Es tut sich etwas in der akademischen Bildungslandschaft, und trotzdem ist Deutschland noch weit davon entfernt, ausreichend Pflegewissenschaftler für Forschung und Praxis vorzuhalten. Nun bietet die Universität Witten/Herdecke einen neuen Studiengang „Innovative Pflegepraxis" an, der berufsintegriert absolviert werden kann.
Seit etwa zwanzig Jahren kann Pflege in Deutschland studiert werden, wenn auch immer noch in bescheidenem Ausmaßss. Pflege stellt sich noch immer als tradierter Beruf mit eher handwerklichem und assistierendem Auftrag dar. Die meisten Pflegenden werden im Sinne beruflicher Bildung an speziellen Schulen in Krankenhäusern ausgebildet. Ein aktuelles Gutachten des Wissenschaftsrates von 2012 sagt aus, dass etwa zehn bis zwanzig Prozent der Berufsgruppe an Hochschulen sozialisiert sein sollten, um Entwicklungen anstoßssen zu können – davon ist Deutschland weit entfernt. Erste Hochrechnungen zeigen, dass wir in Deutschland hierzu etwa40 Jahre benötigen, bis die zehn Prozent erreicht sind.
Pflegewissenschaft bleibt der Praxis oft fern
Immerhin hat ein großer Bildungs-Nachholbedarf dazu geführt, dass viele Pflegende nach ihrem üblichen Berufsweg noch studiert haben – ganz überwiegend im Management- und Pädagogikfeld, weniger auch im Kernbereich Pflegewissenschaft. Das Studium der Pflegewissenschaft ist weiterhin dringend erforderlich, damit wir in der Pflege über gesichertes Wissen und neue Erkenntnisse verfügen, die dann Pflegepraktiker, Manager und Pädagogen nutzen können. Sehr viele Absolvent/innen sind ab Mitte der 90 Jahre danach nicht in die Pflegepraxis in den unmittelbaren Klientenkontakt zurückgegangen – es fehlte an entsprechenden Arbeitsstellen mit Gestaltungsmöglichkeiten. Die akademisch Ausgebildeten fanden Stellen in vielen anderen Bereichen des Gesundheitswesens. In den nächsten Jahren scheint sich dies zu verändern, zunehmend wird erkannt, dass hochqualifizierte Pflegende auch in der direkten Praxis gebraucht werden im Sinne von „Advanced Nursing Practice". Um den Problemlagen in der Versorgung kranker Menschen zu begegnen, ist der Beitrag qualitätsvoller und fundierter Pflege unverzichtbar.
Studium und Praxis verbinden
Verändert hat sich auch die Möglichkeit, Berufsausbildung und Studium zu verbinden, 46 duale Studiengänge sind inzwischen in den verschiedenen Bundesländern auf den Weg gebracht worden. Allerdings vollziehen sich Fortschritte der Pflege, zum Wohle der Pflegebedürftigen, nur schwerfällig. Ganz im Gegenteil ist Pflege (trotz steigender Bedarfe) in den letzten Jahren durch Stellenabbau und anderes mehr immer weiter reduziert worden. Mangelnde Organisation der Pflege führt zu mangelnder Mitsprache. Dabei handelt es sich um die größsste Berufsgruppe im Gesundheitsbereich mit etwa 740000 Beschäftigten ! Teilweise wurde in den Kliniken das Verhältnis von Ärzten und Pflegenden von 1 : 4 auf 1 : 2,2 reduziert.
Entwicklungen versickern, wenn es nicht gelingt, den Beitrag der im Beruf sStehenden, der erfahrenen Praktikern einzubinden – sie sind es, die den Berufsnachwuchs begleiten, auch die akademisch Ausgebildeten sozialisieren. Sie sind es, die den Pflegemanagern Argumente und Daten liefern müssten. Und sie sind es, die sich für gute Bedingungen in der Pflegearbeit engagieren sollten.
Aus diesem Grund hat das Department für Pflegewissenschaft (Universität Witten/Herdecke) den Studiengang „Innovative Pflegepraxis" auf den Weg gebracht. Die erste Studiengruppe hat nun ein halbes Jahr absolviert und Erfahrungen können weitergegeben werden. Alle Studenten sind dicht in ihr Praxisfeld eingebunden, da der Studiengang berufsintegrierend angelegt ist.
Stimmen von Studierenden:
Tobias Melms, Uniklinikum Greifswald, Intensivpflege (m. W.), Krankenpflegeexamen vor zehn Jahren
Für mich ist ein wichtiger Schritt, zu lernen, strukturierter und „ um die Ecke zu denken". Früher habe ich einfach alles hingenommen - etwas zu hHinterfragen wird einem in der Pflege nicht beigebracht. Überhaupt habe ich kaum über Pflege nachgedacht. Es heisstheißt ja eher: machen, nicht denken.
Aber ich war im Berufsverlauf an einem Punkt, an dem ich studieren wollte, um nicht im Alltag zu versinken – gleichzeitig wollte ich aber auch in der Praxis bleiben und das bringt dieses Angebot.
Ganz entscheidend ist die Unterstützung meiner Kollegen auf der Station. Sie sind sehr interessiert an allem, was ich mitbringe. Inzwischen habe ich gelernt, in Datenbanken zu recherchieren und unser Team kommt immer wieder mit neuen Anfragen. Auf der Station haben wir eine „Wissensecke" eingerichtet mit Zeitschriften, Artikeln usw. eingerichtet.
Es ist spannend, das wissenschaftliche Denken zu entdecken.
Die Pflegedirektion erwartet von uns Dreien, dass wir hier einiges umsetzen, dafür werden wir deutlich unterstützt. Pro Woche haben wir einen Studientag, ein eigenes Büro – wir machen auch kleine Vorträge, interne Öffentlichkeitsarbeit usw.. Ansonsten arbeiten wir aber ganz normal im Schichtdienst. Wichtig ist mir, dass meine Kollegen das auch als gute Investition sehen und nicht nur als (Teil-)Verlust einer Arbeitskraft.
Kathrin Huber, Kliniken des Landkreises Neumarkt, Neurologie/Kardiologie, Krankenpflegeexamen vor 10 zehn Jahren, Praxisanleiterin, zwei Jahre in der Schweiz gearbeitet
Mir sind viele künftige Möglichkeiten im Pflegeberuf klargewordenklar geworden – bisher sind immer kleine Türen geöffnet worden, nun ist ein Riesentor aufgegangen. Ich habe einen immensen Motivationsschub bekommen. Irgendwie weissweiß ich jetzt, was ich alles nicht weissweiß und das spornt mich an. Mir fehlt immer wieder Zeit, Sachen zu vertiefen. Das Studium geht viel schneller als wir wollen und wir sind traurig, wenn es zu Ende ist. Wir hoffen, dass sich ein Netzwerk aufbaut, wir brauchen die Reflektion.
Zuerst dachten wir, wir bekommen hier Rezepte, alles besser zu machen, haben dann aber gelernt, dass es besser ist, sich die Sachen selbst zu erarbeiten. Wir müssen in den Selbstlernphasen viel zu Hause machen. Für mich geht das an freien Tagen und vor dem Spätdienst – nach dem Frühdienst bin ich zu müde. Meine Kollegen verfolgen das Studium freundlich, zurückhaltend. Mir tut es leid, dass ich die ganzen positiven Eindrücke dort nicht teilen kann, am liebsten würde ich meine Kollegen „mitnehmen".
Stimmen Beteiligter:
Peter Fels, Pflegedirektor im Klinikum Bergmannsheil, Bochum, Mitglied im Beirat des IPP
Für mich bietet dieses Programm die Möglichkeit, die erfahrenen Praktiker, die „alten Hasen" sozusagen, noch zusätzlich weiterzuentwickeln und zu binden. Das sind fast alles Pflegende mit familiären Aufgaben. Siedie können in der Regel nur berufsbegleitend studieren, und diese Mitarbeiter/innen möchten auch in ihrem Praxisfeld bleiben. Überlegen müssen wir in der Klinikseits muss noch festgelegt werden, wo, wie wir diese Studierten mit ihren erweiterten Kompetenzen später einsetzen, mit erweiterten Kompetenzen, welche Aufgaben sie übernehmen sollen, wie die tarifliche Eingruppierung aussehen kann. Dies ist ein rollender Prozess.
Wir haben auch Studierende im Haus, die in grundständigen Studiengängen den Pflegeberuf erlernen. Da ist es natürlich wichtig, dass die auf den Stationen auch auf reflektierte Praktiker stossenstoßen. Interessant ist auch, dass andere Pflegende nun fragen: „Was machst Du denn da eigentlich an der Universität?". Oft gibt es ja seltsame Vorstellungen von Pflegewissenschaft. Dies kann nun in informellen Gesprächen geerdet werden.
Ich sehe die IPP-Studierenden auch als Botschafter.
Prof. Dr. Christiane Kugler, Department für . Pflegewissenschaft, UWH, Akutpflege, Dozentin im Studiengang
Der erste Durchlauf der Studierenden besteht aus einer Gruppe überwiegend junger, wissenshungriger und hoch motivierter Menschen. Im Pflegealltag haben sich da Fragen aufgedrängt, die mit dem Wissen aus Aus- und Fortbildung nicht beantwortet werden können.
Sie lernen gemeinsam, Fragen zu formulieren und einen Zugang zu wissenschaftlichen Datenbanken zu finden. Dort finden sie Antworten, aber es entstehen auch weitere Fragen.
Trotz unterschiedlichster Sozialisation, die Studierenden kommen aus allen Bereichen der Pflege, wo viele Probleme ähnlich gelagert sind. Für mich war es beeindruckend zu beobachten, wie rasch aus Individuen eine Gruppe Studierender geworden ist, die sich mit Respekt begegnen und zusammen die Pflegepraxis weiterentwickeln wollen.
Dr.Barbara Strohbücker, Pflegewissenschaftlerin und Studienbegleiterin im Studiengang IPP, Unikliniken Köln
Ich begleite eine Lerngruppe die gesamte Studienzeit hindurch. Wir treffen uns oder schalten eine Telefonkonferenz über das Internet an einem Jour fixe, jeden Mittwoch abendMittwochabend, bis auf die Woche, in der in Witten Lehrveranstaltungen sind. Die Studierenden sind hoch motiviert, die Praxis zu verändern. Dafür müssen sie ein strammes Pensum absolvieren. Das erste Semester war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Fachartikel in englischer Sprache lesen, wissenschaftliche Studien bewerten, sich mit Statistik, Erkenntnistheorie und Projektmanagement auseinandersetzen, die erste Hausarbeit schreiben. Meine Aufgabe ist es, sie in ihrem Lernprozess zu begleiten: Fragen zu stellen, die ihnen helfen, systematisch zu reflektieren oder eine methodische Entscheidung zu treffen, oder einfach den nächsten Schritt zu gehen. Ich gebe auch fachlichen Input, aber meist ist es die Gruppe selbst, die die Lösungen erarbeitet. Dabei sorge ich für den formalen Rahmen und die notwendige Struktur, ich berate und gebe Feedback. Die Gruppe hat sich im ersten Semester rasant entwickelt. Ich glaube, dass man durch die Arbeit in der Lerngruppe sehr viel Zeit gewinnen kann. Weil man immer an den Lernsituationen der anderen partizipiert, sozusagen exemplarisch lernt. Ich bin gespannt auf das nächste Semester.
Wissenschaft beeinflusst die Praxis positiv
Die Studiengangsleitung hat Prof. Christel Bienstein übernommen und die Inhalte in dichter Zusammenarbeit mit einem Beirat (Pflegedirektor/innen aus den verschiedenen Feldern der Pflege) erarbeitet. Sie bestätigt das ausgeprägte Interesse der Studierenden an neuen Erkenntnissen, die sie ihren Kolleg/innen, den Patienten und den ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen zukommen lassen möchten.
Inzwischen belegen nicht nur Übersichtsarbeiten des ICN und des IQWIG (2006), sondern auch die neu abgeschlossene RN4-Cast Studie (2012), dass es einen direkten Einfluss auf die Qualität der Pflege hat, wenn Pflegende über wissensbasierte Pflegekenntnisse verfügen. Es ist die Aufgabe von uns allen, dieses Wissen in den Berufsalltag einmünden zu lassen.