt wichtige Entwicklungen von seinen Reisen mit. „Aber auch wir haben fachlich viel zu bieten“, weiß er. Er baut sich auf fast allen Kontinenten ein großes internationales Netzwerk mit Pflegenden – und mittlerweile auch Freunden – auf. „Ich möchte eine Art Brücke sein“, sagt er.

"Verlässlich, vernetzend, humorvoll"

Denn Politik bedeutet auch Diplomatie – oft müssen widerstrebende Interessen unter einen Hut gebracht werden. „Ich bin von Haus aus gut darin, Kompromisse zu erzielen“, sagt Franz Wagner. Und oft siege die Kraft des Arguments. „Wenn man ein gutes Argument hat und etwas überzeugend darstellen kann, hat man die Chance, gehört zu werden“, sagt er. Für ihn ist es eine zentrale berufspolitische Aufgabe, wichtige Themen auf die Agenda zu setzen und damit in den politischen Diskurs zu bringen. „Wenn man so ein Verständnis von politischem Wirken hat, dann kann man durchaus auch die Erfolge sehen.“

Dass Franz Wagner ein Meister der Diplomatie ist, schätzen auch seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter an ihm. „Für mich ist Franz Wagner ein großes Vorbild“, sagt Christel Bienstein, Präsidentin des DBfK. „Er ist immer in der Lage, zwischen sich gegenüberstehenden Meinungen eine gemeinsame Lösung zu finden.“ Auch hebt sie sein internationales Engagement hervor: „Seine Entscheidungen sind nicht nur für die Pflege in Deutschland von Bedeutung, sondern er hinterlässt auch auf internationaler Ebene seinen Abdruck.“

Frank Weidner, Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung e. V. (DIP), schätzt vor allem seinen „riesigen Erfahrungsschatz und sein diplomatisches Geschick“. Wagner habe sich „für die Akademisierung, Forschung, Förderung und Innovation der professionellen Pflege in Deutschland nachhaltig eingesetzt“ und immer neue Entwicklungen unterstützt, wie aktuell etwa die Qualifikation zur Community Health Nurse in Deutschland. Beeindruckt haben Weidner nicht nur sein „Hintergrundwissen und seine klugen Einschätzungen“, sondern auch seine Ruhe, Gelassenheit und sein besonderer Humor. Weidner war auch derjenige, der Franz Wagner im Namen der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) im Oktober 2019 die Ehrendoktorwürde verliehen hat – für seine besonderen Verdienste um die Weiterentwicklung der Pflege. Diese Auszeichnung durch die PTHV erfolgte in 15 Jahren nur zweimal.

Seine Nachfolgerin und jetzige DPR-Präsidentin Christine Vogler beschreibt ihn als „kompetent, redegewandt, verlässlich, vernetzend, verantwortungsvoll, humorvoll, engagiert“. Er sei „ein unermüdlicher Streiter und Einforderer für die Berufsgruppe Pflege“, sagt sie. „Da geht ein ganz Großer!“

Im Herzen ein Sizilianer

Auch nach 45 Jahren ist die Pflege für Franz Wagner immer noch der „tollste Beruf der Welt“. Und deshalb ist es ihm auch ein wichtiges Anliegen, dass die Pflegenden eine gute Ausbildung und gute Arbeitsbedingungen haben, sodass sie wirklich gut pflegen können.

Nicht alles hat er erreicht, was er gerne erreicht hätte. Manche Dinge haben ihn auch frustriert, zum Beispiel, dass „wir an einigen Stellen doch nicht weiterkommen“, obwohl doch schon so früh absehbar war, was zu tun gewesen wäre. Und dann politisch doch nichts passierte. Auch dass die eigene Berufsgruppe sich so gegen eine Pflegekammer wehrt, frustriert ihn. „Ich frage mich manchmal, ob die Pflegenden darauf warten, dass jemand kommt und sagt: Ihr habt es so schlimm, das kann ich gar nicht mitansehen und jetzt tue ich etwas. Das wird nicht passieren!“

Wenn Wagner nun im November nach 30 Jahren die berufspolitische Bühne verlässt, ist das für ihn endgültig. Mitmischen möchte er nicht mehr. „Die Nachfolgenden haben aus meiner Sicht einen Anspruch darauf, dass man sie ihren eigenen Weg finden lässt“, sagt er. Auch wenn er für Fragen natürlich immer ein offenes Ohr haben werde.

Vorstellen könne er sich hingegen, weiter etwas zu seinen Lieblingsthemen zu machen wie Magnetkliniken oder Advanced Nursing Practice. Zunächst plant er jedoch eine längere Auszeit in Andalusien und Sizilien. Letzteres ist bereits seit seinem ersten Besuch vor über 40 Jahren seine Trauminsel. „Äußerlich bin ich zwar ein Bayer, aber innerlich ein Sizilianer“, sagt er. In dieser Übergangsperiode möchte er für sich klarbekommen: „Das ist jetzt nicht nur ein längerer Urlaub, das ist jetzt eine völlig neue Lebensphase.“ Und: „Kann ich es überhaupt aushalten ohne Politik?“

Wie er diese neue Lebensphase für sich gestaltet, ist noch offen. Er möchte viel reisen – die Liebe zum Reisen hat er von seinem Großvater geerbt –, mal wieder ausgiebige Menüs für Freunde kochen und lernen, fließend französisch zu sprechen. Auch kann er sich vorstellen, sich ehrenamtlich zu engagieren, zum Beispiel im Kulturbereich oder mit obdachlosen Kindern und Jugendlichen. Einen Plan hat er noch nicht. Aber seine Biografie hat ja gezeigt: Wenn der nächste Schritt ansteht, stehen ihm oft der Zufall und das Glück beiseite.

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