Forschungsideen austauschen, von- und übereinander lernen, sich vernetzen – dies sind die Ziele der European Academy of Nursing Science. Wir befragten Prof. Dr. Gabriele Meyer über ihre Motivation, sich als Präsidentin in dieser wissenschaftlichen Organisation auf europäischer Ebene zu engagieren.
Frau Professor Meyer, Sie sind seit gut drei Jahren Präsidentin der European Academy of Nursing Science, kurz EANS. Können Sie diese Organisation bitte näher beschreiben?
Laut Satzung ist EANS ein wissenschaftliches Forum für europäische Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die durch Forschung und wissenschaftliches Arbeiten pflegerelevantes Wissen entwickeln und voranbringen sowie Exzellenz anstreben [6]. Nun klingen Satzungen immer etwas umständlich. Gemeint ist, dass EANS eine Gemeinschaft für aktive Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sein will, um Forschungsideen auszutauschen, sich zu vernetzen, gemeinsam Forschungsprojekte zu beantragen, von- und übereinander zu lernen sowie den pflegewissenschaftlichen Nachwuchs in Europa zu begleiten.
Wie kam es zur Gründung der Academy?
Die Gründung ging aus dem European Network of Nursing Doctoral Programmes hervor und wurde von einer kleinen Gruppe europäischer Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler initiiert. Namentlich waren dies die Professoren Rosemarie Crow von der Universität Surrey, George Evers von der Katholischen Universität Löwen, Margarethe Lorentson von der Universität Oslo, Ruth Schröck von der Universität Witten/Herdecke und Renzo Zanotti von der Universität Padua. Diese Personen wollten ein Forum für Debatten und konstruktive Diskussionen schaffen, das frei von nationalen und regionalen politischen Agenden ist und dem europäischen pflegewissenschaftlichen Austausch dient.
Welche Personen können Mitglieder der Academy werden?
EANS besteht aus Individualmitgliedern, die ihre wissenschaftliche Wirkungsstätte in Europa haben. Mitglieder müssen aktiv in der Pflege- oder Hebammenforschung tätig sein. Die sogenannten EANS Full Members müssen über eine abgeschlossene Promotion verfügen. EANS Fellows sind Mitglieder, die bestimmte wissenschaftliche Leistungskriterien erfüllen müssen und sich für diesen Status bewerben können. Außerdem gibt es noch die EANS Student Members, die an der dreijährigen EANS Summer School teilnehmen.
Wie viele Mitglieder hat EANS?
EANS hat derzeit etwa 500 Mitglieder aus mehr als 30 Ländern. Die Länder mit den meisten Mitgliedern sind Großbritannien, Norwegen, die Niederlande, Spanien, Schweiz, Deutschland, Dänemark, Finnland, Schweden und Portugal. Dabei ist weniger die Größe des Landes oder die Anzahl der Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler im Land entscheidend, sondern eher das Engagement einflussreicher Personen, die sich EANS verbunden fühlen und Doktorandinnen und Kolleginnen zur Mitgliedschaft motivieren.
Sie haben die EANS Summer School angesprochen. Was ist darunter zu verstehen?
Die EANS Summer School – zweifelsohne eine Kernaktivität der Academy – ist ein Programm für europäische Doktorandinnen und Doktoranden, das sich über drei Jahre erstreckt. Eingebettet in die Summer School findet eine eintägige Summer Conference statt. Dieses Jahr erfolgten beide Aktivitäten pandemiebedingt ausschließlich online. Gefreut hat mich, dass die Summer Conference erstmals in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft stattfand. Das Thema lautete „Lessons learned from the pandemic in different nursing settings“. Beides – Summer School und Summer Conference – wurde von der Universität zu Köln ausgerichtet. Neben der Summer Conference richtet EANS einen sogenannten Winter Summit aus. An der diesjährigen Online-Tagung nahmen mehr als 500 Personen teil, darunter Forschende aus der ganzen Welt.
Führt die Academy eigene Untersuchungen durch?
Nein, aber EANS ist eine beliebte Plattform für die Beantragung europäischer Studien. So ging die Initiative für die Studien RN4Cast [1] und RightTimePlaceCare [2] von EANS Fellows aus. Andere Initiativen von EANS Fellows und Members sind die europäischen Studien DeMoPhac [4], NurseLead [11], TransSenior [15] und PROCOMPNurs [7]. EANS unterstützt zudem Leitlinien [5, 10], Petitionen und Statements und ist in Advisory Boards europäischer Studien und Konferenzen vertreten. EANS-Mitglieder forschen und publizieren gemeinsam, insbesondere im Bereich der sogenannten komplexen Pflegeinterventionen [3, 8, 9, 12, 13].
Warum ist es Ihnen wichtig, sich in EANS zu engagieren und inwiefern profitieren Sie als deutsche Pflege- wissenschaftlerin dadurch?
Durch einen Kollegen aus den Niederlanden, den ich 2005 auf einer Konferenz kennengelernt hatte, bin ich zu EANS gestoßen. Als ich kurz darauf als Gast am Winter Summit im belgischen Löwen teilgenommen hatte, ist gleich der Funke übergesprungen. Ich habe es als eine große Bereicherung erlebt, an einem freundlich-betriebsamen, ungezwungenen, europäischen Begegnungsort renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu treffen, die ich sonst nur aus der Literatur kannte. Über die Jahre ist ein Netzwerk entstanden, das ermöglicht, sich gegenseitig einzuladen, Studierende zu entsenden und europäische Expertise einzuholen. Seit nunmehr fast 15 Jahren ist die Summer School mein jährliches Highlight! Es macht einfach Spaß, in englischer Sprache zu unterrichten und zu kommunizieren. Darüber hinaus habe ich so viel gelernt über die kulturellen Eigenheiten der Europäer, aber auch viele Gemeinsamkeiten erkannt.
Wie gut ist Pflegewissenschaft in Europa entwickelt – etwa im Vergleich zu den USA?
Europa kann nicht über einen Kamm geschoren werden, aber alle europäischen Länder haben eine kürzere akademische Tradition als die USA. Dort sind zum Beispiel seit Jahrzehnten Nurse Practitioner tätig, die breite Aufgaben in der primären Versorgung übernehmen. Akademische Ausbildung macht akademische Ausbildungsstätten vonnöten und stimuliert damit auch Pflegeforschung. In den USA ist die Pflegewissenschaft lange und in relevantem Ausmaß etabliert. Dies ist in Europa so nicht der Fall, wenngleich es – wie bereits angeklungen – graduelle Unterschiede gibt.
Weitere Informationen zur EANS
- Website: https://european-academy-of-nursing-science.com
- Youtube-Video: https://www.youtube.com/watch?v=b66U4s5G4jg&t=55s
- Winter Summit 2021: tmg.gr/en/wp-content/uploads/2021/03/EANS-VIDEOS.pdf
Die Mitglieder der EANS stammen aus EU-Ländern sowie aus Großbritannien, Norwegen, Island undder Schweiz. Wie unterschiedlich ist Pflegewissenschaft in diesen Ländern entwickelt? Welche Länder sind fortschrittlich, welche weniger – und worin bestehen die Unterschiede?
In fast allen europäischen Ländern ist der Bachelorabschluss das Eintrittskriterium für die professionelle Pflege. Die Arbeitsteilung im Gesundheitswesen sieht zudem in vielen europäischen Ländern mittlerweile ganz anders aus als in Deutschland. Auch wenn der Eindruck entstehen könnte, dass damit zugleich gesellschaftliche Akzeptanz einhergehen müsste, führen andere Länder ähnliche Diskurse wie wir in Deutschland. So wird vor dem Hintergrund des in vielen Ländern bestehenden Mangels an Pflegefachpersonen auch in anderen europäischen Ländern die akademische Ausbildung infrage gestellt. Pflegefachpersonen sind in vielen europäischen Ländern verschreibend tätig, üben heilkundliche Kompetenz aus, nehmen in der kommunalen Versorgung andere Rollen ein, sind auch mit Masterabschluss oder als promovierte Pflegende klinisch tätig. Pflegefachpersonen werden also an Hochschulen aus- und weitergebildet. Diese sind entsprechend mit wissenschaftlichem Personal ausgestattet, das wiederum nicht nur lehrend, sondern auch forschend tätig ist. Pflegewissenschaft ist somit in den wenigsten europäischen Ländern solch ein Orchideenfach wie in Deutschland. Es wäre sehr spannend, eine Kartografie des Entwicklungsstatus der Pflegewissenschaft in Europa anzufertigen. Damit ist zugleich gesagt, dass es eine solche bislang nicht gibt und meine Eindrücke eher auf Anekdotenevidenz basieren.
Wie bewerten Sie die Entwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland – verglichen mit dem Rest Europas?
Deutschland hat zweifelsohne einen vergleichsweise niedrigen Entwicklungsstand der Pflegewissenschaft. Wie bereits angeklungen, führt die Pflegewissenschaft auch nach mehr als 25 Jahren in Deutschland ein Nischendasein. Sie ist nicht systematisch gefördert wie beispielsweise andere, gesellschaftlich an Bedeutung gewinnende Fächer wie Geriatrie oder Allgemeinmedizin. Nachwuchspflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gehen hierzulande oft rasch in die Lehre an den Fachhochschulen, oft in Ermangelung anderer beruflicher Perspektiven in der Wissenschaft. Die deutsche Pflegewissenschaft kommt kaum hinterher, ausreichend qualifizierte Persönlichkeiten für die vielen ausgeschriebenen Professuren an Hochschulen auszubilden. An Fachhochschulen ist es in der Regel schwer, ausreichend Zeit für Forschung einzuräumen und sich wissenschaftlich weiterzubilden. Es mangelt an spezifischer Forschungs- und strukturierter Postgraduiertenförderung. Und so dümpelt die Pflegewissenschaft in Deutschland saft- und kraftlos vor sich hin. Daran hat sich in den vergangenen Jahren nicht wesentlich etwas geändert und ich kann nicht sehen, dass der Durchbruch in Aussicht steht.
[1] Aiken LH, Sloane DM, Bruyneel L et al. Nurse staffing and education and hospital mortality in nine European countries: a retrospective observational study. Lancet 2014; 383 (9931): 1824–1830
[2] Beerens HC, Sutcliffe C, Renom-Guiteras A et al. Quality of life and quality of care for people with dementia receiving long term institutional care or professional home care: the European RightTimePlaceCare study. J Am Med Dir Assoc 2014; 15 (1): 54–61
[3] Bleijenberg N, de Man-van Ginkel JM, Trappenburg JCA et al. Increasing value and reducing waste by optimizing the development of complex interventions: Enriching the development phase of the Medical Research Council (MRC) Framework. Int J Nurs Stud 2018; 79: 86–93
[4] De Baetselier E, Van Rompaey B, Batalha LM et al. EUPRON: nurses‘ practice in interprofessional pharmaceutical care in Europe. A cross-sectional survey in 17 countries. BMJ Open 2020; 10 (6): e036269
[5] Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft, Soziale Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenhilfe unter den Bedingungen der Covid-19 Pandemie. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/184–001.html; Zugriff: 01.08.2021
[6] European Academy of Nursing Science (EANS). Bylaws of the European Academy of Nursing Science; 2018
[7] Koskinen S, Pajakoski E, Fuster P et al. Analysis of graduating nursing students‘ moral courage in six European countries. Nurs Ethics 2021; 28 (4): 481–497
[8] Ludvigsen MS, Meyer G, Hall E et al. Development of clinically meaningful complex interventions – the contribution of qualitative research. Pflege 2013; 26 (3): 207–214
[9] Möhler R, Köpke S, Meyer G. Criteria for Reporting the Development and Evaluation of Complex Interventions in healthcare: revised guideline (CReDECI 2). Trials 2015; 16: 204
[10] Morandi A, Pozzi C, Milisen K et al. An interdisciplinary statement of scientific societies for the advancement of delirium care across Europe (EDA, EANS, EUGMS, COTEC, IPTOP/WCPT). BMC Geriatr 2019; 19 (1): 253
[11] NurseLead project. www.nurselead.org; Zugriff: 01.08.2021
[12] Richards DA, Coulthard V, Borglin G. The state of Euro- pean nursing research: dead, alive, or chronically diseased? A systematic literature review. Worldviews Evid Based Med 2014; 11 (3): 147–155
[13] Richards DA, Hanssen TA, Borglin G. The Second Triennial Systematic Literature Review of European Nursing Research: Impact on Patient Outcomes and Implications for Evidence-Based Practice. Worldviews Evid Based Nurs 2018; 15 (5): 333–343
[14] Richards DA, Rahm Hallberg I. Complex Interventions in Health. An overview of research methods. London: Routledge; 2015
[15] TransSenior project. www.trans-senior.eu; Zugriff: 01.08.2021