Die Geburt eines behinderten Kindes ist ein Schicksalsschlag, der das Leben der betroffenen Familien nachhaltig verändert. Wie lernen die Mütter, mit dieser neuen Situation umzugehen? Und wie bewältigen sie im Laufe der Zeit die neuen Herausforderungen? Eine qualitative Studie bietet einen Einblick in das Bewältigungshandeln pflegender Mütter.
Unter den 6,9 Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland gelten etwa 160 000 Kinder und Jugendliche als schwerbehindert (Statistisches Bundesamt 2009). Kinder mit Behinderungen stellen demnach eine zahlenmäßig eher kleine Bevölkerungsgruppe dar. Dennoch handelt sich um eine besonders vulnerable Gruppe, die vielfältigen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt ist und oftmals einer besonderen Versorgung bedarf. Viele der Kinder sind lebenslang auf umfangreiche medizinische, rehabilitative und präventive Maßnahmen, pflegerische Unterstützung sowie Hilfe bei Alltagsaktivitäten angewiesen. Das Leben mit einer Behinderung ist jedoch nicht nur für die Betroffenen mit weitreichenden Konsequenzen verbunden, sondern auch für die Familien, die sich mit einem komplexen Versorgungsbedarf ihres Kindes konfrontiert sehen und diesen über lange Zeit bewältigen müssen.
Die Situation von Familien mit einem behinderten Kind ist bereits seit Jahrzehnten Gegenstand umfangreicher Forschungsaktivitäten. Lange Zeit stand die Belastungssituation von betroffenen Familien im Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen. Das behinderte Kind wurde quasi zur Tragödie erklärt, von der sich die Familie nie wieder erholt und die die Familie sogar potenziell gefährdet.
Erst mit zunehmender Kritik an diesem Eindruck einer „behinderten" Familie kam es zu einem Wandel der Betrachtungsweise. Es konnte aufgezeigt werden, dass es vielen Familien durchaus gelingt, ihr Leben mit einem behinderten Kind trotz der enormen Herausforderungen zu bewältigen. In Folge richtete sich der Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen vermehrt auf das Bewältigungsgeschehen, allerdings in erster Linie auf psychische Aspekte von Bewältigung.
Dem Bewältigungsgeschehen auf der Handlungsebene, also dem Umgang mit Krankheit und Behinderung im Alltag der Familien, wurde eher wenig Beachtung geschenkt. Die Bearbeitung dieser Lücke war das Ziel einer empirischen Untersuchung (Büker 2010), deren zentrale Ergebnisse nachfolgend vorgestellt werden.
Studie untersucht Bewältigungshandeln der Mütter
Bewusst richtete sich der Fokus der Untersuchung auf die Person der Mutter. Sie ist in aller Regel diejenige, die sich vorrangig um das Kind kümmert und den Großteil der Pflege und Versorgung leistet. Gefragt wurde im Einzelnen nach den Herausforderungen und Handlungserfordernissen im täglichen Leben mit einem behinderten Kind, nach dem daraus resultierenden konkreten Bewältigungshandeln der Mütter sowie nach den Veränderungen des Bewältigungshandelns im Zeitverlauf. Ihre theoretische Verortung fand die Arbeit im Trajektkonzept von Corbin/Strauss (Corbin et al. 2009), da dieses Konzept die Handlungsdimensionen von Bewältigung in den Blick nimmt und temporale Aspekte berücksichtigt.
In Anbetracht der Zielsetzung der Untersuchung erschien es notwendig, die Sicht der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen, da sie die Einzigen sind, die in umfassender Weise über ihre Lebenssituation und ihren Alltag Auskunft geben können. Der Forschungsarbeit wurde daher ein qualitatives Forschungsdesign zugrunde gelegt. Mit insgesamt 27 Müttern schwerstbehinderter Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und 17 Jahren, die zugleich auch als pflegebedürftig anerkannt waren, konnten leitfadengestützte Interviews durchgeführt werden. Die Auswertung erfolgte in Anlehnung an die Prinzipien der Grounded Theory (Glaser/Strauss 2005).
Geburt als „biografische Zäsur"
Wie die empirische Untersuchung aufzeigt, beeinflusst eine kindliche Behinderung das Leben der betroffenen Mütter in nachhaltiger Weise. Der Schicksalsschlag kommt einer „biografischen Zäsur" gleich (Bury 2009). Er bewirkt eine Aufteilung des Lebens in die Zeit davor und die Zeit danach. Die daraus resultierenden Veränderungen betreffen alle Bereiche des Lebens: Alltag, Familie und Partnerschaft, Beruf, soziale Kontakte, Freizeit und die eigene Biografie. In all diesen Bereichen gilt es, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen.
Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Bewältigung der behinderungsbedingten Herausforderungen. Dabei wird deutlich, dass das Bewältigungshandeln pflegender Mütter sich als ein Prozess charakterisieren lässt, in dem verschiedene Phasen identifiziert werden können (Abb. 1).
Im Verlauf dieses Prozesses vollziehen die Mütter eine beeindruckende Entwicklung: aus anfänglich tiefer Verzweiflung und Hilflosigkeit hin zu einer zunächst angepassten, später lernenden und schließlich Spezialistenstatus einnehmenden Persönlichkeit. Zu den zentralen Erkenntnissen der Untersuchung gehört die Herausarbeitung einer Verlaufskurve des mütterlichen Bewältigungshandelns. Im Folgenden sollen zunächst die einzelnen Phasen dieses Prozesses näher betrachtet werden. Auszüge aus den Interviews veranschaulichen und unterstreichen dabei wesentliche Erkenntnisse.
Bewältigung als Prozess
Phase I: Handlungsunfähigkeit
Den Ausgangspunkt im Bewältigungsgeschehen bildet die mehr oder weniger plötzliche Wahrnehmung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des Kindes. Diese erste Phase ist gekennzeichnet von einer tief greifenden Erschütterung der Mütter. Je nachdem, ob eine Diagnosestellung plötzlich und unerwartet oder nach einer Zeit der Ungewissheit unter dem Damoklesschwert eines ungeheuerlich erscheinenden Verdachts geschieht, durchleben die Mütter in dieser Phase eine existenzielle Krise, gekennzeichnet durch einen schweren Schock, lähmendes Entsetzen und tiefe Trauer. Fast alle interviewten Mütter konnten sich auch nach Jahren noch sehr deutlich an den Moment der Diagnosestellung erinnern, wie diese Mutter, der am Tag nach der Entbindung mitgeteilt wurde, dass ihr Kind an einem Down Syndrom leidet:
„Da ist man auch so geschockt und so weit unten. Und tief unten in einem so großen, tiefen, schwarzen Loch (…). Im fünften Stock lag ich da oben und ich hab' bestimmt mehr als einmal gedacht, ob ich da rausspringe oder nicht. Oder sollte ich lieber mein Kind da rausschmeißen?" (M 09: 478-482).
Das bisherige Leben scheint sich in diesem Moment in nahezu vollständiger Auflösung zu befinden. Zentrale Aufgabe der ersten Phase ist die Bewältigung des Traumas und die Überwindung der schockbedingten Handlungsunfähigkeit.
Phase II: Anpassungsbemühungen
Unmittelbar nach dem Abklingen der ersten Schocksymptome sehen sich die Mütter in der zweiten Phase mit den Konsequenzen der kindlichen Gesundheitsstörung konfrontiert. Die ersten Monate nach Manifestierung der Diagnose sind oftmals geprägt von erheblichen Turbulenzen, großer Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Schwer zu deutende (Verhaltens-)Auffälligkeiten des Kindes, der Bedarf an speziellen Pflegemaßnahmen und die Notwendigkeit vielfältiger Therapie- und Fördermaßnahmen treffen auf eine Leerstelle im Erfahrungsrepertoire der Mütter. Mehr oder weniger hilflos und eingeschüchtert „irren" sie durch das Versorgungssystem und fügen sich unhinterfragt den Anweisungen der professionellen Akteure, wie das folgende Interviewzitat zeigt:
„Das ist schon wie, ja, hilflos alleine in einem Urwald stehen. Ich wusste gar nicht, was es da gab an Therapien oder so. Und dann hat mir die Frühförderung gesagt: ‚Geh mal zur Krankengymnastik‘. Und die hat mir dann gesagt: ‚Du kannst da und da einen Antrag stellen‘. Und dann habe ich das alles so gemacht" (M 08: 343-345).
Die vorherrschenden Bewältigungsmuster in dieser Phase sind die der Anpassung an die Situation und der Versuch, allen Anforderungen gerecht zu werden. Im Alltag bemühen sich die Mütter geradezu verzweifelt um ein Festhalten an gewohnten Routinen. Wenngleich die kindliche Gesundheitsstörung klar vor Augen steht, leben sie faktisch noch in ihrer alten Welt und in der Hoffnung auf eine Rückkehr zum früheren Leben. Noch haben sie nicht realisiert, dass ihnen dies nicht möglich und ein dauerhafter Wandel unumgänglich sein wird.
Phase III: Sukzessiver Kompetenzzuwachs
Mit Eintreten in die dritte Phase wird den Müttern die Nachhaltigkeit der Auswirkungen der kindlichen Gesundheitsstörung zunehmend bewusst. Es kristallisiert sich heraus, dass ein einigermaßen geordnetes „Weiterleben" auf Dauer nur gelingen kann, wenn sie sich der Situation stellen und gezielt Strategien zu ihrer Bewältigung entwerfen. Im Folgenden durchleben sie einen Entwicklungsprozess, dessen zentrales Merkmal das Lernen ist. In großem Umfang werden Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten erworben, um die Voraussetzungen für ein Leben mit einem behinderten Kind zu schaffen, wie diese Mutter verdeutlicht:
„Was ich weiß, habe ich vorwiegend aus Büchern, auch Fachbücher. Also ich hab' einfach viel gelesen. Man beschäftigt sich damit. Und bei der Krankengymnastin, bei der habe ich mir viel abgeguckt" (M 24: 300-303).
Angepasstheit und Passivität sind überwunden, aktives Lernen wird zur zentralen Handlungsstrategie. Damit gelingt den Müttern zugleich die Rückgewinnung der Selbstbestimmung über das eigene Leben und das ihres Kindes. Außerdem ist ihnen bewusst geworden, dass sie zwar in einem gut ausgebauten Gesundheitssystem leben, dort aber weitgehend auf sich allein gestellt sind und es entscheidend auf ihre Eigeninitiative ankommt.
Phase IV: Routinisierung
Nach einer Zeit intensiver Lerntätigkeit lässt sich im Bewältigungshandeln pflegender Mütter eine neue Phase identifizieren, deren Kernaufgabe in der dauerhaften Ausgestaltung des Lebens mit einem behinderten Kind liegt. Die Behinderung und der Umgang damit bilden inzwischen einen inhärenten Bestandteil des Lebens der Mütter. Die erworbenen Kompetenzen werden in Routinen überführt und durch Erfahrungslernen weiterentwickelt:
„Mittlerweile ist es auch so, ich geh' da nicht mehr einfach so immer mit ihm zum Arzt. Ich hol' die Medikamente (…). Wir wissen ja mittlerweile, was wir machen müssen" (M 06: 109-110).
Mit dem Älterwerden des Kindes, der immer größeren Vertrautheit auch mit krisenhaften Auswirkungen der Behinderung, dem Zugewinn an Handlungssicherheit, bedingt durch kontinuierlich steigende Kompetenz und Erfahrung, gelingt es den Müttern, die Herausforderungen nicht nur zu meistern, sondern als Normalität in den Alltag zu integrieren.
Phase V: Spezialistentum
In der fünften Phase hat sich das Leben mit dem behinderten Kind weitgehend stabilisiert und läuft in gewohnten Bahnen. Viele Mütter haben sich inzwischen zu regelrechten Spezialisten entwickelt. Auf der Basis weitreichenden theoretischen und handlungspraktischen Wissens sowie mittlerweile jahrelanger Erfahrung haben sie eine hohe Expertise herausgebildet, ähnlich der Expertise professioneller Akteure. Im Unterschied zu diesen handelt es sich jedoch nicht um ein generelles Spezialistentum. Vielmehr handelt es sich um eine von hoher Individualität geprägte Expertise, gepaart aus Fachwissen und Vertrautheit mit den persönlichen Eigenarten des Kindes, wie das nachfolgende Interviewzitat eindrücklich zeigt:
„Und der Epileptologe sagt mir jedes Mal, er sei der Spezialist der Epilepsie. Aber ich bin im Grunde genommen der Spezialist für diese Epilepsie" (M 23: 453-455).
Gesundheitliche Krisen des Kindes können bereits oftmals im Vorfeld erspürt werden und die Mütter handeln ohne große Überlegungen intuitiv richtig, um sie zu bewältigen. Sie haben ein hohes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und eine hohe Problemlösungskompetenz.
Mütter bedürfen Unterstützung entlang der Verlaufskurve
Die Tatsache, dass den meisten Müttern eine Bewältigung ihrer Lebenssituation gelingt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Zuständigkeit für ein behindertes Kind um eine äußerst kräftezehrende Angelegenheit handelt und die Mütter im wahrsten Sinne des Wortes „Schwerstarbeit" verrichten. Ihren berechtigten Wünschen nach Unterstützung und Entlastung wird jedoch im hiesigen Gesundheits- und Sozialsystem bislang nicht hinreichend Rechnung getragen. Nach wie vor erfolgt eine Konzentration auf das gesundheitlich beeinträchtigte Kind, während den Bedürfnissen der Familien vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Bisher vorhandene Entlastungsangebote wie Kurzzeitpflegeeinrichtungen für pflegebedürftige Kinder oder Familienunterstützende Dienste sind entweder noch nicht flächendeckend vorhanden oder wirken lediglich punktuell entlastend. Es fehlt an einer Gesamtkonzeption, die den speziellen Bedürfnissen insbesondere der Mütter Rechnung trägt und passgenaue Unterstützung zum richtigen Zeitpunkt bereithält. Ein zentrales Ergebnis der empirischen Untersuchung bildet die Erkenntnis, dass wirksame Unterstützungsmaßnahmen einer Orientierung entlang der Verlaufskurve bedürfen.
Eine zentrale Rolle bei der Unterstützung von Familien mit einem behinderten Kind könnte der professionellen Pflege zukommen. Entsprechende Möglichkeiten gibt es bereits heute, beispielsweise durch häusliche Schulung und Beratung nach dem Pflegeversicherungsgesetz oder im Rahmen der sozialpädiatrischen Nachsorge. Wünschenswert wäre ferner ein Ausbau eines zielgruppenspezifischen Case Managements. Als weiteres vielversprechendes Konzept könnte die Familiengesundheitspflege wirksame Unterstützung von betroffenen Familien leisten.
Literatur:
Büker, C. (2010): Leben mit einem behinderten Kind. Bewältigungshandeln pflegender Mütter im Zeitverlauf. Bern: Huber
Bury, M. (2009): Chronische Krankheit als biografischer Bruch. In: Schaeffer, D. (Hrsg.): Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf. Bern: Huber, S. 75-90
Corbin, J.; Hildenbrand, B.; Schaeffer, D. (2009): Das Trajektkonzept. In: Schaeffer, D. (Hrsg.): Bewältigung chronischer Krankheit im Lebenslauf. Bern: Huber, S. 55-74
Glaser, B.G.; Strauss, A.L. (2005): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. 2. Auflage. Bern: Huber
Statistisches Bundesamt (2009): Statistik der schwerbehinderten Menschen. Kurzbericht. Wiesbaden