Der Bochumer Bund wurde 2020 mit dem Ziel besserer Gehälter und Arbeitsbedingungen für beruflich Pflegende gegründet. Wo steht die Pflegegewerkschaft heute – nach vier mitunter konfliktreichen Jahren? Ein Gespräch mit den Bundesvorsitzenden Selina Mooswald und Marcus Jogerst-Ratzka.
Frau Mooswald, Herr Jogerst-Ratzka, vor etwa einem Jahr wurden Sie zur neuen Vorstandsspitze des Bochumer Bundes gewählt. Es war für die Gewerkschaft eine sehr unruhige Zeit: Der damalige Vorstand hatte sich nach kurzer Zeit wieder aufgelöst, der bisherige Bundesvorsitzende Ingo Schaffenberg wurde als Mitglied ausgeschlossen, weitere Vorstandsmitglieder legten ihren Posten nieder. Ist bei Ihnen mittlerweile wieder Ruhe eingekehrt?
Mooswald: Darauf können wir eine kurze Antwort geben: ja. Letztlich hat der Bochumer Bund gezeigt, dass er eine demokratische Organisation ist. Das ist eine Grundvoraussetzung für eine Gewerkschaft. Auch wurde bewiesen, dass die Kontrollorgane innerhalb des BochumerBund funktionieren. So schwer die Auseinandersetzung auch war – sie war notwendig, um den Fortbestand überhaupt zu ermöglichen.
Als Grund für die internen Querelen wurden Intransparenz und Kommunikationsmängel genannt. Aus Ihrer heutigen Sicht: In welchem Zustand war der Bochumer Bund im Sommer vergangenen Jahres und wie hat sich die Gewerkschaft seitdem entwickelt?
Jogerst-Ratzka: Wir standen aus heutiger Sicht wirklich am Abgrund. Doch der Bochumer Bund hat sich stabil gehalten. Das ist schon ein Erfolg, denn neben den Schwierigkeiten, die es im Vorstand vor der Abwahl des vorherigen Vorsitzenden gab, waren auch zahlreiche strukturelle Probleme aus den Jahren zuvor zu bearbeiten. Wir haben uns daher in den vergangenen Monaten darauf fokussiert, in den Bereichen Finanzen, Mitgliederverwaltung und externe Kommunikation stabile Strukturen aufzubauen. Ein blindes Wachstum kommt schnell an Grenzen, wenn die Strukturen nicht stimmen. Heute können wir sagen: Wir haben die Talsohle durchschritten und sind den Mitgliedern, die uns die Treue gehalten haben, dankbar für das Vertrauen.
Selina Mooswald und Marcus Jogerst-Ratzka
sind seit Juli 2023 die Bundesvorsitzenden des Bochumer Bundes. Mooswald schloss 2018 die Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin ab; aktuell arbeitet die 30-Jährige als Pflegeexpertin am Kantonsspital Aarau in der Schweiz und absolviert ein Masterstudium in Advanced Nursing Practice an der IMC Krems in Österreich. Jogerst-Ratzka war 16 Jahre Geschäftsführer einer Pflegeeinrichtung und ist seit 2022 als freier Dozent tätig. Die Ausbildung zum Krankenpfleger schloss der 49-Jährige 1995 am Kreiskrankenhaus Offenburg ab.
Ende 2020 kündigte die damalige Bundesvorsitzende Heide Schneider an, die Mitgliederzahl im kommenden Jahr – also 2021 – verfünffachen zu wollen: von 1.000 auf 5.000. Wie viele Mitglieder hat der Bochumer Bund heute?
Mooswald: Die Mitgliederzahl des Bochumer Bund liegt aktuell bei unter 3.000. Dass es nicht mehr sind, liegt auch in den Konflikten im ersten Quartal 2023, enttäuschten Erwartungen und schwierigen Verwaltungsstrukturen begründet. Wir haben diese Probleme aber gelöst und sind wieder auf Wachstumskurs.
Stellt Sie die Mitgliederzahl zufrieden?
Jogerst-Ratzka: Welcher Verband, welche Gewerkschaft ist mit ihren Mitgliederzahlen schon zufrieden? Es liegt an uns, neue Mitglieder zu überzeugen. Doch eine Sache ist glasklar und sollte uns allen bewusst sein: Scheitert der BochumerBund – wovon wir heute nicht mehr ausgehen müssen –, dann wäre das wichtige Instrument einer eigenen Pflegegewerkschaft für lange Zeit Geschichte.
Wie wollen Sie mehr Pflegefachpersonen von einer Mitgliedschaft überzeugen?
Mooswald: Es gibt keine Alternative zu einer starken Spartengewerkschaft in der Pflege. Die Arbeitssituation vieler professionell Pflegender zeigt das jeden Tag. Was passiert, wenn unsere Berufsgruppe nicht für ihre speziellen Bedürfnisse auch gewerkschaftlich einsteht, können wir doch alle an den vergangenen Jahrzehnten ablesen. Letztlich liegt es an jedem von uns, sich diese Tatsache vor Augen zu führen. Wir legen aktuell Wert darauf, in den Einrichtungen präsenter zu werden. Dazu braucht man aber auch vor Ort die richtigen Menschen. Diese suchen wir und finden sie auch. Zudem planen wir strategische Bündnisse mit Partner:innen, denen eine eigenständige gewerkschaftliche Organisation der Pflege keine Angst macht. Sie sehen auch in den aktuellen Gesetzgebungsverfahren, dass die Schlagkraft der Pflege ohne eigene Gewerkschaft sehr begrenzt ist.
Bochumer Bund: die Entwicklung im Überblick
- Mai 2020: Studierende im Studiengang „Pflege“ an der Hochschule für Gesundheit in Bochum gründen am 12. Mai, dem Internationalen Tag der Pflegenden, eine eigene Pflegegewerkschaft – den Bochumer Bund; der Name wird in Anlehnung an die erfolgreiche Ärztegewerkschaft „Marburger Bund“ gewählt.
- Mitte 2021: Entwicklung eines „innovativen Tarifvertrags“, der für alle Pflegepersonen verbindlich werden sollte und für dreijährig Ausgebildete ein Einstiegsgehalt von mindestens 3.500 Euro plus Zulagen vorsah
- November 2022: Nina Praceus und Ingo Schaffenberg lösen die beiden bisherigen Vorsitzenden Heide Schneider und Benjamin Jäger als Bundesvorsitzende ab.
- April 2023: Der bisherige Vorsitzende Ingo Schaffenberg wird mehrheitlich vom Bundesvorstand als Mitglied ausgeschlossen.
- Mai 2023: Nach nur knapp sechs Monaten löst sich der Bundesvorstand auf, neue kommissarische Bundesvorsitzende sind Ulrike Schütz und Gründungsmitglied Jürgen Drebes.
- Juli 2023: Auf einer außerordentlichen Vollversammlung werden die bisherigen kommissarischen stellvertretenden Vorsitzenden Selina Mooswald und Marcus Jogerst-Ratzka zur neuen Vorstandsspitze bestimmt.
- Seit seinem Bestehen äußert sich der Bochumer Bund regelmäßig zu aktuellen pflegeberuflichen Themen und Entwicklungen; zum vierjährigen Bestehen im Mai 2024 bekräftigte die Gewerkschaft, den Dreiklang aus Pflegekammer, Verbänden und Gewerkschaft zu unterstützen sowie ein Einstiegsgehalt von 4.500 Euro für Pflegefachpersonen und eine 35-Stunden-Woche im Dreischichtsystem zu fordern.
Dem ehemaligen Vorsitzenden Benjamin Jäger zufolge benötigt der Bochumer Bund 20.000 bis 25.000 Mitglieder, um bundesweit tariffähig zu sein. Teilen Sie diese Einschätzung?
Jogerst-Ratzka: Die Tariffähigkeit ist in Deutschland stark geschützt. Das hat vor allem für große Gewerkschaften Vorteile und die Entstehung neuer Arbeitnehmer:innenkoalitionen wird behindert. Das wird sich auf lange Sicht nicht bewähren, denn hier belebt gerade Konkurrenz das Geschäft. Wenn ich als Arbeitnehmer:in keine Optionen habe, ist das immer die schlechtere Wahl. Wir sehen gerade, dass vor allem die kleinen Gewerkschaften gute Tarifverträge für ihre Mitglieder aushandeln – denken Sie an die Vereinigung Cockpit oder die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich schätze die Zahl aufgrund der Rechtslage niedriger ein. Trotzdem haben wir noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.
Wie und vor allem bis wann wollen Sie Ihr Ziel der bundesweiten Tariffähigkeit erreichen?
Mooswald: Hierzu eine Angabe zu machen, ist schwierig. Denn wir wissen nicht, wie die nächsten Monate und Jahre verlaufen. Sagen wir es so: Der Weg zur bundesweiten Tariffähigkeit ist ein Marathonlauf. Wir können nur die dafür notwendigen Strukturen schaffen sowie Strategien planen und umsetzen. Die Entscheidung liegt letztlich bei den professionell Pflegenden selbst.
Der Bochumer Bund tritt für höhere Gehälter, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Mitbestimmung in den Betrieben ein. Die Spartengewerkschaft besteht jetzt seit vier Jahren. Was haben Sie in dieser Zeit konkret erreicht?
Jogerst-Ratzka: Wir sind in einigen Betriebsräten aktiv und machen dort bodenständige Mitbestimmungsarbeit. Natürlich bewegen wir uns hier noch im Rahmen, der uns durch die Tarifvorgaben anderer Gewerkschaften ermöglicht wird. Das ist oft sehr schwer zu ertragen, weil wir anderes wollen und es die Regeln zur Refinanzierung auch hergeben würden. Trotzdem verändern wir den Ton und können die Schwachstellen in den Tarifwerken benennen. Man wirft uns dann gerne vor, noch keinen eigenen Tarifvertrag zu haben. Aber wäre es besser, Missstände nicht zu benennen? Das kann keiner wollen. Mit uns als Gewerkschaft würde die 35-Stunden-Woche für Pflegepersonal Realität werden; eine andere Gewerkschaft würde sie ablehnen. So einfach ist das Angebot, das wir machen können. Im besten Fall werden wir in einiger Zeit vom Treiber zum Taktgeber. Dann haben die Pflegefachpersonen ihr Schicksal endlich selbst in der Hand.
Hinweis: Selina Mooswald und Marcus Jogerst-Ratzka baten um die Verwendung des Markennamens „BochumerBund“. Stephan Lücke nutzt diese Schreibweise aus journalistischen Gründen nicht.