Unwillkürlich fühlt man sich an die sizilianische Cosa Nostra, die neapolitanische Camorra oder eben die russische Samarowskaja Gruppa erinnert, wenngleich man sich hüten sollte, das ohne jeden Zweifel ernste Problem ironisch-abwertend zu verharmlosen: Offenbar gibt es hier zu Lande organisierte kriminelle Strukturen russischer Dienste im Pflegebereich, die sich nicht scheuen, aus dem Leiden schwerst Pflegebedürftiger immenses finanzielles Kapital zu schlagen. Aufgedeckt wurden die Machenschaften durch Recherchen der „Welt am Sonntag" und des „Bayerischen Rundfunks", die mit Bezug auf einen vertraulichen Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA) die Vorgänge an die Öffentlichkeit getragen hatten.
Sozialbetrug auch im deutschen Pflegewesen ist zwar nicht neu, die immer deutlicher werdende Dimension schon. Sich damit juristisch zu befassen, ist Sache der Behörden und der Politik. Stellung zu beziehen, zu bewerten, Folgen abzuschätzen, sich wieder einmal in Endlosforderungen an die „gesetzlich Verantwortlichen" zu verlieren, aufgeregt zu verteidigen, was nicht verteidigungsbedürftig ist, ist dagegen das Anliegen alle derer, die mittelbar als Pflege- und Gesundheitsdienstleister betroffen sind. Der Medien-Hype hat ein Übriges dazu beigetragen, den groß angelegten Betrug zu „einem der größten Skandale im Gesundheitswesen der vergangenen Jahrzehnte" (O-Ton SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach) werden zu lassen.
Die Aufregung ist groß, und sie ist es zu Recht. Allerdings ist bei einem Überblick über die empörten Rufe aus allen Richtungen zu hinterfragen: Was genau ist eigentlich geschehen – und geht es nicht auch ein wenig sachlicher?
Vordringlich und an erster Stelle muss beantwortet werden, ob – und wenn ja, in welchem Umfang – Patienten, bei denen es sich wohl primär um häusliche beatmungspflichtige Intensivpflegefälle handelt, zu Schaden gekommen sind. Dass es hierzu bislang wenige bis keine Aussagen gibt, ist nicht nur bedauerlich, sondern zeigt, in welche Bereiche sich die aufgeregten Diskussionen mit Blick auf wirtschaftliche, juristische, politische und vor allem wieder einmal lobbyistisch geprägte Interessen verlagern. „Das Wohl des Patienten steht über allem!" – nur eine Phrase, wenn es um Milliardenschäden für die Sozialgemeinschaft geht?
Doch schauen wir uns zunächst die Fakten an. Dabei muss schon erstaunen, dass dem BKA-Papier zufolge eine bereits über Monate hinweg vorbereitete Auswertung von Ermittlungsverfahren in allen Bundesländern zugrunde liegt, deren Existenz dann eher zufällig als beabsichtigt bekannt wurde. Ein BKA-Sprecher bestätigte: „Das Phänomen des Abrechnungsbetrugs mit Pflegediensten von Staatsangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion ist dem BKA bekannt. Wir beobachten es gemeinsam mit den Bundesländern sehr sorgfältig." In Einzelfällen gebe es Informationen, wonach „die Investition in russische, ambulante Pflegedienste ein Geschäftsfeld russisch-eurasischer organisierter Kriminalität ist". Allerdings: Wenn all dies seit langem bekannt ist, muss die Frage erlaubt sein, warum bisher zumindest seitens der Justiz nichts unternommen wurde? Denn zu einer langen Liste von verschiedenen Betrugsmustern gehören dem Bericht zufolge abgerechnete, aber nicht oder nur zum Teil erbrachte Leistungen, zuweilen selbst dann, wenn die Pflegeperson zu der Zeit im Krankenhaus war, der Einsatz unqualifizierten Personals samt gefälschten Ausbildungszertifikaten, mangelhafte Dokumentation von Leistungen, Vortäuschen von Pflegebedürftigkeit, Vermittlung von Patienten an Pflegedienste durch Ärzte, die dafür monatliche Zahlungen erhielten und erforderliche Atteste ausstellten. Auch seien ältere Menschen gezielt angeworben worden, um eine Pflegebedürftigkeit zu simulieren und gegen Honorar gegenüber der Pflegekasse vorzutäuschen. Häusliche Begutachtungen seien gezielt manipuliert worden, zuweilen seien die vorgeblichen Pflegefälle auch „nur zu den jeweiligen Begutachtungsterminen" nach Deutschland ein- und danach wieder ausgereist. Nach Informationen der FAZ enthält der Bericht des BKA ebenfalls Passagen über die Mittäterprofile. Dort heißt es: „Beteiligte sind dabei in unterschiedlicher Art und Weise Pflegekräfte, Leistungsempfänger, Angehörige, Ärzte, Apotheken, Sanitätshäuser, etc.". Regionale Schwerpunkte gibt es den Berichten zufolge in Berlin, Niedersachsen und Bayern. Den Sozialkassen und damit auch den Beitragszahlern entstehe, so das Papier, offenbar ein jährlicher Schaden von mindestens einer Milliarde Euro.
Schneller als gewohnt hat dagegen die Politik reagiert – der mediale Fokus auf das Thema hatte seine Wirkung wohl nicht verfehlt. Bereits am Ende der Woche nach dem Bekanntwerden der BKA-Untersuchung traf sich Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) mit Vertretern von Pflegeverbänden, Bundeskriminalamt (BKA) und Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) in Berlin. Der Schwerpunkt einer Kriminalitätsprävention scheint nun auf einer gesetzlich verankerten Erweiterung der bisherigen Kontrollmechanismen zu liegen. Wie Gröhe mitteilte, sollen über die bereits eingeführten gesetzlichen Regelungen hinaus erweiterte Befugnisse geprüft werden. Gelten soll dies für Fälle, in denen die häusliche Krankenpflege nicht parallel zur Altenpflege erbracht wird.
Nach Einschätzung des GKV-Spitzenverbands macht unter anderem eine Lücke im Gesetz die Betrügereien möglich. „Es gibt einen ganz klaren Hinweis, dass der Gesetzgeber den Krankenkassen die Möglichkeit geben müsste und dafür auch eine gesetzliche Grundlage schafft, dass wir auch bei häuslicher Krankenpflege ein unangemeldetes Prüfrecht bekommen – und zwar insbesondere, wenn sie in Kombination mit Leistungen der Pflegeversicherung auftaucht", äußerte sich der Vorstand des GKV-Spitzenverbandes, Gernot Kiefer. „Ob die Leistungen der Krankenversicherung korrekt erbracht werden, darüber haben wir keine Prüfrechte", argumentierte Kiefer, denn lediglich für Leistungen aus der Pflegekasse sieht der Gesetzgeber unangemeldete Prüfungen durch den MDK vor (§ 114 a SGB XI).
Vor allem in der ambulanten Pflege wird also zu wenig kontrolliert, und zwar nicht nur vor Ort. Auch bei mancher Abrechnung hätte ein Prüfer schon in der Vergangenheit misstrauisch werden können. Ein Pflegedienst, der einem Osteuropäer gehört, der nur Patienten mit ähnlichen Biografien betreut und auch nur Pflegekräfte mit ähnlichen Biografien beschäftigt, muss das Misstrauen hinsichtlich eines in sich geschlossenen Systems wecken, einem Scheingeschäft und ziemlich schlechter Pflege.
Die Warnung vor „Einschränkungen der Grundrechte von Pflegebedürftigen durch unangemeldete Prüfungen der Leistungen in Privathaushalten" seitens des Verbandes Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) und anderer erscheint hier jedenfalls wenig hilfreich. Sozialämter führen genau diese unangemeldeten Prüfungen bei Bedarf dort durch, wo beispielsweise Gefahr für das Wohl von Kindern und Jugendlichen besteht. Unangemeldete Prüfungen der Versorgungssituation im Interesse Schwerstkranker und ihrer Angehörigen sind gewiss dann zumutbar, wenn sie mit generellem Einverständnis erfolgen.
Empörung ist grundsätzlich legitim und nachvollziehbar. Aber ist sie auch in rational bestimmte, jetzt erforderliche Konsequenzen wandelbar? Vor allem aber: Bestehen Befürchtungen von Pflegeverbänden, Kostenträgern und auch der Politik zu Recht, dass durch die jetzt bekannt gewordenen Vorgänge der gesamten Pflege ein erheblicher Imageschaden zugefügt worden ist? Hier sollte man nicht wieder einmal in die alten Muster der Vermutung und Unterstellung verfallen, sondern den Weg herab aus den Höhen des Mandatsolymps zu den Menschen auf der Straße finden und ohne Scheu und falsche Rücksichtnahme die schwarzen Schafe benennen. Öffentliche Meinung ist nicht zu unterschätzen, sie weiß sehr genau zwischen organisiertem Verbrechen und den hundertausenden ehrlich und aufopferungsvoll tätigen Pflegekräften zu unterscheiden.
Zudem darf man bei all den Konferenzen, Sitzungen, Mahnschreiben, Medieninterviews und sonstigen Stellungnahmen nicht vergessen, dass Eile dringend vonnöten ist. Denn noch können die Hintermänner ungehemmt weiter ihren skrupellosen Geschäften nachgehen. Dennoch sollte man statt eines emotional gesteuerten – wenn auch menschlich verständlichen – hektischen Rundumschlages die aufgedeckten Machenschaften als das bewerten, was sie sind: Hochgradig kriminelle Vorgänge, deren organisierte Strukturen mit aller Härte zerschlagen werden müssen. Und niemand wird deswegen einen ganzen Berufsstand in die unzumutbar widerliche Ecke weltweit agierender mafiöser Verbrecherclans rücken wollen.