Zahlreiche Studienergebnisse lassen keinen Zweifel an der Belastung pflegender Angehöriger allgemein und in der Demenzpflege im Besonderen. Durch die Versorgung eines demenzkranken Menschen in der Familie erleben die betroffenen Angehörigen tiefgreifende Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen – Entlastungsprogramme können helfen.
Es ist bekannt, dass pflegende Angehörige entsprechende Entlastungsmaßnahmen gar nicht beziehungsweise relativ spät in Anspruch nehmen. Zahlreiche zeitliche, räumliche, familiäre oder ganz persönliche Barrieren sind in der Literatur beschrieben, die die Pflegepersonen davon abhalten, sich unterstützen zu lassen und entsprechende Leistungen des SGB XI nachzufragen. Somit müssen pflegende Angehörige von Menschen, die an Demenz erkrankt sind, als Risikopopulation für physische und psychische Erkrankungen und eigene Pflegebedürftigkeit betrachtet werden.
Vor diesem Hintergrund wurde im Modellvorhaben „Entlastungsprogramm bei Demenz – EDe" von Mai 2006 bis April 2009 im Raum Minden-Lübbecke ein proaktiv-zugehender Interventionsansatz erprobt und evaluiert. Es handelt sich dabei um ein Gesamtkonzept der Belastungsprävention für Familien, in denen Menschen mit Demenz leben und gepflegt werden. Das Hauptziel war, zu einer spürbaren und nachhaltigen Entlastung der Pflegepersonen zu kommen und dabei die häusliche Lebens- und Pflegesituation zu stabilisieren. Die Stärkung der Angehörigenpflege sollte durch eine Verbesserung der Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung sowie durch eine zielgerichtete Bündelung von Beratungs- und Schulungsleistungen und zeitlichen Freiräumen (Pflegemoratorien) erreicht werden.
Das Projekt wurde durch den GKV-Spitzenverband zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung nach § 8 Abs. 3 SGB XI gefördert. Die Projektleitung lag beim Paritätischen Sozialdienst PariSozial in Minden-Lübbecke, die wissenschaftliche Begleitung hatte das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e. V. in Köln (dip) übernommen.
Individuelle Unterstützungsprogramme
Über die Zugangswege der Pflegeeinsätze durch ambulante Dienste und der Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI konnten problemlos 319 Familien für die Teilnahme am Projekt gewonnen werden, was den enormen Bedarf nach einer entsprechenden Unterstützung anzeigt. Neun speziell qualifizierte Gesundheitsberater – Pflegefachkräfte aus ambulanten Pflegediensten – haben sie über 18 Monate beraten und begleitet und während dieser Zeit insgesamt 1431 Hausbesuche durchgeführt.
Die Besonderheit: Der Beratungsansatz war nicht reaktiv, also abwartend, sondern war im Grundsatz von einer zielgerichteten Initiative der Gesundheitsberater geprägt. Sie sind auf die Familien zugegangen noch bevor diese einen konkreten Bedarf angemeldet haben und haben auch im Projekt, wenn nötig, immer wieder bedarfsorientiert die Initiative ergriffen.
Zu Beginn wurde die Belastung der Hauptpflegepersonen systematischmit Hilfe des EDV-gestützten Assessmentverfahrens, Berliner Inventar zur Angehörigenbelastung bei Demenz, Minden (BIZA-D-M) eingeschätzt. Auf dieser Grundlage haben dann die nachfolgenden Beratungsbesuche stattgefunden. Dabei wurden mit den Familien individuelle Unterstützungsprogramme entwickelt, in denen die Leistungen der Pflegeversicherung und die Angebote in der Region bedarfsorientiert zusammengeführt wurden. Ein individuelles Unterstützungsprogramm in diesem Sinne umfasst eine Unterstützung zur Bewältigung des Alltags mit der Erkrankung durch Informationen und Vermittlung, systemisch-lösungsorientierte Beratung sowie Schulungen und Anleitungen. Es sollte auch darauf abzielen, eine personelle Unterstützung und Entlastung durch zeitliche Freiräume zu erreichen. Diese Unterstützung wurde geleistet durch:
– Freiwillige geschulte Helfer
– Ambulante Pflegedienste
– Tagespflege
– Betreuungsgruppen und Cafés
– Ergänzende familiäre/nachbarschaftliche Hilfen.
Eine wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung der Hausbesuche war die Qualifizierung und kontinuierliche Begleitung der Gesundheitsberater in Fallkonferenzen und Supervisionen. Der Entwicklung einer Professionalität der Berater wurde während der Projektzeit eine große Bedeutung beigemessen.
Entlastung durch zugehende Beratung
In einem umfangreichen Evaluationsverfahren konnte die angestrebte Entlastung der teilnehmenden Familien in vielen Fällen nachgewiesen werden. Dabei kamen folgende Evaluationsmethoden zum Einsatz:
– Wiederholte Belastungsmessung mit dem strukturierten Assessmentinstrument BIZA-D-M
– Telefoninterviews
– Evaluationsworkshops
– Dokumentenanalysen
– Barrierenanalyse
– Einzel- und Gesamtinterpretationen.
Die zugehende und proaktive Strategie der Beratung und die bedarfsorientierte und mitunter kontinuierliche Begleitung der Familien haben es ermöglicht, dass instabile und belastete Lebens- und Pflegesituationen in den Familien aufgedeckt werden konnten. So konnte vielfach die häusliche Versorgung der Demenzerkrankten verbessert und gesichert sowie die Überlastung vieler pflegender Angehöriger reduziert werden.
Die Ergebnisse des Projekts zeigen insbesondere, dass die pflegenden Angehörigen
– sich durch die proaktiven Interventionen besser imstande sahen, mit demenzbedingten Verhaltensänderungen im Alltag umzugehen,
– einen besseren Zugang zu den Unterstützungsangeboten der Region sowie einen Wissenszuwachs über ihre leistungsrechtlichen Ansprüche hatten,
– trotz bleibender Verantwortung „rund um die Uhr" zeitliche Freiräume als gewinnbringend und entlastend empfunden und für persönliche Bedürfnisse genutzt haben,
– durch die konkrete Unterstützung häufig situative Erleichterungen erlebt und sich dadurch emotional unterstützt sahen.
Beratung für Umgang mit Demenz im Alltag
Die Belastungsmessung mit dem Assessmentverfahren hat zu Beginn des Projekts gezeigt, dass zwischen den demenzbedingten Verhaltensänderungen und der subjektiven Belastung der Angehörigen signifikante Zusammenhänge bestehen. Dementsprechend nahmen Beratungen und Schulungen im Umgang mit Verhaltensänderungen einen großen Raum innerhalb der Beratungsbesuche ein. In der häuslichen Umgebung der Familien war den Gesundheitsberatern ein Eingehen auf spezifische individuelle Verhaltensweisen und die sich daraus ergebenden Probleme möglich. Zudem hatte ein Teil der Familien an Gruppenschulungen teilgenommen. In den abschließenden Telefoninterviews sagten zwei Drittel der befragten Angehörigen, dass ihnen das Erlernte Entlastung im Alltag, mehr Ruhe und Gelassenheit und ein besseres Verständnis für die Erkrankung gebracht habe.
Insgesamt kann anhand der Assessmentergebnisse zu Projektende gezeigt werden, dass die Belastung der Angehörigen aufgrund demenzbedingter Verhaltensänderungen vielfach signifikant abgenommen hat. Dies betraf die Belastung durch kognitive Einbußen des Demenzerkrankten, durch Depressivität, durch verwirrtes, desorientiertes Verhalten sowie durch Aggression und Widerstand.
Zugang zu Unterstützungsangeboten erleichtern
Schon bei den ersten Hausbesuchen wurde eine große Unkenntnis der Familien bezüglich der Leistungen der Pflegeversicherung deutlich. Es bestanden vielfach keine Kenntnisse zu Grundansprüchen, zur Einsetzbarkeit der Leistungen und die Antragsstellung war eine oftmals nicht überwindbare Hürde. So war es ein Anliegen, die Fähigkeiten der Familien im Umgang mit den Leistungen der Pflegeversicherung zu stärken. Mit verschiedenen Evaluationsverfahren konnte gezeigt werden, dass die Familien nach dem Projekt diesbezüglich einen wesentlich höheren Kenntnisstand hatten. In den Telefoninterviews haben immerhin 67 Prozent der befragten pflegenden Angehörigen zu Projektende eingeschätzt, die Leistungen nun auch ohne die Hilfe der Gesundheitsberater in Anspruch nehmen zu können.
Freiraum für persönliche Bedürfnisse schaffen
Zu Projektbeginn waren vielen pflegenden Angehörigen eigene Bedürfnisse kaum mehr bewusst. 74 Prozent gaben an, rund um die Uhr mit Pflegeaufgaben beschäftigt zu sein. Zudem bestanden Vorbehalte und Barrieren, die sie daran gehindert haben, eigene Freizeit zu beanspruchen und sich von anderen Personen bei der Pflege unterstützen zu lassen. Um die Inanspruchnahme von zeitlichen Freiräumen zu fördern, sollten die Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege (§§ 42 und 39 SGB XI) sowie der zusätzlichen Betreuungsleistungen (§ 45 b SGB XI) vermehrt genutzt werden. Zusätzlich bestand für die teilnehmenden Familien während der Projektzeit die Möglichkeit, Mittel der Kurzzeitpflege in Mittel der Verhinderungspflege umzuwandeln.
Als solche waren sie nicht an einen stationären Aufenthalt des Demenzerkrankten gebunden und konnten stattdessen auch für stundenweise Betreuung zu Hause oder beispielsweise in Demenz-Cafés genutzt werden. Durch die Beratungen wurde erreicht, dass die Familien diese Leistungen erheblich mehr in Anspruch genommen haben. Während vor dem Projekt 58 Prozent der Familien keine der genannten Leistungen genutzt haben, so waren es mit Hilfe der Beratung 94 Prozent, die mindestens eine Leistung genutzt haben, 53 Prozent haben sogar alle drei Leistungen in Kombination genutzt. Insbesondere wurde von der Umwandlungsmöglichkeit der Kurzzeit- in Verhinderungs-pflegemittel Gebrauch gemacht.
In der Evaluation konnte deutlich gezeigt werden, dass die zeitlichen Freiräume von den pflegenden Angehörigen fast durchgängig als gewinnbringend und entlastend empfunden wurden. In den Assessmentergebnissen zu Projektende hatte die Belastung durch persönliche Einschränkungen, zum Beispiel „keine Zeit für eigene Interessen und Hobbys" oder „zu wenig Rückzugsmöglichkeiten", signifikant abgenommen (Abb. 1). Auch berufliche und familiäre Belastungen, die aus einer Doppelrolle der pflegenden Angehörigen resultieren, nahmen innerhalb der Gesamtgruppe ab. Der Satz einer Angehörigen im Telefoninterview brachte es auf den Punkt: „Die Verantwortung bleibt, aber es bringt Erleichterung."
Situative Erleichterung und emotionale Entlastung
Die Analyse der Beratungsdokumentation hat ergeben, dass in der Projektzeit 876-mal sogenannte Entlastungsgespräche stattgefunden haben. Die Intervention im „Entlastungsgespräch" bestand im aktiven Zuhören der Gesundheitsberater, in der Anteilnahme und aufrichtigen Wertschätzung der Leistung der pflegenden Angehörigen. Diese Gesprächsanteile hatten in den Beratungen immer Priorität und eine situativ erleichternde und emotional entlastende Wirkung. Sie waren untrennbar mit den Beratungsanteilen verbunden, in fast allen Fällen die unabdingbare Voraussetzung für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und eine erfolgreiche Beratung. Erst danach konnte die geplante Beratung im Hinblick auf weitere Interventionen und unter Anwendung systemischer Beratungselemente stattfinden. Ganz offensichtlich schafft „sich entlasten" erst die Grundlage für Veränderungen.
In diesem Zusammenhang wurden die Angehörigen in den Telefoninterviews gefragt: „Was war für Sie das Wichtigste im Projekt?" Hier eine Auswahl der häufigsten Antworten:
– „Das persönliche Gespräch, der persönliche Ansprechpartner."
– „Die Offenheit in den Gesprächen."
– „Das Vertrauen, das man zu Herrn/Frau – (Name des Beraters) haben konnte."
– „Jemanden zu haben, der hinter einem steht."
– „Die Bestätigung."
– „Dass man sich durch die Gespräche gut gefühlt hat."
Stabilisierung der häuslichen Lebens- und Pflegesituation
Die genannten Faktoren haben trotz fortschreitendem Krankheitsverlauf in vielen Familien zur Stabilisierung der häuslichen Lebens- und Pflegesituation beigetragen. Das bedeutete, dass die Angehörigen sowohl psychisch als auch körperlich entlastet wurden. Es kam durch die Beratungen und Schulungen vor allem auch zu einer verbesserten Versorgung der Demenzerkrankten. Teilweise war dabei eine engmaschige Begleitung durch die zuständigen Gesundheitsberater notwendig, um die Situation nachhaltig zu entspannen.
Zu Projektende waren 37 Prozent der pflegenden Angehörigen, die telefonisch interviewt wurden, der Meinung, dass sie nun länger zu Hause pflegen können. Fast alle schätzten die zugehende Form der Beratung als immens wichtig ein, da sich „die Beraterin dann selbst ein Bild machen kann", weil „die Gesprächsatmosphäre zu Hause entspannter und offener ist" oder „weil keine Betreuungsmöglichkeit für den Demenzerkrankten zur Verfügung stand". Die Abbildung 2 zeigt ein Modell für eine wirkungsvolle Entlastungsintervention.
Empfehlungen aus dem Modellvorhaben
Aus den Ergebnissen des Modellvorhabens wurden 15 Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung abgeleitet, von denen an dieser Stelle einige ausgeführt werden. Die kompletten Empfehlungen sind im Abschlussbericht enthalten.
– Vorhandene Beratungs- und Unterstützungsleistungen aus dem Pflegeversicherungsgesetz sollten so weit wie möglich gebündelt und als übergreifende und individuelle Entlastungs- und Unterstützungsprogramme organisiert werden.
– Konzepte zur Qualifikation, Beratung, Einschätzung, Schulung und Unterstützung müssen sinnvoll aufeinander abgestimmt sein. Es ist zu empfehlen, dass Entlastungsprogramme bei Demenz bundesweit auf der Grundlage dieses definierten und er-folgreichen Multi-Konzept-Ansatzes ermöglicht werden.
– Einer der wichtigsten Ansätze im Projekt war die Qualifizierung und Begleitung der neun Gesundheitsberater. Es ist zu empfehlen, die Professionalität der Berater durch zielgruppenorientierte Qualifikationsmaßnahmen zu fördern.
– Angebote von Hausbesuchen und proaktiv-zugehenden Interventions- und Beratungsmaßnahmen sollten Regelleistung bei komplexen Bedarfslagen werden. Ebenfalls wird der systemisch-lösungsorientierte Beratungsansatz für komplexe Bedarfslagen in den Familien empfohlen.
Ausblick
Im Projekt wurde außerdem ein umfangreiches Schulungskonzept für pflegende Angehörige von demenzerkrankten Menschen entwickelt, erprobt und evaluiert. Das Konzept „Mit Altersverwirrtheit umgehen" setzt am Erleben der Demenzerkrankten und am Erleben der Angehörigen an und enthält neben theoretischen Ausführungen umfassende methodisch-didaktische Hinweise für die Kursleiter und Schulungsmaterialien. Das Konzept ist über die Verfasser zur weiteren Erprobung zu beziehen.
Der Abschlussbericht und das Qualifizierungskonzept für die Gesundheitsberater sind in Kürze von der Homepage des GKV-Spitzenverbands, www.gkv-bund.de, oder von der Homepage des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung, www.dip.de, zu beziehen.
Bereits im Februar 2009 ist in Minden Lübbecke das Folgeprojekt „EDe II" angelaufen. Im Projekt werden Demenzerkrankte der sogenannten Pflegestufe 0 und deren Familien unterstützt. Damit wird zum Projektende, im September 2011, eine Aussage zu Unterstützungsbedarfen dieser neuen Leistungsempfänger des SGB XI möglich sein.
Literatur:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2004): Altenhilfestrukturen der Zukunft. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Bundesmodellprogramm
Bürgi, A.; Eberhart, H. (2004): Beratung als strukturierter Prozess. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Pinquart, M.; Sörensen, S. (2002): Interventionseffekte auf Pflegende Dementer und andere informelle Helfer: Eine Metaanalyse. In: Zeitschrift für Gerontopsychologie und –psychiatrie
Schneekloth, U.; Engels, D. (2008): Selbständigkeit und Hilfebedarf bei älteren Menschen in Privathaushalten. Pflegearrangements, Demenz, Versorgungsangebote. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer
Ströbel, A.; Weidner, F. (2003): Ansätze zur Pflegeprävention. Hannover: Schlütersche
Weidner, F. (1995): Professionelle Pflegepraxis und Gesundheitsförderung – Eine empirische Untersuchung der beruflichen Voraussetzungen und Perspektiven der Krankenpflege. Frankfurt/Main: Mabuse Verlag
Zank, S.; Schacke, C. (2006): Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger von demenziell Erkrankten (LEANDER) Abschlussbericht, Phase 2. Universität Siegen
Zwicker-Pelzer, R. (2008): Systemische Beratung. In: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, Jg. 26, H. 4