Menschen mit Demenz fallen im Versorgungsalltag oft durchs Raster. Vier Projekte rücken diese Personen in den Fokus. Auch wenn die Konzepte verschiedene Maßnahmen beinhalten, haben alle dasselbe Ziel: Das Individuum wird gesehen, gehört und wertgeschätzt.
"Das WIE steht vor dem WAS"
MAKS – diese Abkürzung steht für motorisches, alltagspraktisches, kognitives und spirituelles Aktivierungstraining für Menschen mit Demenz. Körperliche und geistige Fähigkeiten sollen damit gezielt gestärkt werden. Das Besondere an dem Konzept: „In zwei Stunden MAKS werden sämtliche Bereiche aktiviert“, erklärt Stephan Abt, der das Sigmund-Faber-Heim in Hersbruck leitet und selbst Teile des Trainings übernimmt. Dadurch könne sich jeder Bewohner besonders da einbringen, wo seine Stärken liegen und was ihn anspricht. Die richtige Lösung oder Schnelligkeit sind dabei Nebensache. Vielmehr gehe es darum, Erfolgserlebnisse zu schaffen. „Das Ziel ist, jede Person individuell zu unterstützen, Ressourcen wiederzuentdecken und verbliebene Fähigkeiten länger zu erhalten“, sagt Stephan Abt.
Als Forschungsprojekt 2009 gestartet, findet die MAKS-Therapie im Sigmund-Faber-Heim an sechs Tagen in der Woche statt. In dem zweistündigen Training ist für jeden Bewohner etwas dabei: Zu Beginn geht es ruhig zu, alle stimmen sich im Stuhlkreis spirituell ein. Je nach Zeit werde hier eine kurze Meditation gemacht oder gemeinsam eine Kerze entzündet, begleitet mit einer Frage, zum Beispiel „Wie geht es mir heute?“. „Die Menschen sollen sich geborgen und sicher fühlen“, erklärt der Heimleiter. Die Gemeinschaft der Gruppe spiele hier eine große Rolle. Danach werden alle aktiv: Kegeln, Tischkicker, Reaktionsübungen, Tänze oder andere Spiele. „Hier kommt alles zum Einsatz, was Spaß macht und die Motorik fördert“, beschreibt Stephan Abt. Nach einer Pause steht die kognitive Aktivierung auf dem Programm. Neben den geistigen Fähigkeiten wird hier die Aufmerksamkeit gefördert, zum Beispiel mit Bilderpuzzle, Wörter in einem Buchstabenmix erkennen oder Kräuter am Beamer erraten. „Es gibt verschiedene Schwierigkeitsgrade“, so der Einrichtungsleiter. „Jeder macht das, was er kann.“ In der letzten Phase werden alltagspraktische Fähigkeiten trainiert: Ob Werkeln, Basteln oder Kochen – das Zusammensein, der Spaß an einer gemeinsamen Tätigkeit und das Erleben von „Normalität“ stehen im Vordergrund.
Egal ob motorische, alltagspraktische, kognitive oder spirituelle Aktivierung: Bei allen Übungen ist das Individuum mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Die Beziehung zueinander stehe immer an erster Stelle, betont Stephan Abt. Die Inhalte seien nur die Unterstützung, um diese positiv zu gestalten. Bei allen Aktivierungen lautet das Motto deswegen: „Das Wie ist wichtiger als das Was, die Haltung ist wichtiger als die Handlung.“
Dass MAKS positive Effekte auf Menschen mit Demenz hat, wurde im Rahmen des Forschungsprojekts umfassend nachgewiesen. Das Training beeinflusst demnach nicht nur das Denken und das Gedächtnis. „Es hebt auch die Stimmung, fördert soziales Verhalten und verbessert alltagspraktische Fähigkeiten“, beschreibt Stephan Abt. Darüber hinaus beeinflusst das Training genauso gut das Gedächtnis, Denken und alltagspraktische Fähigkeiten wie gängige Medikamente gegen Alzheimer-Demenz.
"Ein vertrautes Gesicht schaffen"
Beim Geriatrie-Team am St. Franziskus-Hospital in Münster dreht sich alles darum, ein perioperatives Delir zu vermeiden. Fünf Altenpflegerinnen kümmern sich zusammen mit Dr. Simone Gurlit um delirgefährdete Patienten. Dazu zählen ganz besonders Patienten mit einer Demenz. „Für alte Menschen ist das Krankenhaussetting grundsätzlich ein Problem. Sie werden mit Informationen überhäuft, die sie gar nicht alle auf einmal verarbeiten können“, erklärt die leitende Ärztin der Abteilung für perioperative Altersmedizin. Es gibt wenige Ressourcen und zu wenige Pflegende, die Dinge in Ruhe erklären könnten. Das bereitet besonders Menschen mit kognitiven Einschränkungen Probleme und macht Angst.
Gurlit und ihr Team nehmen diese Risikopatienten deswegen von Beginn des Krankenhausaufenthaltes an unter ihre Fittiche: Eine Altenpflegerin begleitet den Patienten zu allen Vorsorgeuntersuchungen, überbrückt Wartezeiten, sorgt dafür, dass alle Hilfsmittel da sind, kümmert sich um den Telefonanschluss im Zimmer, informiert das Pflegepersonal. „Ziel ist, in ängstigenden Situationen ein vertrautes Gesicht zu haben“, sagt Simone Gurlit. Um das zu schaffen, muss schon von Beginn an eine positive Beziehung zwischen Patient und Altenpflegerin hergestellt werden. In der Kürze der Zeit eine Herausforderung: „Normalerweise haben Altenpflegerinnen viel Zeit, einen Bewohner kennenzulernen“, schildert Gurlit. „Im Geriatrie-Team muss man dagegen schnell eine gemeinsame Basis finden.“
Am OP-Tag selbst schleust sich die Betreuerin dann ein, ist beim Transfer vom Bett auf den OP-Tisch mit dabei und begleitet den Patienten auch während der OP. „Wir versuchen alles, was das Bewusstsein beeinträchtigt, bei delirgefährdeten Patienten wegzulassen“, beschreibt Gurlit. Das heißt auch, dass keine sedierenden Mittel gegeben werden, wenn möglich auch keine Vollnarkose. „Auch bei bereits fortgeschrittener Demenz“. Hier werde häufig gesagt, dass dies nicht möglich sei. „Wir sind der Meinung, das geht sehr gut, wenn man die Patienten gut begleitet,“ ist sich die Anästhesistin sicher. Besonders bei einer beginnenden Demenzerkrankung sei das Risiko für ein perioperatives Delir groß, wenn Sedativa eingesetzt werden. Um der Person dennoch die Angst zu nehmen, brauche es jemanden, der bei der OP dabeibleibt, der als Bezugsperson wahrgenommen wird und den man schon ein wenig kennt. Die Ängste werden dann ganz unterschiedlich genommen. Das kann zum Beispiele mit basaler Stimulation sein oder auch ein Gespräch über die Enkeltochter. Das funktioniere nicht immer zu 100 Prozent, räumt Simone Gurlit ein. Aber gerade Menschen mit vorbestehender Demenz ließen sich sehr gut führen. Notwendig sei dafür eine gute Stimmung im OP, wenig ängstigende Faktoren, also kein lautes Klappern oder Gespräche, und ein hoher Patientenkomfort: „Eine warme Decke kommt gut an. Aber auch Brille oder das Hörgerät tragen dazu bei, dass der Patient sich besser orientieren kann, es ihm gut geht und er weniger Angst hat.“ Auch im Aufwachraum und auf Station ist wieder eine Altenpflegerin dabei. Hier heißt es dann „Fördern und Fordern“, zum Beispiel durch gemeinsames Zeitung lesen oder auf dem Gang spazieren gehen.
Menschen mit kognitiven Einschränkungen profitieren von dieser Betreuungsstrategie vielfach: Ein perioperatives Delir lässt sich oft vermeiden, weil weniger oder keine sedierenden Medikamente gebraucht werden. Ein Delir wiederum erhöht nachweislich die Sterblichkeit. „Eine gute Beziehung wirkt sich letztlich also auf die Mortalität aus“, erklärt Simone Gurlit. Daneben werden im Laufe der Beziehungsgestaltung viele Informationen über den Patienten gesammelt. Wer viel über eine Person weiß, kann auch Veränderungen besser einschätzen. Die individuelle Betreuung erhöht zudem den Patientenkomfort.
Wiederkehrende Patienten mit beginnender Demenz fordern die Begleitung durch das Geriatrie-Team am St. Franzsikus-Hospital aktiv ein, dasselbe gelte für Angehörige. „Wie gut die Beziehung zwischen Menschen mit kognitiven Einschränkungen und ihrem Umfeld gestaltet wird, hängt aber nicht vom Geriatrie-Team ab“, betont Simone Gurlit. „Ganz viel in der Versorgung im Krankenhaus ist Kommunikation und Beziehung.“ Jede Berufsgruppe muss ein Gefühl dafür entwickeln, was einen Patienten gerade belastet, warum es ihn belastet und was jeder Einzelne beitragen kann, um Ängste und Stress zu nehmen.
"Unsere Sprache versteht jeder"
Atem, Bewegung, Berührung und Musik: Das sind die vier internationalen Sprachen, die jeder Mensch versteht, sagt Michael Meyer, Gründer der Basalen Interaktion. Die Idee für sein Konzept entstand aus der Not heraus: „Trotz vieler Schulungen zur Kommunikation in der Betreuung von Menschen mit Demenz, fehlte es einfach an der Nachhaltigkeit“, erklärt der Motivationstrainer. Häufig würden Routinen im Alltag schlicht abgearbeitet. Das gemeinsame Handeln und Kommunizieren sei verloren gegangen. Dieses Aufeinander hören und achten soll mit der Basalen Interaktion wieder zurückgewonnen werden. „Die Beziehung zwischen den Bewohnern und der Pflegeperson soll erlebnisorientiert und wertschätzend sein“, erklärt Michael Meyer. Hilfsmittel dafür ist die nonverbale Kommunikation. Berührung, Bewegung, Atmung und Musik kennen keine Demenz und können von Menschen, die darunter leiden, besser verstanden werden, vom Gehirn verarbeitet und zugeordnet werden als Worte.
Am Caritas Altenzentrum St. Hedwig in Kaiserslautern wurde 2015 das Projekt „Basale Interaktion – Erlebnisorientierte Kommunikation bei Menschen mit Demenz“ gestartet. Ziel war, die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Bewohner zu steigern und gleichzeitig die Arbeitszufriedenheit der Pflegenden spürbar zu verbessern.
„Bei der Basalen Interaktion steht zuerst einmal der Anwender im Zentrum“, beschreibt Michael Meyer. Wer das Konzept umsetzen will, brauche neben Empathie auch den Mut, etwas anders zu machen, sich auf etwas Neues einzulassen. In Schulungen lernen die Pflegenden daher zuerst, ihren Selbstwert zu stärken und eine positive Haltung zu ihrer Arbeit aufzubauen. Es müsse einem selbst gut gehen und man müsse seine eigenen Fähigkeiten wertschätzen, sagt Meyer. Erst dann könne Stress abgebaut werden. Die eigene Zufriedenheit wirke sich dann unmittelbar auf die Bewohner aus: „Erst wenn man selbst entspannt und achtsam ist, kann man die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Bewohners erkennen und darauf eingehen“, erklärt der Coach. „Das tägliche Handeln muss zum Erlebnis werden.“ Das ist der erste Schritt.
Der zweite Schritt des Konzepts ist die Interaktion mit dem Bewohner. Hier konzentriert sich alles auf die vorhandenen Ressourcen. „Egal, wie weit fortgeschritten eine Demenz ist – jeder Mensch kann etwas besonders gut“, betont Michael Meyer. Diese besonderen Fähigkeiten gelte es aufzuspüren und zu motivieren. „Eine Beziehung knüpft man am besten immer da, wo jemand etwas besonders gut kann oder sehr gerne mag.“ Am besten funktioniere das über Berührungen und Mobilisierungsbewegungen, die in kleinen, achtsamen Schritten gemeinsam aufgebaut werden.
Am Caritas Altenzentrum St. Hedwig wurde das Konzept erfolgreich implementiert. „In unserer Evaluation wurde die Stimmung im Team deutlich besser eingeschätzt“, erklärt der Gründer der Basalen Interaktion. Auch Arbeitszufriedenheit und Wertschätzung nahmen im Projektverlauf zu.
"Den Takt bestimmt der Patient"
Bereits seit 2009 gibt es die Station Silvia im Malteser Krankenhaus St. Hildegardis in Köln. Das Silviahemmet-Konzept geht auf die schwedische Königin Silvia zurück und basiert auf der Palliative Care-Philosophie. Auf Station Silvia wurde dieses Prinzip dann auf die Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz übertragen. „Denn auch Demenz ist eine unheilbare Erkrankung, die immer weiter fortschreitet”, begründet Dr. Ursula Sottong diesen Schritt. Sie leitet die Fachstelle Demenz der Malteser Deutschland, ist Silviahemmet-Trainerin und Silvia-Ärztin. Der Ansatz ist palliativ, nicht kurativ, und stellt die Menschenwürde in den Mittelpunkt.
Ziel der Station Silvia war es von Anfang an, den Status quo der Patienten aufrechtzuerhalten. „Menschen, die mit der Nebendiagnose Demenz ins Krankenhaus kommen, zum Beispiel wegen einer Hüftfraktur, verschlechtern sich meist während ihres Aufenthaltes in ihren Demenzsymptomen“, sagt Ursula Sottong. Dieses Ziel wurde jedoch weit übertroffen: „In unserer Evaluation stellten wir fest, dass sich die Patienten durch das Silviahemmet-Konzept nicht nur nicht verschlechtern, sondern im Gegenteil, sich ihr Zustand sogar verbessert“, beschreibt die Expertin. Die Patienten wurden mobiler, die Muskelkraft nahm zu und sie wurden insgesamt alltagsfitter.
Am meisten profitieren mobile Patienten mit einer leichten bis mittleren Demenz von dem Konzept. „Die verschwinden öfters einfach von Station, machen Dinge, die sie nicht machen sollten oder zeigen herausfordernde Verhaltensweisen“, erklärt Ursula Sottong. Für Personal, Angehörige und Patienten sei das ein absolutes Stressmoment. „Wenn man erreicht, dass diese Patienten nicht fixiert werden müssen, nicht weglaufen, keinen Stress haben und sich ihre Demenz stabilisiert, dann ist das ein absoluter Behandlungserfolg.“ Denn heilen könne man die Demenz nicht.
Vor allem drei Dinge machen die Station Silvia aus: Ruhe, Geduld und Tagesstruktur. Alles orientiere sich am Patienten: „Wir lernen von ihnen, nicht umgekehrt“, betont Ursula Sottong. Reize werden bewusst reduziert: Es gebe nur acht Betten, ein klares Farbkonzept sowie feste Tagesstrukturen. Untersuchungen finden in einem festen Zeitfenster statt, in einem Tagesraum werden Mahlzeiten in der Regel gemeinsam mit einer Therapeutin eingenommen, morgens wird zum Beispiel zusammen Zeitung gelesen. „Während dieser Zeit ist Stören absolut tabu“ erklärt die Leiterin der Fachstelle Demenz. Das gelte selbst für den Chefarzt, wenn er zur Visite kommt. Das Tempo auf Station Silvia ist entschleunigt und dem Bedarf von Patienten mit Demenz angepasst.
Auch wenn Station Silvia nicht geschlossen ist, verlässt so gut wie nie ein Patient die Station. Das mag zum einen an dem Farbkonzept liegen: „Die Stationstür hat dieselbe Farbe wie die Wand. Andererseits ist der Patient dort angekommen und fühlt sich wohl“, erklärt Ursula Sottong. Eine große Herausforderung für Demenzkranke seien wechselnde Gesichter, da jene Lernfähigkeit gestört ist. Häufig fehle auch das Ort-/Zeit-/Raumverständnis. Das bereite im Klinikalltag große Probleme. Deshalb betreuen Alltagsbegleiter die Patienten kontinuierlich – begleiten zum Röntgen und sind mit auf Station da. Sie kennen diese Patienten gut und bilden eine wichtige Beziehungskonstante. Damit werde eine Menge Stress genommen.
Ein weiterer Aspekt sei die Kommunikation: „Menschen mit Einschränkungen reagieren sehr sensibel auf zwischenmenschliche Töne“, erzählt die Silvia-Ärztin. Jeder Mitarbeiter, der mit dieser Patientenklientel in Berührung kommt, werde deswegen geschult. Es brauche viel Empathie und Geduld, zum Beispiel bei den Mahlzeiten: „Wenn ein Patient zum vierten Mal den Teller wegschiebt und nicht essen mag, dann wird er ihm eben ein fünftes Mal angeboten“, erzählt Sottong. „Wir machen uns meist nicht klar, dass die Patienten vergessen, dass ihnen die Mahlzeit schon einmal angeboten wurde.“ Für einen Demenzkranken gelte aber: neues Spiel, neues Glück. Hier müsse man umdenken, auch wenn es dann einmal länger dauert: Den Takt bestimmt der Patient und nicht das Umfeld.