• 01.10.2011
  • Forschung
Kommentar

Wer wirklich Achtung verdient

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 10/2011

Wem gebührt heute Achtung? Und warum? Dem, der vom Chefarzt gegrüßt wird und dem Geldinstitut-Mitarbeiter mit ausgesuchter Freundlichkeit begegnen? Oder dem, der anderen Menschen das Leben ein wenig erleichtert? Und nicht aufgibt, auch wenn er oder sie viel Pech gehabt hat? Der folgende Kommentar thematisiert Nachdenkliches über das menschliche Ansehen..

Neulich hat ein Arzt mir erzählt, an einer Uniklinik habe ein Chefarzt ihm verboten, Mitarbeiter einer Reinigungsfirma zu grüßen. Da war ich sprachlos. Nach einigem Nachdenken habe ich aber meine Sprache wieder gefunden. Das ist gut so, denn ich habe vieles zu sagen, zum Ansehen von Menschen, zu Achtung und zu fehlender Achtung. Weil sich in mir verschiedene gesellschaftliche Schichten vereinen.

Mein Vater stammt aus der Oberschicht: Sein Vater war Doktor der Geologie, sein Elternhaus streng katholisch und konservativ. Als Kinder wurden wir stets ermahnt, uns bei den Großeltern gut zu benehmen, wenn wir zu Besuch dorthin fuhren. Ich erinnere mich an silberne Serviettenringe, massive, dunkle Holzmöbel und Soßenterrinen. Und daran, dass meine Schwester einmal zu der Mutter meines Vaters gesagt hatte, sie sehe aus wie eine Hexe, als wir bei ihr übernachteten und sie das erste Mal ohne ihr Gebiss sahen.

Die Familie meiner Mutter war nicht studiert, und sie hatten auch kein Geld für Serviettenringe, massive, dunkle Holzmöbel und Soßenterrinen. Ich erinnere mich aber an eine Gode, bei der wir als Kinder oft auf dem Schoß gesessen haben. Und an die Erzählung meiner Mutter, dass sie als Kind ihrem Vater nicht habe verzeihen können, dass er die jungen Katzen in einem Sack totgeschlagen habe, damit es nicht zu viele wurden. Ich erinnere mich, dass mein Opa uns Kindern die Fahrräder repariert hat und meine Oma immer stolz auf die von ihr zubereiteten Hähnchenschenkel war, die niemand von uns essen wollte.

Als meine Mutter schwanger wurde, brach mein Vater, der zu diesem Zeitpunkt studierte, sein Studium ab, um Geld zu verdienen. Die Eltern meines Vaters unterstützten die beiden finanziell kaum. Vielleicht weil sie glaubten, mein Vater habe eine bessere Frau verdient, eine die nicht, wie Mutter, auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Mein Vater machte schließlich eine kaufmännische Ausbildung, gründete eine eigene Firma und schuf damit über viele Jahrzehnte Arbeitsplätze. Auch samstags und sonntags arbeitete er, war nie krank, und die Mitarbeiter der Geldinstitute behandelten ihn stets ausgesucht höflich. Bis zu dem Tag, als er – statt in die eigentlich kurz bevorstehende Rente – in Insolvenz ging. Und weil er unter seinem Kopfkissen kein Geld versteckt hatte, füllte er nun im Supermarkt Regale auf und trug morgens früh Zeitungen aus.

Die Mitarbeiter seines Geldinstituts besuchten ihn in seinem Haus, das nun das Haus des Geldinstituts war, und steckten ihre Nasen in jede Ecke – ohne dabei auch nur noch ein bisschen höflich zu sein. Aber viele seiner Freunde und Bekannte achteten ihn dafür jetzt umso mehr, gerade weil er Zeitungen austrug und in der Dorfkneipe nur noch ganz selten Gast war und dann stets nach einem Bier nach Hause ging. Mein Vater starb wenige Jahre, nachdem er insolvent gegangen war. Meine Mutter wird bis heute vom Sozialamt unterstützt. Sie bekommt fast keine eigene Rente, weil sie nur kurze Zeit erwerbstätig gewesen ist. Sie hat fünf Kinder groß gezogen. Zwei davon haben meine Eltern adoptiert, um Menschen, denen es weniger gut als ihnen selbst ginge, an ihrem Glück teilhaben zu lassen.

Meine Mutter verdient sich heute als Reinigungskraft ein bisschen Geld dazu. Ich glaube, die Eltern meines Vaters wären entsetzt, wenn sie wüssten, dass Chefärzte die Frau ihres Sohnes nicht gegrüßt haben wollen. Aber sie leben schon seit längerem nicht mehr. Sie haben die Insolvenz nicht mehr mitbekommen.

Ich selbst habe zunächst eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. „Ja, ich habe anderen Menschen den Hintern abgeputzt, nachdem sie Stuhlgang hatten." Das möchte ich all denjenigen sagen, die immer, wenn man erzählt, man sei Krankenschwester, antworten: „Oh, das könnte ich aber nicht!" Ich weiß nämlich aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass sie mit dem, was sie „aber nicht könnten" keineswegs meinen, dass ihnen dazu (wozu auch immer) besondere Fähigkeiten fehlten. Also Fähigkeiten, die Pflegekräfte tatsächlich brauchen, wie zum Beispiel mehrere Dinge gleichzeitig erledigen zu können, in Notfallsituationen den Überblick zu behalten oder Veränderungen mit sensiblen Antennen wahrnehmen und beurteilen zu können. Ich weiß, sie meinen damit, dass sie anderen nicht den Hintern abputzen könnten. Dabei geht das eigentlich ganz einfach. Es erniedrigt nicht einmal. Einem Menschen, dem es schlecht geht, den Hintern abzuputzen, kann eine erhebende Tätigkeit sein. Erniedrigend ist nur, wenn er oder seine Angehörigen dich deshalb herablassend behandeln. Das kommt vor.

Umfragen sagen, die Berufsgruppe der Krankenpfleger genießt ein hohes Ansehen. Das stimmt, aber es ist eine besondere Art des Ansehens. Es ist nicht die Art des Ansehens, die eine Rolle spielt, ob der oben erwähnte Professor es für gut empfindet, dass Ärzte einen grüßen. Dafür reicht es nicht aus. Es ist dem Professor wahrscheinlich egal, ob andere Ärzte eine Pflegekraft grüßen, denn er nimmt sie kaum wahr. Auch nicht, wenn er schon viele Jahre mit ihr zusammen arbeitet. Auch nicht, wenn sie eine hochkompetente Pflegekraft ist, die viel dazu beiträgt, dass es ihren gemeinsamen Patienten möglichst rasch wieder besser geht. Es ist stattdessen die Art des Ansehens, die sich eher im Verborgenen abspielt, die kaum jemand mitbekommt. Die manchmal ein Patient sogar mit ins Grab nimmt, wenn er, kurz bevor er stirbt, über eine Schwester, die ihm die Hand hält und ihm Schmerzmittel bringt, denkt: „Sie ist ein Engel." Aber seine Augen haben es gesagt, und die Schwester hat das gespürt. Es ist eine schöne Art des Ansehens.

Trotzdem habe ich, nach mehreren Jahren in der Pflege, einen neuen Beruf gelernt, einen der diese Art von Ansehen hat, dass sogar der Chefarzt persönlich mich wahrscheinlich jetzt grüßen würde. Ob das der Grund für meine zweite Ausbildung war, weiß ich nicht. Wenn man mich fragt, nenne ich viele Gründe, vielleicht stimmt alles ein kleines bisschen. Fakt ist, dass ich heute in einem Beruf bin, der so viel Ansehen besitzt, dass sogar die Angestellten der Geldinstitute mich stets ausgesucht höflich behandeln. Ich bin Journalistin und ich habe studiert (allerdings nur Bachelor, aber das muss man ja nicht so laut sagen). Mein Ansehen als Journalistin hat weniger mit Vertrauen und aufrichtigem Respekt zu tun, sondern mehr mit Macht. Ich könnte nämlich schlecht über andere schreiben.

Einen klein bisschen faden Geschmack hinterlässt bei all dem, für mich noch ungewohnten Vom-Chefarzt-gegrüßt-werden und der Geldinstitut-Mitarbeiter-ausgesuchten-Freundlichkeit, das Gefühl, dass beides endet, sobald ich Chefärzten und Geldinstitut-Mitarbeitern den Rücken zudrehe. Manchmal heißt es dann, glaube ich: „Blöde Presse, was die wohl wieder schreibt?".Nun, ich schreibe, was ich höre und sehe, dann kann sich jeder selbst eine Meinung bilden, ob er einen anderen achten will oder nicht. Egal, ob Politiker, kleiner Bürger, Chefarzt, Pfleger oder Putzfrau: Ich schreibe, dass es Menschen gibt, die sich ein hohes Ansehen verdient haben. Weil sie Dinge tun, die anderen Menschen das Leben ein wenig erleichtern. Oder weil sie nicht aufgeben, obwohl sie viel Pech gehabt haben.
Die Reinigungskraft, die der Arzt in Gegenwart seines Chefs sträflicher Weise gegrüßt hatte, war ein studierter Mann aus dem Kosovo. Ein Kriegsflüchtling, der versuchte, sich und seiner Familie irgendwo auf der Welt mit seiner Hände Arbeit ein friedliches Leben zu ermöglichen. Sein Mut und seine Entschlossenheit verdienen es, gegrüßt zu werden. Meine Mutter auch.

Hintern wische ich immer noch ab. Manchmal zumindest. Weil ich gerne Menschen pflege, die Hilfe brauchen. Vielleicht, weil manche Patienten mir dabei eine so ehrliche Achtung entgegen bringen.

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