Die pflegerische Arbeit auf einer geschlossenen psychiatrischen Station lässt sich kaum mit der auf einer „normalen“ vergleichen. Hier gehören tanzende Patienten genauso zum Alltag wie aggressive.
Direkt am Eingang der Station 2 der Asklepios Klinik für Psychische Gesundheit Langen sitzt ein Mann mittleren Alters. Er trägt einen Wollumhang, obwohl es sehr warm ist, und erzählt jedem, der vorbeikommt, von seiner schwäbischen Mutter und, dass er selbst Frankfurter sei. Findet er keine Beachtung, ruft er: „Hilfe, ich brauche Hilfe!“. Eine andere Patientin versucht sich durch die Eingangstür vorbeizudrängeln, sobald jemand diese öffnet. C. Springer, stellvertretende Stationsleitung der akutpsychiatrischen Aufnahmestation, kann alle schnell beruhigen. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet sie hier, und sie kann so schnell nichts aus der Ruhe bringen.
Von außen fällt die Abteilung erst einmal nicht auf. Wer genau hinschaut, bemerkt vielleicht die doppelte Verglasung der Fenster. Aber die wirkt eher wie eine Auflockerung der ein wenig eintönigen Fassade, als das, was sie tatsächlich ist. Das bruchsichere Glas ersetzt Gitterstäbe, die sonst an den Fenstern von „geschlossenen“ Abteilungen zu finden sind. Nur wer einen Schlüssel hat, kann in die Station hinein und vor allem hinaus. Geschirr, Besteck in der Küche sind verschlossen. Die Duschbrausen in den Bädern sind so angebracht, dass sich niemand daran erhängen kann.
Springer nennt das einen „geschützten Rahmen“, ohne den ihre Patienten sich selbst oder andere gefährden würden. Sie kommen etwa aufgrund einer akuten Psychose, einer schweren Depression, einer Angststörung oder eines massiven Drogenkonsums. Auch eine manisch-depressive Erkrankung oder eine Schizophrenie kann akut solche Ausmaße annehmen, dass Menschen die Kontrolle über ihre eigenen Handlungen verlieren. Manche kommen freiwillig, weil sie merken, dass sie Hilfe brauchen. Bei anderen sind es Angehörige, die sie bringen. Wieder bei anderen ist es die Polizei.
Bis zu 24 Stunden dürfen Personen dem Gesetz nach auch gegen ihren Willen in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung untergebracht werden, wenn sie sich selbst oder andere gefährden. Spätestens dann muss ein Richter über den weiteren Verbleib entscheiden. Wer hier arbeitet, braucht vor allem Feingefühl und ein Talent, innerhalb kürzester Zeit Situationen richtig einzuschätzen. Nicht selten kommt es zu körperlichen Übergriffen. Pflegekräfte müssen das aushalten können und dennoch versuchen, an die Menschen heranzukommen. „Unser Handwerkszeug ist die Beziehung zum Patienten“, sagt Frank Schmitz, Pflegedienstleiter der Klinik, der selbst jahrzehntelange Erfahrung in der psychiatrischen Pflege hat: „Menschenkenntnis ist hier das A und O.“
Das Psych-KHG
Bisher oblag es in Hessen den Ordnungsbehörden, einer „geisteskranken, geistesschwachen, rauschgift- oder alkoholsüchtigen Person“ zum Schutz der Gesellschaft kurzfristig die Freiheit zu entziehen. Seit dem ersten August gilt nun das „Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz“, kurz Psych-KHG. Über die ersten 24 Stunden einer solchen „Zwangsunterbringung“ entscheidet danach nun ein Arzt. Im Lauf dieses Tages muss dann, wie bisher auch, ein Amtsrichter hinzugezogen werden.
Patienten sind in subjektiver Notsituation
Wenn ein Patient eine Pflegefachperson körperlich angreife, dürfe diese das nicht persönlich nehmen. Ein Mensch, der sich von Wahnvorstellungen bedroht fühle, sei von dieser Bedrohung überzeugt. „Wenn sie ihn dann noch gegen seinen Willen einsperren, versucht er sich verständlicherweise zu wehren“, so Schmitz. „Er ist in einer subjektiven Notsituation.“ Nicht immer gelingt es, ein aggressives Verhalten gegen sich selbst nicht persönlich zu nehmen. Deshalb versucht das Team der Station 2 Verständnis aufzubringen, dass ihre Pflegefachpersonen an manchen Tagen einen bestimmten Patienten einmal nicht betreuen können. Außerdem gibt es Supervisionsangebote mit einer unabhängigen Psychologin.
In der Regel sollten drei ausgebildete Pflegekräfte pro Schicht auf der Station sein. Zum Team gehören neben den Pflegekräften zwei Fachärzte, Sozialpädagogen und Arbeits- sowie weitere Therapeuten. Offiziell gibt es 15 Betten. Aber weil die Klinik einen Versorgungsauftrag für die Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen aus dem Landkreis Offenbach hat, liegen hier mitunter bis zu 20 Patienten. Die Pflegekräfte beginnen ihren Dienst wie in „normalen“ Abteilungen mit der Übergabe, der Versorgung von pflegebedürftigen Patienten und der Verabreichung von Medikamenten. Danach bestimmt vor allem eines ihren weiteren Arbeitstag: die individuellen Bedürfnisse der psychisch Kranken.
Gemeinsame Kippe als „Therapie“
Mitunter stellt ein Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel eine gute „therapeutische“ Maßnahme dar. Ein anderes Mal ist es ein gemeinsames Pizzabacken, ein Spaziergang oder auch ein Gespräch bei einer gemeinsamen Zigarette. Wer aber glaubt, in einer Psychiatrie einen ruhigen Job zu haben, der irrt. Selbst ein Spaziergang kann harte Arbeit sein. Der Raucherraum sei eine kleine „Therapiezentrale“, sagt C. Springer. Wenn Pflegekräfte hier rauchen, sei das keine Pausenzeit, oft fände bei einer Zigarette die erste Deeskalation statt, erzählt sie. „Manche Patienten stoßen noch vor der Tür aggressiv nach einem Polizisten“, so Springer. Ein „Hey, lass uns mal eine Zigarette rauchen“, sei da manchmal der beste Weg, zu ihnen vorzudringen. Üblicherweise aber siezt sich das Team mit seinen Patienten. „Wertschätzung ist uns ganz wichtig“, sagt Schmitz. „Wir haben hier viel Macht, denn wir haben die Schlüssel“, sagt er. Das dürfe man auf keinen Fall ausnutzen.
Beinahe täglich erleben die Pflegekräfte auf der akutpsychiatrischen Aufnahmestation hochkritische Situationen gemeinsam mit ihren Patienten. „Das schafft eine besondere Beziehung“, so der Pflegedienstleiter. Aber auch die psychisch Kranken untereinander würden sich solidarisieren. „Sie sind quasi Verbündete“, sagt Springer. Eine wichtige Rolle spielen dabei die gemeinsamen Mahlzeiten in der Küche. Auch die sollen dazu beitragen, dass sich die Patienten trotz der oft schwierigen Umstände hier wohlfühlen können. Nur in Ausnahmefällen lassen die Pflegekräfte daher zu, dass jemand zunächst alleine in seinem Zimmer isst. Zum Beispiel, wenn ein junges Mädchen Angst vor den anderen habe.
Zwei Zimmer stehen für die kritischen Fälle zur Verfügung. Das eine hat einen direkten Sichtkontakt zur Pflegezentrale. Das andere wird von dort aus über Video überwacht. In diesen Betten bringen die Pflegekräfte Patienten unter, die fixiert oder isoliert werden müssen. Zu dieser Maßnahme greift das Team nur im Notfall. „Jede Fixierung, die nicht erfolgt, ist die beste Fixierung“, sagt Springer. Aber nicht immer kommt das Team ohne solche Maßnahmen aus. Zum Beispiel wenn ein Patient sich oder andere zu gefährden droht, und alle anderen Maßnahmen nicht helfen.
Für den Ernstfall ein roter Knopf
Für solche Notfälle gibt es ein Handy mit einem roten Knopf. Wird er gedrückt, eilen innerhalb kürzester Zeit Pflegefachpersonen, Ärzte und andere Mitarbeiter zur Hilfe. Dann muss jeder Handgriff sitzen, und alle müssen an einem Strang ziehen, ohne zu diskutieren. Damit auch neue Pflegekräfte auf solche Situationen vorbereitet sind, gibt es an der Langener Klinik drei „ProDeMa“-Trainer. Die Abkürzung steht für „Professionelles Deeskalationsmanagement“ – ein Schulungskonzept, um Gewalt und Aggressionen abbauen beziehungsweise vermeiden zu können. Dabei lernen die Teilnehmer, kritische Situationen allein durch Sprache zu deeskalieren. Sie lernen aber auch, sich selbst zu schützen durch bestimmte Abwehr- beziehungsweise Fluchttechniken. Außerdem bietet das Haus allen neuen Mitarbeitern – in Zusammenarbeit mit den etwa zehn weiteren Asklepios-Kliniken für psychisch kranke Menschen – eine spezielle Schulung über drei Jahre mit insgesamt fünf Wochenseminaren an.
In Langen sind auch Pflegekräfte ohne psychiatrische Erfahrung willkommen. „Das Fachwissen ist wichtig, aber das können sich Mitarbeiter auch nachträglich erarbeiten“, so Frank Schmitz. Aber bestimmte Voraussetzungen sollten Interessierte für die psychiatrische Pflege mitbringen. Dazu gehören Flexibilität und die Bereitschaft, sich in andere hineinzufühlen. Auch C. Springer ist nach jahrelanger Tätigkeit in der ambulanten Pflege eine Quereinsteigerin gewesen. Sie hat diesen Schritt nicht bereut. „Meine Arbeit ist nie langweilig“, sagt sie, „es gibt hier Regeln, aber es ist immer auch ein rechts oder links erlaubt.“ Und manchmal ginge es auch lustig zu. So sei sie schon mit einer manischen Patientin über den Flur getanzt. So etwas passiert auf einer normalen Station nicht. „Man muss es mögen“, sagt Springer.