Humanitäre Hilfe wird weltweit immer bedeutender – dabei werden auch viele Pflegekräfte eingesetzt. Bislang war aber wenig bekannt über die genaue Zahl, Qualifikation, Aufgaben und Erfahrungen der deutschen Pflegekräfte bei internationalen Katstropheneinsätzen. Das Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) hat diese Datenlücke nun erstmals geschlossen und konnte darüber hinaus einen deutlichen Handlungsbedarf aufzeigen.
Die Zahl der Katastrophen nimmt weltweit zu: Naturereignisse, Kriege, Hungersnöte. Fast monatlich berichten die Medien über die Folgen und den Einsatz international tätiger Hilfsorganisationen. Dabei wird immer wieder auf die humanitären Notlagen hingewiesen.
Die Ereignisse in Haiti (Erdbeben 2010) und in Japan (Erdbeben und Tsunami 2011) und ganz aktuell in Syrien zeigen, wie verheerend die Folgen einer Natur- oder von Menschen gemachten Katastrophe sein können. Hierbei kommen nicht nur Hilfen technischer und medizinischer Art zum Einsatz – es werden auch in großem Umfang Pflegekräfte in der internationalen Katastrophenhilfe eingesetzt. Dies trifft insbesondere auf Deutschland zu, das traditionell und in vielfacher Form neben unterschiedlichsten Berufen vor allem auch Pflegeberufe in internationale Katastrophengebiete entsendet, in denen humanitäre Nothilfe gefragt ist. Erstaunlicherweise wissen wir relativ wenig über deren konkrete Einsatzbereiche, die Arbeitsschwerpunkte, die Kernaufgaben und die benötigten Kompetenzen sowie die zu erwartenden Belastungssituationen.
Zwar zeigen uns die Medien im Falle eines Akutereignisses, wie jüngst in Fukushima/Japan, dass die weltweite Katastrophenhilfe funktioniert und unterschiedlichste Berufe offensichtlich erfolgreich vor Ort eingesetzt werden. Doch selbst wenn die Medien im Katastrophenfalle ausführlich berichten, so bleiben die helfenden Menschen und die dahinterstehenden Organisationen häufig im Hintergrund des Geschehens - dies trifft besonders für Pflegeberufe zu.
Auch der pflegewissenschaftlichen Forschung ist dieser Bereich bisher kaum zugänglich, und die Erkenntnisse sind daher vergleichsweise spärlich. Dies liegt im wahrsten Sinne „in der Natur" der Sache: Ereignisse wie Fukushima kündigen sich nicht vorher an und sind deshalb nur schwer in einen Forschungsprozess zu integrieren.
Rolle der Pflegeberufe bei internationalen Einsätzen
Um erstmals systematisch Daten zu Einsatzumfang sowie Anforderungen, Qualifikationen und Aufgaben deutscher Pflegekräfte bei internationalen Hilfseinsätzen zu ermitteln, wurde am Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) der Universität Bremen mit Förderung durch die Robert Bosch Stiftung und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) eine nationale Synopse zur Rolle der Pflegeberufe bei internationalen Katastropheneinsätzen erstellt.
Um eine solide Datengrundlage zu erhalten, wurden zwei Erhebungen durchgeführt. Dabei nimmt die erste Erhebung die Leitungsebene der einzelnen Hilfsorganisationen - Arbeiter Samariter Bund, Ärzte der Welt, Ärzte ohne Grenzen, Cap Anamur, Deutsches Rotes Kreuz, Humedica, Johanniter Auslandshilfe und Medair - in Deutschland, die in den letzten zwei Jahren Pflegekräfte in internationale Hilfseinsätze entsandt haben, in den Fokus. Die zweite Erhebung richtete sich an Pflegekräfte, die Einsatzerfahrung in der humanitären Nothilfe/Katastrophenhilfe aufzeigen können.
Die Analyse der Daten hat ergeben, dass im Jahr 2009 114 Pflegekräfte aus Deutschland in 66 humanitären Projekten gearbeitet haben. Im Jahr 2010 erhöhte sich die Zahl der ausgesandten Pflegekräfte auf 178, welche in 79 Projekten der humanitären Hilfe tätig waren.
Laut Managementbefragung waren 66 Prozent der Pflegekräfte Frauen. Der Großteil (41 %) der vermittelten Pflegekräfte ist zwischen 40 und 49 Jahre alt. Auf Grundlage der Studie ließe sich die „typische" Pflegekraft in der humanitären Nothilfe/Katastrophenhilfe wie folgt charakterisieren:
· Geschlecht: weiblich
· Alter: ca. 40 Jahre
· Sprachkenntnis: Englisch fließend
· Abschluss: examinierte Krankenschwester
· Berufserfahrung: mehr als zwei Jahre
· Anzahl der Einsätze: drei
· Gesamtzeit in Einsätzen: neun Monate
· Interesse an Weiterbildung: ja
Pflegende sind Schlüsselpersonen
Pflegekräfte sind für das Gelingen der Projekte bedeutende Schlüsselpersonen. Zum Portfolio der Pflegekräfte gehören aus Sicht des Managements in allen Organisationen (n = 8) auch fachfremde Aufgaben. Zu den häufigsten Tätigkeiten zählen Administration (8), Notfallversorgung (7), medizinische Logistik (7) und die Sammlung epidemiologischer Daten (7). Pflegekräfte übernehmen zudem in fast allen Organisationen neben pflegerischen Aufgaben, zum Beispiel in Lazaretten (6), auch die psychologische Betreuung von Patienten und Angehörigen (6), Managementtätigkeiten (6) und Prävention (6). In fünf Organisationen nimmt zudem die Ausbildung einheimischen Personals und Planung, Durchführung und Supervision von Impfkampagnen einen wichtigen Stellenwert ein.
Auf der Basis der gewonnenen Daten lassen sich Kompetenzen formulieren, die von Pflegekräften sowie vom Management der Hilfsorganisationen gleichermaßen als Kernkompetenzen definiert werden. Hierzu gehören:
· Fachkompetenzen, zum Beispiel in der Behandlungspflege, Tropenmedizin, Geburtshilfe, Public Health und in epidemiologischen Grundlagen,
· Administrative Kompetenzen, zum Beispiel im Finanzmanagement und der Berichterstellung,
· Soft Skills, zum Beispiel interkulturelle Kompetenz, Teamfähigkeit und Methoden der Wissensvermittlung,
· Führungskompetenzen, zum Beispiel in Projekt-, Personal-, Stress- und Sicherheitsmanagement, Supervision, Evaluierung und Gesprächsführung.
Obwohl 71 Prozent aller erstausreisenden Pflegekräfte an einem Vorbereitungskurs teilnehmen mussten, fühlten sich 77 Prozent nicht gut vorbereitet. Bei 15 Prozent aller Befragten fanden keine Vorbereitungen vor ihrer Erstausreise statt. Der Median der Vorbereitungszeit beträgt laut der befragten Pflegekräfte 14 Tage, mit einer Spanne von 1 bis 40.
Anpassung der Qualifikationsangebote gefragt
Nach Analyse der Ergebnisse wird deutlich, dass die Anforderungen, die ein Einsatz in der Nothilfe/Katastrophenhilfe an die Pflegekräfte stellt, nur teilweise von ihnen erfüllt werden können. Es zeigt sich eine partielle Diskrepanz zwischen den Inhalten organisationsinterner Vorbereitungskurse und den täglichen Anforderungen im Einsatz. Bedarf an Weiterbildung in der humanitären Nothilfe/Katastrophenhilfe zeichnet sich vor allem im Bereich der Sprachkompetenz ab, gefolgt von humanitärer Nothilfe/Katastrophenhilfe, allgemeiner Organisation und Human Ressource Management. 65 Prozent aller teilnehmenden Pflegekräfte würden sich gerne weiterbilden und ihr Kompetenzspektrum erweitern.
Zentrales Kriterium für die Attraktivität eines Weiterbildungsangebotes ist dessen organisationsübergreifende Anerkennung. Zudem spielen Zeitaufwand und die Möglichkeit des berufsbegleitenden Lernens ebenso eine Rolle wie modulare Buchbarkeit, E-Learning-Angebote, Workshopcharakter, Praxisbezug und überschaubare Kosten. Das Management sieht vor allem den Nutzen für die Organisation sowie eine möglichst kurze Ausfallzeit (1 bis 2 Präsenzzeiten pro Jahr) des Pflegepersonals im Fokus. Die präferierten Formen für Weiterbildungsmöglichkeiten in der humanitären Nothilfe/Katastrophenhilfe sind Summerschools und weiterbildende Studien.
Aufgabenspektrum der Pflege erweitern
Im Fazit kommt dem Pflegepersonal in der humanitären Hilfe eine bedeutende Rolle zu. Es zeigt sich ein Aufgabenspektrum, das größtenteils jenseits der hierzulande wahrgenommenen Tätigkeiten der Pflegenden liegt. Die zunehmende Komplexität sowie die steigende globale Verantwortung der Pflegekräfte in diesem Bereich erfordern eine Anpassung der Qualifikationsangebote in Deutschland. Die Übernahme von medizinischen, management- und steuerungsbezogenen Tätigkeiten in der Realität der humanitären Nothilfe/Katastrophenhilfe greift der Diskussion um eine Neuverteilung der Aufgaben im deutschen Gesundheitswesen vor.
International wird diese Diskussion bereits seit einigen Jahren geführt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat gemeinsam mit dem International Council of Nurses (ICN) einen Kompetenzkatalog erarbeitet, der allerdings an die jeweiligen nationalen Bedingungen anzupassen ist. Dies ist bislang für Deutschland nicht geschehen. Es besteht also im Hinblick auf die Vorbereitung deutscher Pflegekräfte auf nationale Katastrophen ein deutlicher Handlungsbedarf. Obgleich die Vermittlung von Katastrophenschutzkenntnissen in der Pflegeausbildung seit 2003 im Krankenpflegegesetz festgeschrieben ist, findet diese in der Praxis bislang kaum statt.
Die ersten Forschungsergebnisse zeigen nicht nur aus Sicht der Wissenschaft, dass noch viele Fragen offen sind und deren systematische (wissenschaftliche) Erfassung und Bearbeitung erst am Anfang stehen. Auch NGOs (Non-Governmental Organizations) und die eingesetzten Praktiker und Praktikerinnen bestätigen diese Einschätzung. Ein Indiz dafür ist zum Beispiel, dass angesichts der Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit dieses Themas, die 1. weltweite Forschungskonferenz der World Society of Disaster Nursing (WSDN) erst relativ spät, nämlich 2010 in Kobe/Japan, abgehalten wurde; die 2. folgte im August 2012 in Cardiff/Wales. Unbestritten vielfältig sind dagegen das vorhandene Erfahrungswissen und die langjährigen Erkenntnisse aus der Praxis. Dies trifft insbesondere für jene zu, die selbst vor Ort in der humanitären Nothilfe beziehungsweise in der internationalen Katastrophenhilfe tätig waren oder - wie die NGOs - diese organisieren.
Deutlich wird eines ganz sicher: Es handelt sich hier um ein Einsatzgebiet, das hohe Anstrengungen in allen Bereichen erfordert. Die immensen Herausforderungen an die eingesetzten Pflegenden wie auch an alle anderen Berufe sind nur durch hohe persönliche Einsatzbereitschaft und umfassende Kompetenzen erfolgreich zu bewältigen. Die fachliche und soziale Professionalität gerade der eingesetzten Pflegekräfte sind eine der wichtigsten Säulen für den Erfolg in der humanitären Not- und Katastrophenhilfe. Da in der Zukunft die Notwendigkeit professioneller Helfer in diesem Bereich steigen wird, ist es unumgänglich, das Aufgabenspektrum der Pflege zu erweitern und die Professionalisierung der Berufsgruppe auch in Deutschland voranzutreiben.
Anschrift der Verfasser:
Prof. Dr. Stefan Görres, Niels Harenberg, Theresia Krieger