Ein guter Ernährungszustand verbessert die Lebensqualität, vermeidet Komplikationen und kann sogar Leben retten. Am Universitätsklinikum Tübingen setzt sich deshalb ein Ernährungsteam erfolgreich gegen Mangelernährung ein. Noch ist das Modell die Ausnahme. Doch das könnte sich bald ändern – denn nun hat auch die Landespolitik die Wichtigkeit des Themas entdeckt.
Ob jemand ein Fall für das Ernährungsteam ist, entscheidet sich in der Tübinger Uniklinik schon bei der Aufnahme. Mit wenigen Fragen erheben die Pflegenden routinemäßig den Ernährungs-zustand, wie: Hat der Betroffene in den letzten drei Monaten abgenommen? Hat er in der letzten Woche weniger gegessen? Leidet er an einer schweren Erkrankung? Diese Fragen sind Bestandteil des Nutrition Risk Screenings (NRS), welches von der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) empfohlen und in Tübingen eingesetzt wird, um Risikopatientinnen und -patienten frühzeitig zu identifizieren.
Bei Auffälligkeiten kommt das Ernährungsteam
Eine Mangelernährung kommt häufig vor, bleibt aber oft unentdeckt. „Im Schnitt sind 25 bis 30 Prozent aller Patientinnen und Patienten, die ins Krankenhaus kommen, mangelernährt“, berichtet PD Dr. Michael Adolph, Oberarzt und Ärztlicher Leiter der Stabsstelle Ernährungsmanagement am Universitätsklinikum Tübingen. „Und jeder Zweite verliert während des Klinikaufenthalts zusätzlich an Gewicht.“
Besonders gefährdet seien onkologische, geriatrische und auch chirurgische Patientinnen und Patienten (im Folgenden: Patienten) – genau bei diesen Patientengruppen wird im Tübinger Universitätsklinikum der Ernährungsstatus routinemäßig gescreent. Denn eine nicht behandelte Mangelernährung kann für die Betroffenen gefährliche Folgen haben: Infektionen und Komplikationen wie Wundheilungsstörungen nehmen zu, der Aufenthalt im Krankenhaus verlängert sich und die Lebensqualität nimmt deutlich ab. Sogar die Sterblichkeit ist erhöht. „Jeder vierte Tumorpatient stirbt letztendlich nicht an seinem Tumor, sondern an den Folgen seiner Mangelernährung“, weiß Adolph aus Studien.
In Tübingen ist das Ernährungsscreening deshalb fest in das digitale Aufnahmeprocedere verankert. Ergeben sich Auffälligkeiten, wird automatisch das Ernährungsteam informiert, in Tübingen das sogenannte Nutrition Support Team (NST). „Ob tatsächlich eine Ernährungstherapie erforderlich ist oder nicht, können wir durch ein genaueres Assessment feststellen“, berichtet die Diätassistentin Daniela Schweikert, Bereichsleitung der Stabsstelle Ernährungsmanagement. Dazu sucht sie oder eine ihrer Kolleginnen die Betroffenen persönlich auf, bespricht mit ihnen mögliche Probleme und erhebt die Ernährungssituation. Wenn erforderlich führt sie auch eine Handkraftmessung und eine Bioelektrische Impedanz-Analyse (BIA) durch. Beide Untersuchungen liefern wichtige Hinweise auf die Ernährungssituation.
Beim ersten Beratungstermin wird meist auch die weitere Ernährungstherapie geplant. Manchmal reichen eine Kostumstellung, eine Nahrungsergänzung oder Wunschkost aus, um die Ernährungssituation zu verbessern. In einigen Fällen ist aber auch eine künstliche Ernährung erforderlich – enteral über Trinknahrung oder Ernährungssonde oder parenteral per Infusion. „Das ist immer dann der Fall, wenn eine bedarfsgerechte Ernährung mittels normaler Kost nicht mehr ausreichend über den oralen Weg sichergestellt werden kann“, erläutert Schweikert.
Die Diätassistentin bespricht ihre Ernährungsempfehlung mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin und setzt die verordnete Therapie anschließend um. Um den Erfolg der Ernährungstherapie zu überprüfen, besucht sie die meisten ihrer Patienten regelmäßig, in der Regel ein- bis zweimal wöchentlich. Rund zehn Patienten sieht jede einzelne Diätassistentin pro Tag, darunter Erst- und Folgeberatungen. Zusätzlich nehmen sie auf verschiedenen Stationen an Visiten teil, berichtet Schweikert.
Auch Patienten, die nicht automatisch über das Aufnahmescreening erfasst werden, z. B. in der Urologie oder Frauenklinik, können vom Angebot des Nutrition Support Team profitieren. Alle Stationen des Universitätsklinikums haben die Möglichkeit, ein Konsil „Ernährungsberatung“ anzufordern. Das kann z. B. der Fall sein, wenn die Betroffenen wiederholt schlecht essen, Durchfälle oder andere Ernährungsprobleme auftreten oder sie aufgrund ihrer Erkrankung einen besonderen Beratungsbedarf haben.
Erfolge der Ernährungstherapie sprechen für sich
Bei den Patienten kommt das Ernährungsteam sehr gut an. Viele sehen über die Ernährung die Möglichkeit, selbst etwas zu ihrer Genesung beizutragen, berichtet Schweikert. Früher sei die Ernährung in der Gesellschaft kein großes Thema gewesen, das habe sich mittlerweile geändert. „Die meisten Patientinnen und Patienten stehen einer Beratung sehr offen gegenüber“, sagt Schweikert, „einige fordern sie sogar ein, weil sie über die Webseite auf unser Ernährungsteam aufmerksam geworden sind.“
Auch bei den Stationsteams ist die Expertise des Nutrition Support Teams mittlerweile sehr geschätzt. „Zu Beginn waren einige skeptisch“, erzählt Schweikert, die das Team vor fünf Jahren mit aufgebaut hat. „Als die Pflegenden und Ärzte aber den Benefit der Ernährungstherapie für die Patienten gesehen haben, hat sich das schnell geändert.“
Das zeige sich auch an den gemeinsamen Visiten, bei denen die Diätassistentinnen in der Anfangszeit noch misstrauisch beäugt wurden. „Mittlerweile werden wir angerufen und gefragt: ‚Wo bleibt ihr denn?‘“, sagt Schweikert. „Wenn die Fachkräfte einmal erkannt haben, dass wir ihnen nichts wegnehmen, sondern sie bei schwierigen Fällen unterstützen und entlasten, werden wir sehr dankbar ins Team aufgenommen.“
Den Nutzen eines Ernährungsteams belegt auch die EFFORT-Studie, die mit über 2.000 Patienten bislang größte Studie zur Wirksamkeit einer ernährungsmedizinischen Betreuung im Krankenhaus. Die randomisierte Studie wurde in acht Schweizer Kliniken durchgeführt und 2019 im renommierten Fachblatt „The Lancet“ veröffentlicht. „Die Studie zeigt, dass Mortalität und Morbidität signifikant durch eine Ernährungstherapie, die von Diätassistentinnen gesteuert wird, gesenkt werden kann“, berichtet Dr. Adolph. „Die Ergebnisse waren dabei ähnlich beeindruckend wie es Stent-Einlagen bei Koronarerkrankungen sind.“ Die Studie unterstreiche zudem, wie wichtig ein routinemäßiges ernährungsmedizinisches Screening bei der Aufnahme in die Klinik ist. Denn längst nicht alle mangelernährten Patienten sind erkennbar untergewichtig, weiß Adolph. Eine optimierte Ernährungstherapie sei zudem positiv kosteneffizient. Das belege eine aktuelle auf die Ökonomie fokussierte Auswertung der EFFORT-Daten, berichtet Adolph.
Noch wird Ernährungsmedizin oft stiefmütterlich behandelt
Das Tübinger Ernährungsteam ist in der deutschen Klinikszene noch die Ausnahme. „Nur rund vier Prozent aller deutschen Krankenhäuser verfügen über ein eigenes Ernährungsteam“, schätzt Dr. Adolph. Die Schweiz sei mit acht Prozent etwas besser aufgestellt und in Österreich gebe es in immerhin rund 16 Prozent der Krankenhäuser ein Ernährungsteam.
Adolph sieht gleich mehrere Gründe, warum das Thema in deutschen Kliniken so stiefmütterlich behandelt wird: Zum einen sei die Ernährungsmedizin in der Ausbildung kaum verankert. „Die jungen Ärztinnen und Ärzte, die von der Uni kommen, bringen diesbezüglich nicht viel Wissen mit und das begleitet sie ihr ganzes Berufsleben lang“, sagt Adolph. Auch in der ärztlichen Weiterbildung sei das Thema unterrepräsentiert. Von daher verwundere es nicht, dass Patienten bei der Aufnahme in alle Richtungen untersucht werden – mit Blutentnahmen und aufwendigen diagnostischen Prozeduren wie CT, MRT und Endoskopie –, aber wie der Ernährungszustand eines Patienten sei, werde nicht ernsthaft geschaut.
Hinzu komme, dass sich die Arbeit der Ernährungsteams noch nicht vollumfänglich rechne. „Wir bemühen uns, die mit den Teams zusammenhängenden Personalkosten durch die Kodierung entsprechender Mangelernährungsziffern im DRG-System zu refinanzieren“, sagt Prof. Dr. Michael Bamberg, Leitender Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Tübingen. Das sei aber in den vergangenen Jahren ausgesprochen schwierig geworden. „Verantwortlich dafür sind Abwertungen im DRG-System, welche zu einer empfindlichen Schmälerung der Erlöse geführt haben“, sagt Bamberg.
Der Vorstandsvorsitzende ist dennoch von der Notwendigkeit eines Ernährungsteams überzeugt. Schon 2015 setzte er sich für die Gründung eines solchen Teams ein, das damals noch als Miniteam startete, bestehend aus Dr. Michael Adolph und Daniela Schweikert. Die Arbeit entwickelte sich rasch sehr positiv, sodass weitere Ernährungsfachkräfte eingestellt werden konnten und das Team innerhalb des Klinikums immer bekannter wurde. Der schrittweise Aufbau des Ernährungsteams wurde dabei von der Firma B. Braun im Rahmen einer sogenannten Systempartnerschaft begleitet. Ende 2017 gab es dann noch mal einen Quantensprung, als eine „Stabsstelle Ernährungsmanagement“ gegründet und mit Dr. Adolph als ärztlichem Leiter besetzt wurde. Die Abteilung umfasst heute 22,4 Vollstellen und bündelt alle wesentlichen Teams und Experten auf dem Tübinger Campus, die sich mit Stoffwechsel- und Ernährungsfragen befassen.
Es braucht Finanzierung, Qualifizierung und Lobbyarbeit
Dabei macht sich das Tübinger Team nicht nur für das eigene Klinikum stark, sondern möchte die Ernährungsmedizin in Deutschland insgesamt voranbringen. „Uns ist bewusst, wie wichtig das Thema Mangelernährung ist – es ist kein isoliertes Problem, das wir haben, sondern betrifft wirklich alle Krankenhäuser“, sagt Prof. Bamberg. Aus diesem Grunde setzen sich Adolph und Bamberg auf verschiedenen Ebenen für das Thema ein.
Ein wesentlicher Punkt ist dabei, die Politik und die Kostenträger zu überzeugen, dass entsprechende Strukturen wie Ernährungsteams refinanziert werden müssen. Dazu hat das Tübinger Klinikum, zusammen mit Fachgesellschaften, einen sog. OPS-Kode „Komplexe Ernährungstherapie“ beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) in Köln beantragt – einem Institut, das für die Klassifikationen zur Kodierung von Diagnosen und Operationen zuständig ist.
Nach einem mehrjährigen Prozess konnte dieser wichtige Schritt nun erfolgreich auf den Weg gebracht werden. „Aktuell warten wir noch auf eine finanzielle Bewertung dieses OPS-Kodes durch das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, kurz InEK“, berichtet Bamberg. „Sobald dies geschehen ist, sollte eine sachgerechte Refinanzierung von Ernährungsteams möglich sein.“
Ein wichtiger Schritt ist zudem, die Ernährungsmedizin stärker in die ärztliche und pflegerische Fort- und Weiterbildung zu integrieren. Im Moment wird gerade der Gegenstandskatalog überarbeitet, der den Prüfungsstoff für die Humanmediziner festlegt. Hier soll es künftig in jedem Fachgebiet auch Fragen zur Ernährungsmedizin geben. „Das ist ein wichtiger Schritt, aber es dauert Jahre, bis dieses Wissen in der Praxis ankommt“, weiß Adolph. Vieles erhofft er sich deshalb durch die Zusatzweiterbildung Ernährungsmedizin, die 2018 in die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer aufgenommen wurde – nach reichlich Vorarbeit durch verschiedene Fachgesellschaften und Berufsverbände. „Damit bekommt die Ernährungsmedizin nun einen ganz anderen Stellenwert für die Ärzteschaft“, sagt Adolph. In Baden-Württemberg haben die ersten Mediziner im November 2020 ihre Zusatzweiterbildung in Ernährungsmedizin abgeschlossen.
Darüber hinaus ist es dem Tübinger Team gelungen, etwas auf der politischen Ebene zu bewegen. Vor zwei Jahren waren Prof. Bamberg und Dr. Adolph im Landtag in Stuttgart eingeladen, um das Thema Mangelernährung in Kliniken vorzustellen. Darauf aufbauend hat das Ministerium für Soziales und Integration eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema eingesetzt, die vom Tübinger Team maßgeblich unterstützt wird. Zusätzlich hat das Ministerium die Tübinger Uniklinik mit dem Projekt „Prävention und Therapie von Mangelernährung in den Krankenhäusern“ betraut. Seit dem 1. Oktober 2020 ist das Projekt gestartet. Dabei wird auch erstmals landesweit erhoben, wie viele Ernährungsteams oder Ernährungsfachkräfte es in Baden-Württemberg gibt. „Unser Ziel ist, alle Krankenhäuser in Baden-Württemberg auf das Thema Mangelernährung aufmerksam zu machen und Hilfestellung zu geben, um ähnliche Strukturen wie bei uns im Haus zu entwickeln“, sagt Adolph.
Der Vorstandsvorsitzende Bamberg würde gerne noch einen Schritt weitergehen und in deutschen Krankenhäusern ein verbindliches Screening auf Mangelernährung einführen. „Entsprechende Initiativen hierzu sind auf dem Weg“, sagt er. Wäre ein Screening gesetzlich vorgegeben, würde das auch den Aufbau sich anschließender Versorgungsstrukturen auslösen. „Allerdings wird dies nur möglich sein, wenn auch entsprechende Finanzierungsmodelle auf den Weg gebracht werden.“