• 01.06.2016
  • Forschung
Herausforderndes Verhalten bei Demenz

"Es gibt keine pauschale Empfehlung"

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 6/2016

Der Umgang mit schwierigen Verhaltensweisen bei an Demenz erkrankten Patienten und Bewohnern ist für Pflegende nicht immer einfach. Hinzu kommt, dass keine Maßnahme per se richtig oder falsch sei, sagt Pflegewissenschaftlerin Dr. Margareta Halek. Alles müsse individuell abgestimmt werden. Das erfordere viel pflegerische Fachkompetenz. 

Frau Dr. Halek, ab wann gilt ein Verhalten von Menschen mit Demenz als herausfordernd?

Das ist eine sehr wichtige, aber gleichzeitig auch sehr schwierige Frage, denn es gibt keine klare Definition dieses Begriffs. In der Praxis ist es meist so, dass jeder ein bestimmtes Verhalten unterschiedlich stark herausfordernd findet.

Tritt herausforderndes Verhalten zwangsläufig bei allen an Demenz erkrankten Patienten auf?

Ja, entsprechende Untersuchungen haben ergeben, dass fast jeder Betroffene solche Verhaltenssymptome im Verlauf der Krankheit zeigt. Die häufigsten Symptome sind dabei Agitation und Apathie.  

Viele Pflegende fühlen sich hilflos, wenn sie in einer Situation mit herausforderndem Verhalten konfrontiert sind. Was können sie konkret tun, wenn ein Patienten kontinuierlich umherläuft, weint oder schreit?

Wenn eine solche Situation über einen längeren Zeitraum anhält, sollte sie auf jeden Fall im Team besprochen werden. Gemeinsam analysiert man dann, ob das Verhalten vielleicht immer nur bei einer bestimmten Person auftritt oder ob es generell ein Problem ist und wie andere mit dieser Situation umgehen. Auch sollte man gemeinsam eruieren, was die Ursachen für dieses Verhalten sein können und welche geeignete Maßnahmen angewendet werden sollten. Grundsätzlich aber kann ich keine pauschale Empfehlung aussprechen. Es wäre nicht richtig, wenn ich Validation, Snoezelen oder Musiktherapie empfehlen würde. Die richtige Maßnahme hängt sehr von der betreffenden Person ab, worin ihr Verhalten begründet liegt und auf was sie positiv reagiert.

Haben Sie trotzdem einen Rat für Pflegende?

Meine Empfehlung ist, ein solches Verhalten wirklich als ein Signal zu verstehen und als einen Kommunikationsansatz des Patienten, um herauszufinden, was er mir mit diesem Verhalten mitteilen möchte. Keine Maßnahme ist per se richtig oder falsch, alles muss individuell abgestimmt werden. Pflegende brauchen dafür eigentlich eine Art Baukasten, denn sie müssen sich in unterschiedlichen Ansätzen, beispielsweise auch in der Psychologie, gut auskennen und diese auch anwenden können. Eine gute Hilfestellung bieten die Rahmenempfehlungen zum herausfordernden Verhalten von Menschen mit Demenz. Sie sind zwar schon 2007 entwickelt worden, stellen aus meiner Sicht aber immer noch den aktuellen Stand des Wissens zum Thema dar und sind für die Situation in deutschen Pflegeheimen entwickelt worden. Sie stellen die sogenannte „Verstehende Diagnostik" in den Mittelpunkt. Damit ist gemeint, dass das Verstehen des Verhaltens vor dem Handeln kommt.

Ein Ansatz könnte auch das etwas in die Jahre gekommene Modell der Validation der US-Amerikanerin Naomi Feil aus den 1990er-Jahren sein. Dieser lehrt, dass man an Demenz Erkrankten wertschätzend begegnen und ihre momentanen Gefühle spiegeln muss. Zurechtweisungen sind laut Feil immer unangebracht. Ist das nicht auch eine hilfreiche Strategie?

Ob Validation richtig ist, kann ich nicht sagen, zumal es keine guten Effektivitätsstudien zu diesem Ansatz gibt. Dennoch ist sicherlich der hinter dem Modell steckende Ansatz entscheidend in der Pflege. Es ist eine Prämisse, Menschen wertschätzend zu begegnen und sie auch so zu behandeln. Ob das nun nach den Regeln von Naomi Feil oder Nicole Richards, die die integrative Validation etabliert hat, erfolgt, ist zweitrangig. Wenn es einen positiven Effekt auf die Person hat, dann ist es gut. So simpel, wie das klingt, ist es auch.

Aber was, wenn eine Pflegefachperson mit einer Situation überfordert ist, beispielsweise weil ein Patient unentwegt umherläuft und das womöglich auch noch in einer Situation, in der ohnehin schon Zeitdruck herrscht?

Auch hier kann ich keinen konkreten Tipp geben. Wenn die Situation sehr problematisch ist, dann helfen sicherlich Deeskalationsstrategien, die den Moment entschärfen und beruhigen. Dazu zählt zum Beispiel der Person ruhig, mit Respekt und Empathie entgegenzutreten. Verbale Drohungen oder Drohgebärden wie der erhobene Fingerzeig sollten vermieden werden. Grundsätzlich kommen wir aber nicht umhin, dass wir die Person kennen müssen, um zu wissen, was sie in schwierigen Situationen beruhigt. Die unmittelbar nächsten Minuten kann man damit überbrücken und gewinnt so Zeit, weitergehende Maßnahmen in Betracht zu ziehen. Ein sensibler und reflektierter Umgang mit Patienten und Bewohnern ist in jeder Situation maßgeblich.

Es gibt unterschiedliche Assessment-Instrumente, die bei der Einschätzung von herausforderndem Verhalten helfen sollen. Sind diese lediglich als Orientierung zu verstehen?

Tatsächlich gibt es fast über 100 solcher Instrumente, die so etwas wie problematisches, neuropsychiatrisches oder herausforderndes Verhalten erfassen – selbst der Begriff für dieses bestimmte Phänomen von Verhalten ist nicht eindeutig. Erst die bereits erwähnten Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen mit Demenz des Bundesgesundheitsministeriums schafften diesbezüglich mehr Klarheit. International spricht man in Zusammenhang mit Demenz schon seit der Jahrtausendwende von herausforderndem Verhalten. Der Begriff soll auch die Individualität von Verhalten abbilden. Zuvor sprach man eher von Problemverhalten, störendem Verhalten oder demenzspezifischem Verhalten, also sehr medizinisch oder psychiatrisch geprägten Ausdrücken. Wobei der Begriff des herausfordernden Verhaltens hier in Deutschland nicht unumstritten ist. Meinem Empfinden nach nutzt nur die Minderheit in der Praxis solche Assessment-Instrumente. Sie gehören nicht zum Standard, sondern werden vor allem dann angewandt, wenn die Einschätzung von Verhalten vor allem strukturelle oder finanzielle Bedeutung hat. Also wenn zum Beispiel Altenhilfeeinrichtungen mit spezialisierten Wohneinheiten zusätzliche Finanzierungstöpfe generieren wollen.

Woran liegt es, dass die Instrumente nicht Standard in der pflegerischen Praxis sind, wenn doch die Zahl der Betroffenen so hoch ist?

Assessment-Instrumente sind generell wenig beliebt in der Praxis und werden eher als lästig empfunden. Verhaltenserfassung ist zudem nicht wirklich ein Thema in der Ausbildung. Darüber hinaus sind die meisten Verhaltensinstrumente nicht von der oder für die Pflege entwickelt worden, sondern es sind in der Regel medizinische Forschungsinstrumente, zu denen es nur wenige Empfehlungen gibt, wie sie für die Gestaltung des Pflegeprozesses genutzt werden können. Außerdem wird Verhalten in der Praxis nicht als Pflegephänomen wie Schmerz oder Inkontinenz wahrgenommen. Im Pflegealltag schaut jede Pflegekraft individuell, ob sie es mit herausforderndem Verhalten zu tun hat oder nicht. Meistens gibt es in den einzelnen Pflegeteams aber schon so etwas wie ein gemeinsames Verständnis von herausforderndem Verhalten. Dennoch offenbart sich manchmal in gemeinsamen Fallbesprechungen, dass dieses Verständnis trotzdem sehr unterschiedlich sein kann.

Inwiefern?

Wenn beispielsweise das Team davon ausgeht, ein Patient oder Bewohner sei herausfordernd, zeigt sich in der Fallbesprechung plötzlich, dass die eine Pflegekraft dieses Verhalten eher beim Essen wahrnimmt, die andere aber beim Anziehen. Sie sind sich zwar einig, dass diese Person herausfordernd ist, aber was genau das Herausfordernde ist, dazu gibt es häufig unterschiedliche Wahrnehmungen. Die Bewertung liegt im Auge des Betrachters, es ist etwas sehr Subjektives. Dem Gegenüber steht der wissenschaftliche Ansatz. Ein Wert auf einer Skala definiert, ob das Verhalten ein herausforderndes ist. Ist dem so, dann ist es damit objektiv dokumentiert.

Welche Konsequenzen haben diese beiden unterschiedlichen Ansätze?

Beide Sichtweisen haben Vor- und Nachteile. Die Forschung hat vor allem Programme entwickelt, die Lösungen für eine ganze Gruppe von Menschen mit Demenz anbieten und die auf die Minderung von herausforderndem Verhalten ausgerichtet sind. Dazu zählen zum Beispiel Musikangebote oder sensorische Stimulation. Die Gefahr dabei ist, dass man den Menschen mit Demenz Unrecht tut, weil die individuelle Bedeutung des Verhaltens vernachlässigt wird. Die individuelle, sagen wir „Alles-liegt-im-Auge-des-Betrachters-Perspektive" verleitet mitunter dazu, ernste Probleme zu übersehen, zu bagatellisieren, den Umgang mit dem Verhalten zu stark von individuellen Einstellungen abhängig zu machen.

Wie können Pflegende hier einen richtigen Weg einschlagen? Gibt es einen solchen überhaupt?

In den meisten Fällen besteht kein Widerspruch zwischen dem, was die Pflegenden sagen und was die Auswertung einer Skala ergibt. Aber wenn jemand schlägt, sagen viele Pflegende oft, dass sie wissen, warum derjenige das tut. Damit ist es für sie kein herausforderndes Verhalten mehr, weil es für sie eine nachvollziehbare Reaktion ist und sie wissen, wie sie solche Situationen vermeiden können. Die wissenschaftlichen Methoden können zwar ein Verhalten wie Schlagen, Rufen oder Gehen objektiv festhalten. Die Bewertung jedoch, ob das auch etwas Problematisches, Herausforderndes ist, passiert eigentlich in den Köpfen der Betrachter.

Also kommt es immer auch auf eine genaue Beobachtung der Patienten an? Das erfordert Fachkompetenz…

Ja, genau, je mehr Pflegende über Demenz wissen, desto ein größeres Handlungsrepertoire haben sie. Verhalten ist immer ein Ausdruck von Bedürfnissen, Umfeldbedingungen und der eigenen Persönlichkeit – auch bei gesunden Menschen. Dieses Verhalten sollte zunächst als eine Art von Kommunikation wahrgenommen werden, um dann die Gründe dafür herauszufinden. Wenn Pflegende sehr sorgfältig den an Demenz Erkrankten betrachten, dann finden sie mitunter raus, dass vermeintliches oder zunächst problematisches Verhalten auch als eine Ressource verstanden werden kann.

Wie meinen Sie das?

Menschen, die viel herumlaufen, werden immer als Problemfall betrachtet. Das ist aufgrund der Rahmenbedingungen durchaus nachvollziehbar. Aber wenn dieses Herumlaufen eines der wenigen Funktionen ist, die diese Person noch selbstständig ausführen kann, die ihn beschäftigt und beruhigt, dann ist das eine Ressource, die es zu erhalten gilt. Der nächste Schritt wäre zu schauen, wie man die Umgebung anpassen kann, damit seine Selbstständigkeit möglichst erhalten bleibt. Verhalten muss also in Zusammenhang mit Demenz nicht zwangsläufig negativ sein.

Dennoch kann diese Unruhe auch im Schmerz begründet sein. Forschungsergebnisse weisen auf einen engen Zusammenhang dieser beiden Faktoren hin.

Das will ich nicht bestreiten. In solchen Fällen muss der Schmerz natürlich behandelt werden, um die Unruhe zu reduzieren. Die Suche nach den Ursachen ist das Elementare im Umgang mit herausforderndem Verhalten.

Kann eine Pflegekraft die dafür nötige Kompetenz in sich allein bündeln oder ist vielmehr ein interdisziplinäres Team ratsam?

Es ist zweifelsohne schwer, bei Patienten mit herausforderndem Verhalten die situationsbedingt richtige Strategie zu finden. Deshalb sind gemeinsame Fallbesprechungen mit allen am Behandlungsprozess Beteiligten sehr sinnvoll. International spielen Psychologen dabei eine Schlüsselrolle. Hierzulande kenne ich jedoch keine Einrichtung, die einen Psychologen zur Beratung zieht beziehungsweise ziehen kann. Genauso wichtig wie Psychologen sind Pharmakologen. Auch das ist in der Praxis kaum umsetzbar. Deshalb geht es eher um die Frage, wie man trotz dieser widrigen Umstände an das Fachwissen dieser Experten kommt. Und das funktioniert am besten über gut geknüpfte Netzwerke.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Halek.
 

Herausforderndes Verhalten bestimmen

Es gibt eine Vielzahl an Assessment-Instrumenten, mit denen herausforderndes Verhalten bestimmt werden kann. Zum Beispiel gibt es das sogenannte neuropsychiatrische Inventar. Das ist ein Instrument, mit dem Symptome wie Unruhe, Apathie oder Aggression erfasst werden. Erst ab einem bestimmten Punktwert spricht man in diesem Fall von klinisch relevantem Verhalten. In Deutschland weit verbreitet ist das Cohen-Mansfield-Agitations-Inventar. Damit wird aggressives Verhalten mit seiner Häufigkeit in einem Beurteilungszeitraum von meist zwei Wochen dokumentiert. Insgesamt 29 Formen des Verhaltens sind dort vorgegeben. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, herausforderndes Verhalten einerseits über die Häufigkeit zu definieren. Zeigt ein Patient oder Bewohner über einen bestimmten Zeitraum ein gewisses Verhalten, gilt es als herausfordernd. Andererseits gibt es den Ansatz, anhand der Stärke eines Verhaltens die entsprechende Schlussfolgerung zu ziehen. Also wenn beispielsweise ein Patient hin und wieder schlägt, dies jedoch dann sehr gewaltvoll, findet das zwar nicht so oft statt, wie ein unruhiges Verhalten, aber es ist sehr belastend für Pflegende und Angehörig

Dr. Margareta Halek (MScN), 43, ist Leiterin der Forschungsgruppe Versorgungsinterventionen und stellvertretende Sprecherin des Standorts Witten des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE). Außerdem ist sie Juniorprofessorin für Pflegewissenschaften mit dem Schwerpunkt Pflege von Menschen mit Demenz am Department für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke. 

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