Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte Feststellungen, die vorwiegend Ärzte bei ihren Therapieentscheidungen unterstützen sollen. Warum Leitlinien auch für Pflegefachpersonen wichtig sind und inwiefern die pflegerische Perspektive in der Entwicklung von Leitlinien immer bedeutsamer wird, erklären die Pflegewissenschaftlerinnen Daniela Holle und Erika Sirsch.
Der Begriff Leitlinie ist in der Pflege noch recht unbekannt. Was ist darunter genau zu verstehen?
Holle: Die AWMF – die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften –, die als Dachverband von fast 200 Fachgesellschaften die Entwicklung von Leitlinien koordiniert, definiert diese als systematisch entwickelte Hilfen für Ärztinnen und Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen.
Leitlinien sollen also die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten unterstützen?
Sirsch: Die ausschließliche Fokussierung auf Ärztinnen und Ärzte ist nicht mehr zeitgemäß. Denn die gesundheitliche Versorgung ist ein Teamspiel, an dem neben der Medizin auch Disziplinen wie Pflege, die Physiotherapie oder Hebammenkunde maßgeblich beteiligt sind. Zutreffend ist aber, dass Leitlinien bislang vorwiegend auf ärztliche Tätigkeiten ausgerichtet waren und die darin behandelten Themenbereiche oft medizinische Behandlungspfade und Versorgungsoptionen bei spezifischen Erkrankungen beziehungsweise Phänomenen betrafen.
Leitlinien basieren auf einer systematischen Zusammenfassung der Literatur zu einem bestimmten Thema – ähnlich wie Expertenstandards. Worin besteht der Unterschied?
Holle: Leitlinien folgen einer anderen Logik als Expertenstandards, denn sie entstammen unterschiedlichen Historien. Expertenstandards, so wie wir sie vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) kennen, bilden das Qualitätsniveau des professionellen Handelns für Pflegefachfrauen und -männer ab. Sie sind am Pflegeprozess ausgerichtet und auch so aufgebaut. Expertenstandards beginnen beispielsweise mit der Ebene des Assessments und erstrecken sich dann über die Ebenen der Planung, die Durchführung der Maßnahmen, die Beratung und schließen mit der Evaluation. Leitlinien hingegen folgen eher einer ärztlichen Behandlungslogik. Sie fokussieren auf einen Behandlungs- oder Versorgungspfad und sind zumeist stark auf eine spezifische Erkrankung, Behandlung oder ein Setting ausgerichtet.
Sirsch: Ein weiterer wichtiger Unterschied: Leitlinien sind anders als Expertenstandards nicht darauf ausgerichtet, als Ganzes in eine Einrichtung implementiert zu werden. Sie sollen vielmehr die jeweiligen Wissensbestände für die individuelle Behandlung nutzbar machen. Eine Implementierung im Sinne der Expertenstandards wäre auch bei der Fülle an Leitlinien schier unmöglich.
Schnellen Zugang zu pflegerischen Leitlinien und Standards finden
Das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), eine vom Verband der Privaten Krankenversicherung gegründete gemeinnützige Stiftung zur Förderung der Altenhilfe sowie der Wissenschaft und Forschung im Gesundheitswesen, bietet auf der Webseite pflegeleitlinien.zqp.de eine frei zugängliche Übersicht zu pflegerischen Leitlinien und Standards.
Grundlage der Übersicht ist eine systematische Recherche des ZQP in Kooperation mit der Universität Bielefeld. Der Online-Dienst umfasst derzeit 132 deutsch- und englischsprachige Quellen mit Handlungsempfehlungen und Entscheidungshilfen. Die Dokumente sind pflegerelevant oder zeigen Maßnahmen auf, die in den direkten Verantwortungsbereich professionell Pflegender als Berufsgruppe fallen.
Alle Ergebnisse sind in 29 Pflegethemenbereiche vorsortiert, beispielsweise zur Dekubitusprophylaxe, Pflege bei Inkontinenz oder zur Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz. Das ZQP- Angebot ermöglicht, Dokumente nach Themen oder Herausgebern zu filtern und so einen raschen Überblick zu gewinnen. Zu allen Dokumenten stehen Angaben über den Inhalt sowie direkte Links zu den Leitlinien und Standards für die Nutzerinnen und Nutzer zur Verfügung.
Für die deutschsprachigen Leitlinien und Standards gibt es zusätzlich detaillierte Angaben zu Zielen und Zielgruppen sowie ergänzende Informationen, etwa zu Kurzfassungen oder Patientenversionen. Außerdem wird ersichtlich, wie deren Qualität aus wissenschaftlicher Sicht einzuschätzen ist. Darüber hinaus werden 13 nationale und internationale Herausgeber-Organisationen dargestellt. Mit dem Online-Dienst will das ZQP den Zugang zu vorhandenem Wissen erleichtern und Impulse für die Fortentwicklung entsprechender Qualitätsmaßstäbe geben. Die Inhalte des Angebots sollen alle zwei Jahre überprüft und aktualisiert werden.
Was ist der zentrale Nutzen von Leitlinien?
Sirsch: Leitlinien bieten die Möglichkeit, im Bedarfsfall nachzuschauen und zu prüfen, wie die Versorgung eines Patienten in einer bestimmten Situation idealerweise erfolgen sollte.
Holle: Leitlinien können die Entscheidung für eine Behandlungs- oder Versorgungsoption maßgeblich unterstützen. Das ist eine enorme Hilfestellung, denn eine systematische Literatursuche und kritische Beurteilung der identifizierten Literatur ist aufwendig und im Alltag oft nicht oder nur eingeschränkt möglich.
Teilweise gibt es Leitlinien und Expertenstandards zu ähnlichen Themen. Macht diese Dualität wirklich Sinn?
Sirsch: Leitlinien enthalten im Gegensatz zu Expertenstandards einzelne, zum Teil sehr konkrete Behandlungsempfehlungen. Expertenstandards beschreiben eher abstrakte Qualitätsniveaus von Pflege, die an die jeweilige Versorgungsform angepasst werden müssen.
Holle: Der Versuch einer zugegebenermaßen sehr verkürzten Erklärung, warum wir in der Pflege sowohl Expertenstandards als auch Leitlinien benötigen, könnte folgendermaßen lauten: Wir brauchen Expertenstandards, um im Pflegeprozess auf die Qualitätsentwicklung zu fokussieren, und wir brauchen Leitlinien, um einzelfallbezogene Entscheidungen zur Behandlung oder zu Interventionen im multiprofessionellen Kontext zu begründen.
Sirsch: Bislang haben sich Pflegende vor allem in der Langzeitpflege eher auf Expertenstandards konzentriert, was gut und wichtig ist. Expertenstandards sind für das SGB XI, also jenen Zweig der Sozialversicherung, der die stationäre und ambulante Altenhilfe regelt, hoch relevant. Doch gerade für die Akutpflege im Krankenhaus stellen Leitlinien ebenfalls eine wertvolle Unterstützung dar. Im Idealfall ergänzen sich Leitlinien und Expertenstandards und konkurrieren nicht miteinander, zumal sie sich auf die gleichen wissenschaft- lichen Quellen beziehen und sie von pflegerischen Vertreterinnen und Vertretern entwickelt oder mitentwickelt werden.
Welche aktuellen Leitlinien halten Sie für Pflegefachpersonen für besonders interessant?
Sirsch: Das kommt stets auf den Kontext, die pflegerische Situation und die jeweilige Aufgabe an. Wenn ich beispielsweise als Pflegefachfrau auf einer Wöchnerinnenstation arbeite, kann die neue S3-Leitlinie „Sectio caesarea“ relevant sein, um mir bei komplexen Situationen entsprechendes Wissen einzuholen. Für viele Pflegende in der Altenhilfe ist wiederum die ebenfalls kürzlich erschienene S2k-Leitlinie „Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen“ interessant. An diesen beiden Leitlinien haben Delegierte der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) übrigens mitgearbeitet.
Können Sie den Entstehungsprozess einer Leitlinie und die zugrunde liegende Methodik bitte beschreiben?
Holle: Die Beantwortung dieser Frage würde ehrlich gesagt den Rahmen dieses Interviews sprengen. Das genaue Prozedere ist komplex und auf der AWMF-Webseite zudem genau beschrieben.
Sirsch: Wichtig zu wissen ist, dass Leitlinien nach dem System der AWMF in vier Stufen – von S1 bis S3 – entwickelt und klassifiziert werden [siehe Tab. 1, Anm. d. Red.]. Die höchste Entwicklungsstufe S3 zeichnet sich durch eine systematische Aufbereitung der Literatur und einer strukturierenden Konsensfindung aus. In Situationen, in denen noch kaum auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen werden kann, wie in der Anfangszeit von COVID-19, können Empfehlungen zur Versorgung von Menschen eher auf der Basis einer S1-Leitlinie ausgesprochen werden. Diese machen Expertenwissen für die Versorgungspraxis schnell verfügbar.
Wo können Pflegende für sie relevante Leitlinien recherchieren?
Sirsch: Leitlinien werden kostenfrei zur Verfügung gestellt und sind auf der Website der AWMF oder der jeweiligen federführenden oder beteiligten Fachgesellschaft abrufbar. Auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) sind Leitlinien, an denen Mitglieder als Delegierte der DGP beteiligt waren, mit einem Link zum Download versehen. Die genaue URL lautet: dg-pflegewissenschaft.de/leitlinien-2. Eine Übersicht über für Pflegende besonders relevante Leitlinien hat das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) online veröffentlicht [siehe Textkasten: Schnellen Zugang zu pflegerischen Leitlinien und Standards finden, Anm. d. Red.].
Sie beide sind Leitlinienbeauftragte der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP). Was sind Ihre Aufgaben in dieser Funktion?
Sirsch: Die Leitlinienarbeit in der DGP hat sich in den vergangenen zehn Jahren stark verändert. Zunächst bestand die Aufgabe einer Leitlinienbeauftragten darin, für einzelne Leitlinien Delegierte zu identifizieren und diese während der Entwicklung zu begleiten. Das klappte anfangs noch ganz gut nebenbei. Doch mit der stark steigenden Zahl der Leitlinien, an denen Pflegende beteiligt sind, kamen viele neue Aufgaben hinzu. Mit den Delegierten und Mitgliedern des Vorstands der DGP wurde beispielsweise eine Handreichung entwickelt, die die Aufgaben von Delegierten beschreiben und sichtbar machen. Es wurde zudem ein systematisches Vorgehen definiert, nach dem der Vorstand neu entwickelte oder aktualisierte Leitlinien verabschiedet. Dazu halten die Leitlinienbeauftragten den Kontakt mit der AWMF und sind häufig die ersten Ansprechpartnerinnen zur Beteiligung der DGP an einer Leitlinienentwicklung. Seit nunmehr drei Jahren verantworten die Leit- linienbeauftragten Workshops für die Delegierten. Als neue Aufgabe steht die Konstituierung einer ständigen Leitlinienkommission der DGP an. Ziel ist, die vielfältigen Aufgaben auf mehrere Köpfe zu verteilen und die Mitglieder der DGP stärker zu beteiligen.
Wie gehen Sie vor, wenn eine Anfrage zur Mitarbeit an einer Leitlinie eingeht?
Sirsch: Da die pflegerische Perspektive immer wichtiger wird, erhalten wir mittlerweile sehr viele Anfragen. Leider gelingt es uns nicht immer, für jede Anfrage eine oder einen Delegierten zu identifizieren und zu entsenden. Wir probieren es aber natürlich.
Nach welchen Kriterien wählen Sie Delegierte aus?
Sirsch: Sie müssen zum einen über die nötige Fachexpertise verfügen und zum anderen in der Lage sein, die komplexe Entwicklung einer Leitlinie zu begleiten und im multiprofessionellen Diskurs mitzudiskutieren. Wir versuchen dieser Herausforderung dadurch zu begegnen, dass wir häufig zwei Personen als Tandem delegieren: Eine Person vertritt das Thema inhaltlich und wird durch eine weitere Person unterstützt, die eine methodische Expertise mitbringt. Die Suche nach Leitliniendelegierten wird öffentlich über die Homepage der DGP ausgeschrieben. Alle interessierten Personen müssen Mitglied der DGP sein oder die Bereitschaft mitbringen, diese Mitgliedschaft zu erwerben. Sie sollten ihre Expertise durch Publikationen, ausgewiesene Arbeitsschwerpunkte oder Projekte belegen. Gelegentlich kommt es bei sehr populären Themen zu einer Fülle an geeigneten Bewerbungen, bei der es schwerfällt, eine Auswahl zu treffen. Bei Nischenthemen kann es aber auch vorkommen, dass sich keine Interessenten finden.
Wie schwierig ist es aus Ihrer Erfahrung heraus, sich gegen die Co-Autoren, die ja zumeist aus der Medizin stammen, durchzusetzen und die pflegerische Perspektive ausreichend einfließen zu lassen?
Holle: Es geht in der Zusammenarbeit nicht darum, sich als Pflegeexpertin durchzusetzen oder nicht. Es geht um begründete, literaturbasierte Entscheidungen. Unserer Erfahrung nach ist dies kein Problem, wenn sich Pflegende inhaltlich und methodisch als kompetent erweisen. Probleme können eher bei atmosphärischen Störungen auftauchen, die aber kein Privileg einer bestimmten Berufsgruppe sind.
Welche Leitlinien, an denen die DGP mitwirkt, sind aktuell in Arbeit oder geplant?
Sirsch: Aktuell ist die DGP an der Entwicklung und Aktualisierung von 41 Leitlinien und nationalen Versorgungsleitlinien beteiligt. Hervorzuheben sind zwei S1-Leitlinien zur Partizipation und Teilhabe von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern unter Corona-Bedingungen, die von der DGP federführend entwickelt wurden.
Zu welchen Themen sollten Ihrer Meinung nach Leitlinien entstehen?
Holle: Die DGP hat vor einiger Zeit ihre Mitglieder hierzu um Vorschläge gebeten. Die genannten Themen werden in die sich bildende Leitlinienkommission gebracht und dort diskutiert. Die Ergebnisse dieser Diskussionen werden zu gegebener Zeit öffentlich kommuniziert.
Finden Absprachen zwischen der DGP und dem DNQP statt? Es wäre ja suboptimal, wenn dieselben Themen bearbeitet werden würden.
Sirsch: Es ist nicht suboptimal, wenn die gleichen Themen bearbeitet werden – wie gesagt: Im Idealfall ergänzen sich Expertenstandards und Leitlinien. Ein gutes Beispiel dafür sind die S3-Leitlinie „Schmerzassessment bei älteren Menschen in der vollstationären Altenhilfe“ und der eben aktualisierte Expertenstandard „Schmerzmanagement in der Pflege“. Beide adressieren nicht eins zu eins das gleiche Thema, aber beide enthalten aktuelles Wissen zum Schmerzassessment in der Altenhilfe.
Holle: Der Expertenstandard ist sehr disziplinspezifisch, die Leitlinie hingegen vertritt die multiprofessionelle Perspektive. Pflegende haben so die Möglichkeit, sich beispielsweise mit den Kolleginnen und Kollegen aus der hausärztlichen Praxis über gleiche Themen-bereiche auf der Basis von evidenzbasiertem Wissen auszutauschen. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ja, eine Kommunikation findet statt. Im Rahmen einer Kooperation ist ein Mitglied des DGP-Vorstands als Mitglied im Lenkungsausschuss des DNQP vertreten. Es ist umgekehrt geplant, dass ein Mitglied des DNQP Mitglied der Leitlinienkommis-sion der DGP wird.
Wie schaffen es die medizinischen Fachgesellschaften, die unter der Dachorganisation der AWMF zusammengefasst sind, eine große Bandbreite von Leitlinien kostenlos zur Verfügung zu stellen, während Expertenstandards kostenpflichtig sind?
Sirsch: Die Finanzierung ist ein leidiges Thema, denn auch wenn Leitlinien kostenlos zur Verfügung stehen, kostet die Entwicklung natürlich Geld. Fachgesellschaften unterstützen die Entwicklung von Leitlinien durch eigene Mittel, zum Teil auch durch Mitgliedsbeiträge. Es entspricht dem Selbstverständnis medizinischer Fachgesellschaften, wissensbasierte Leitlinien zu entwickeln. Das hat in der Pflege noch keine so lange Tradition. Dass die Profession Pflege eigene Leitlinien über Fachgesellschaften entwickelt, ist noch nicht in dem Umfang üblich, wie es bei Ärztinnen und Ärzten der Fall ist.
Holle: Die Größe einer Fachgesellschaft ist unter anderem daher auch entscheidend, wie viele Mittel für die Entwicklung von Leitlinien aufgewendet werden können. Die DGP ist – verglichen mit den lange etablierten medizinischen Fachgesellschaften – eine eher kleine Fachgesellschaft. Daher ist das Volumen, in dem Förderungen stattfinden können, sehr viel kleiner.
Sehen Sie Chancen für eine künftige finanzielle Förderung von Leitlinien?
Sirsch: Sowohl bei Expertenstandards als auch bei Leitlinien besteht eine Schwäche im Finanzierungssystem. Es gibt wenig bis keine Mittel dafür. Wir hoffen sehr, dass beispielsweise die künftig mögliche Förderung durch den Innovationsfond zur Leitlinienentwicklung hier ein Fenster öffnet.