• 01.07.2008
  • Management

Auch die Altenpflege hat ihr Berufsethos

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 7/2008

Was kann und soll geschehen, wenn sich die Pflegenden physisch oder psychisch überfordert fühlen, wenn das ihnen Abverlangte nicht mit ihrem Sinn fürs Praktische, mit ihrer Kenntnis der zu Pflegenden, mit ihrem Gewissen übereinstimmt? Der Autor hat Nachdenkliches in folgendem Beitrag zusammengetragen.

Konflikte lassen sich durch den begrenzten Zeittakt für eine Pflegeeinheit und dessen Dokumentierung oft nicht vermeiden. Zum Eintragen von Zuwendung und Zuspruch zu den Patienten ist keine Spalte vorgesehen. Die Pflegeversicherung aber zählt auch das „Trösten" und die „Sterbebegleitung" zu den Aufgaben der Altenpflege.
Auch der Begriff des „anderen Heilberufs" (Artikel 74, Absatz 2, Nr. 19 des Grundgesetzes), dem die Altenpflege zugeordnet ist, was eine bundeseinheitliche Ausbildung nach dem Altenpflegegesetz (AltPflG) vorschreibt, schließt das Sozialpflegerische mit ein. Es gehört mit zum „Heilen". Es hat anerkanntermaßen, wie das Seelsorgerische, einen nicht zu unterschätzenden therapeutischen Effekt. Aber Extra-Zeiteinheiten sind nicht vorgesehen. Im Blick auf gerontopsychiatrische Patienten hat der Gesetzgeber einiges nachgebessert. Das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz (PflEG vom 1. 1. 2002) berücksichtigt Pflegebedürftige mit einem überdurchschnittlichen Betreuungsbedarf. Dazu zählt auch ihre Beaufsichtigung undBetreuung. Das Sozialgesetzbuch erkennt die „Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf" (SGB XI, § 45a–c) an. Es verlangt eine „Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen" (§ 45c).

 

Ökonomisierung darf menschliche Werte nicht opfern
Es gehört zu einem hohen Pflegeethos, nicht nur Abrechnungsfähiges zu leisten, sondern berufsbegleitend oder extra Zeit für Kontakte mit den Patienten aufzuwenden. Die Motivation dazu wird in der Ausbildung und auf Fortbildungen gelehrt. Solche Werte dürfen nicht einer immer strafferen Ökonomisierung geopfert werden.
Pflege bleibt eine personennahe Beziehungspflege. Sie begrenzt sich nicht auf physische Dienstleistungen. Eine Missachtung des Zwischenmenschlichen erschwert die Pflege. Um zu verhindern, dass ein Drittel der neu in ein Pflegeheim Aufzunehmenden erfahrungsgemäß in den ersten drei Monaten stirbt, müssten überdurchschnittlich viel Zuwendung und Zuspruch, Kontakt und Zuneigung aufgebracht werden. Werden Patienten eingeliefert, ohne vorher mit der Einrichtung, deren Mitarbeiter und Angebote vertraut gemacht zu werden, fällt die Eingewöhnung umso schwerer. Wie kann ihnen in ihrer letzten Lebensphase, wie vorgesehen, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden (SGB XI, § 2)? Ein Spagat zwischen limitierter Pflege und menschlicher Betreuung ist unzumutbar.

 

Extra-Zeiteinheiten sind nicht vorgesehen
Nicht abrechenbar ist zum Beispiel der geduldige, liebevolle Umgang mit unruhig Verwirrten, statt sie medikamentös ruhigzustellen; sind die aktivierende Pflege und das Anleiten zum möglichst eigenständigen Essen, Trinken, An- und Ausziehen, Gehen usw.; ist das zeit- und arbeitsaufwendige Abheilen eines Dekubitus; ist die Geduld mit jemandem, statt ihm zu drohen und zuzupacken; ist das Dasein für Patienten, sie freundlich zu begrüßen und auf sie einzugehen, ein Gebet mit oder für sie zu sprechen, statt kurz angebunden zu sein.
Zuspruch und Zuwendung, Zuneigung und Aufmerksamkeit werden im Pflegeplan nicht ausgewiesen. Sie sind nicht abrechenbar, auch wenn der Heilungsprozess durch sie unterstützt oder die Alterung verzögert wird: Seelischer Beistand kann entkrampfen. Es ist vorgekommen, dass eine ganzheitliche Beziehungspflege Medikamente, langwierige Behandlungen und Therapien entbehrlich gemacht hat. Ein Großteil der Erkrankungen – erst recht der Missstimmungen, der Einsamkeitsgefühle, der Vernachlässigung, des Sinnierens und der Selbstisolierung – ist primär seelisch bedingt.
Ein Grundsatz der Beziehungspflege lautet, nicht die Krankheit, sondern den Mitmenschen, der an diesem und jenem erkrankt ist, zu behandeln und zu pflegen. Altwerden ist, vergleichbar mit dem Austragen eines Kindes, ein natürlicher Vorgang. Es kann von akuten und chronischen Erkrankungen, von Leiden und Behinderungen begleitet sein. Erforderlich ist in jedem Fall eine den ganzen Menschen beobachtende und therapierende Pflege. Die Leistungsbegrenzung auf die körperlich-funktionale Pflegebedürftigkeit ist, auch mit dem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz (PflEG, mit der Erweiterung des SGB XI, § 45 auf die Teile a–c, 2002: „Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf"), durchbrochen worden.

 

Clinical Pastoral Training für alle Bereiche
Die Soziale Pflegeversicherung von 1995 schreibt vor: „Auf die religiösen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen ist Rücksicht zu nehmen. Auf ihren Wunsch hin sollen sie stationäre Leistungen in einer Einrichtung erhalten, in der sie durch Geistliche ihres Bekenntnisses betreut werden können" (SGB XI, § 2 [3]). In den öffentlichen Krankenhäusern istdie Seelsorge gesetzlich geregelt, nicht in den Pflegeheimen. Es gibt keine vom jeweiligen Regierungspräsidenten eingerichteten Pflegeheimpfarrstellen, vergleichbar den Krankenhauspfarrstellen.
Patienten, die im Krankenhaus seelsorgerisch betreut und als „Pflegefälle" einem Heim übergeben wurden, entbehren die gewohnte seelsorgerische Betreuung. Sie obliegt in Pflegeheimen den konfessionellen Ortsgemeinden. Aber die Mitarbeiter in Gemeinden/Pfarreien fühlen sich vielfach mit solchen Aufgaben überfordert. Auch eignet sich nicht jeder Kirchenmitarbeiter für die seelsorgerische Betreuung, zumal nicht von Dementen und Sterbenden. Das will eingeübt sein. Für die Krankenbetreuung hat sich die Einweisung durch ein „Clinical Pastoral Training" (CPT) bewährt. Eine entsprechende Einweisung in die Heim-, Alten-, Dementen- und Sterbendenseelsorge fehlt.
Eine zusätzliche Seelsorge kann den Pflegenden nicht abverlangt werden, obwohl sie die engsten Bezugspersonen sind. Es gibt Pflegende, die eine solche Aufgabe übernehmen würden, doch ihr Arbeitspensum lässt ihnen keine Zeit. Voraussetzung, um seelisch betreuen zu können, ist auch, dass sich der oder die Bereitwillige mit der Möglichkeit des eigenen Leidens und Sterbens auseinandergesetzt hat. Gegen das vermehrte Sterben in Pflegeheimen abzustumpfen, erschwert die Dienstbereitschaft der Mitarbeitenden, belastet sie psychisch und hilft keinem der Betroffenen.
Eignet sich jemand im Pflegeteam aufgrund seiner seelischen Konstitution für die Seelsorgebegleitung, müssten die Teammitglieder ihn oder sie von anderen Aufgaben möglichst entlasten. Seelsorge bleibt nicht nur dem Berufsseelsorger vorbehalten.

 

Sterbehilfe oder Sterbendenbeistand
Auch die Berücksichtigung des Lebens- oder Sterbewillens dauernd Leidender, die unwiederbringlich vom Tod gezeichnet sind, evtl. auch dement sind, verdient eine ethisch relevante Antwort. Sie darf keinem Generationenkonflikt, keiner Nützlichkeits- und keiner Finanzierungserwägung überlassen bleiben. Der australische Bio-Ethiker Peter Singer stieß 1989 als Befürworter der aktiven Euthanasie auf heftigen Protest. In Amerika denkt man offen darüber nach, wie viel eine moderne Gesellschaft für ihre Alten zu zahlen bereit ist. Im Hintergrund stehen der demografische Wandel, die „Altlasten" einer übermäßigen Verschuldung, die steigenden Kosten der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen.
Diese Fakten dürfen nicht zur Aufkündigung des Generationenvertrages oder gar zur „sozialen Indikation" führen. Es geht um den Schutz des Lebens, nicht nur des ungeborenen und des behinderten, auch des alten bzw. altersbehinderten. Wer oder was bewahrt Menschen vor leichtfertigen „Endlösungen"? Ausweglosigkeit ist kein ausreichendes Motiv, die verbotene Schwelle von Tötungen zu überschreiten.
Zur ganzheitlichen Pflege gehört auch die palliative. Den Versicherten wird der Anspruch auf einen Zuschuss für stationäre oder teilstationäre palliativmedizinische Behandlung und Pflege zugesichert. Das schließt auch ambulante Hospizdienste mit ein, „die für Versicherte, die keiner Krankenhausbehandlung und keiner stationären oder teilstationären Versorgung in einem Hospiz bedürfen, qualifizierte ehrenamtliche Sterbebegleitung in deren Haushalt oder Familie erbringen" (SGB V, § 39a). Bundesweit sollen 250 bis 300 Palliativ Care Teams die palliative Versorgung übernehmen. In der Regel besteht ein solches Team aus einem Arzt, einer Pflegekraft und einem psychosozialen Betreuer. Auf Wunsch kann ein Seelsorger hinzugebeten werden.

 

Versorgungsdefizite und Pflegefehler?
Bevor Versorgungsdefizite und Pflegefehler den Pflegenden angelastet werden, sollte gefragt werden, wieweit die Öffentlichkeit von ihnen verlangen darf, die Differenz nicht gezahlter, aber menschlich notwendiger Leistungen zusätzlich und unentgeltlich zu erbringen. Der Personalbedarf kann nicht nur am Pflegebedarf, er muss auch am individuellen Betreuungsbedarf gemessen werden. Und der steigt bei zunehmendem Älterwerden und der wachsenden Zahl der Singles unter den Älteren. Hinzu kommen die erhöhten Ansprüche an die Pflegequalität. Unter der sinkenden Vollbeschäftigung und dem sich verlangsamenden Wirtschaftswachstum leidet aber auch das Sozialsystem. Unter veränderten Refinanzierungsbedingungen fällt es schwer, mit weniger Mitteln mehr zu leisten, bei einer Kostenminderung die Pflegequalität noch zu steigern.
Bei einer abnehmenden Bereitschaft zur familiären Pflege, bei zunehmenden Qualitätsforderungen und einer wachsenden Zahl pflegebedürftiger werdender Älterer, deren Anteil an Singles wächst, sollten sowohl die ambulante als auch die vollstationäre Pflege weiter ausgebaut werden. Der Regelbeitragssatz zur Pflegeversicherung steigt. Aber die Leistungen für die Stufen I und II der vollstationären Pflege bleiben ab 1. Juli 2008 unverändert, obwohl die Personal-, Sach-, Energie- und andere Kosten steigen. Dagegen werden die Leistungen für die ambulante Pflege in den Pflegestufen I und II ab 1. Juli 2008 in drei Etappen bis zum Jahr 2012 angehoben. Nur für die Stufe III und für Härtefälle werden sie vollstationär angehoben und bleiben ambulant konstant.

Die Absicht ist klar: Pflegepatienten der Stufen I und II sollen aus den Heimen ausgelagert und ambulant gepflegt, Schwerstpflege- und Härtefälle in die Heime gebracht werden. Man geht davon aus, dass die Auszulagernden von Familie, Nachbarn und Initiativen, auch in den Kirchengemeinden, von Hilfsorganisationen, in Einrichtungen des betreuten Wohnens und in Mehrgenerationenhäusern versorgt und gepflegt werden.Professor Dörner, der frühere Leiter des Psychiatrischen Krankenhauses Gütersloh, propagierte, auch auf dem 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag 2007 in Köln, die Auslagerung von psychiatrischen Patienten, auch von Altenheimbewohnern. Die außerfamiliäre, dauernde Pflege- und Versorgungsbereitschaft und -fähigkeit von nicht fachlich ausgebildeten Freiwilligen wird dabei überschätzt. Rund um die Uhr Demente und Inkontinente zu pflegen und zu versorgen, mit ihnen Kontakte zu pflegen, sie zu unterhalten und zu beschäftigen, ist keine Aufgabe für gutwillige „Laien".

 

„Goodies" für den Pflegeberuf
Das Gesetz zur Sicherung der Pflegequalität (PQSG) hat die Angebote der Pflegeeinrichtungen transparenter gemacht. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) kann den erforderlichen höheren Betreuungsaufwand Schwerstpflegebedürftiger, gerontopsychiatrisch Erkrankter und Desorientierter festlegen. Das dient der Entlastung der in der Pflege Tätigen. Aber immer noch verlassen 80 Prozent der Altenpflegefachkräfte bis zum fünften Jahr nach Abschluss ihrer Ausbildung den Beruf, ein Drittel schon nach einem Jahr Vollbeschäftigung. Die freien Stellen können zurzeit zu einem Teil von „eingesparten" Krankenpflegenden besetzt werden. Der Trend zur Abnahme der voll Ausgebildeten kann bis zu einem gewissen Grade dadurch umgekehrt werden.
Aber verlockender als durch Imagekampagnen wird der Pflegeberuf durch finanzielle Anreize, durch eine gewisse Berufsautonomie, familienfreundliche Arbeitszeiten, transparente Strukturen und klare Kompetenzzuweisungen, gute Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten und die Verwirklichung des auf Fortbildungskursen Erlernten („fordern und fördern").

Weitere „goodies" sind eine Belohnung für Verbesserungsvorschläge, das Angebot von Qualitätszirkeln und Projektgruppen, eine gute Mitarbeiterorientierung, die Beteiligung an Planungen, an beruflichen und organisatorischen Fragen, an Veränderungen (Ziele transparent machen), an der Gewinnung und Einführung neuer Mitarbeiter, die Bereitstellung von Hebe- und Transferhilfen, Hilfen zu betrieblichen Gesundheitspräventionen, beispielsweise Rückenschule und Kinästhetik, und Kindergartenplätze in erreichbarer Nähe. Mitarbeiterentwicklungsgespräche können Fähigkeiten, Eignungen und Kenntnisse einzelner Mitarbeiter ermitteln, um sie entsprechend ihren Gaben und Neigungen einzusetzen. Unverzichtbar für ein gutes Arbeits- und Wohnklima ist mehr Zeit zur Kommunikation mit den Bewohnern durch weniger Bürokratisierung.

 

Erschwernisse in der Pflege
„Schwarze Schafe" gibt es überall, auch in der Pflege. Aber eine negative Berichterstattung darf nicht dazu verleiten, in der Pflege hier und da auftretende Katastrophen und Fehler so hinzustellen, als beträfen sie die Gesamtheit der Pflege. Die Pflegekräfte wären dankbar, wenn ihre Arbeit von Ärzten begleitet würde und sie von ihnen Anweisungen bekämen. Entsprechend weniger Fehler würden ihnen unterlaufen. Weiß die Öffentlichkeit von dem engen Personalschlüssel in der Pflege und aufgrund welcher Vorlagen er festgelegt wird? Eine bundesweite Studie der Heimaufsicht in Nürnberg, an der 800 Heime teilnahmen, ermittelte, dass 38 Prozent der Heime im Untersuchungszeitraum keinen Gynäkologen im Haus hatten, obwohl der Frauenanteil in den Häusern bei 80 Prozent lag. In 18 Prozent der Heime blieben Mediziner kontinuierlich fern. Orthopäden kamen nur in 44 Prozent der Heime, obwohl drei Viertel der Bewohner in ihrer Mobilität beeinträchtigt sind.
Hilft eine Neuverteilung der Aufgaben zwischen Ärzten und Pflegefachkräften? Den Pflegenden sollte mehr Kompetenzauch in Verordnungen zugestanden werden. Andere plädieren dafür, dass Medizinalfachangestellte (früher: Arzthelferinnen) außerhalb der Praxis Leistungen erbringen, die von den Vertragsärzten über ihr Budget abgerechnet werden.

 

Zum Berufsethos der Altenpflegenden gehört vorrangig die psychische Betreuung. Psychisch belastend wirkt sich aus, dass viele erst ins Heim kommen, wenn sie hinfällig, vielleicht schon multimorbid sind. Die durchschnittliche Verweildauer in Pflegeheimen verringerte sich dadurch auf anderthalb bis zwei Jahre. Rehabilitierung von Alterspatienten gelingt kaum noch. Sollen irgendwann nur noch Patienten der Pflegestufe III und so genannte Härtefälle vollstationär gepflegt werden, hätte das unvorstellbare Auswirkungen auf die Pflegemotive und auf die Pflegeausbildung. Pflegende Familienangehörige und Nachbarn lösen das Problem nicht. Ob das Versorgungssystem dadurch preiswerter wird, steht in Frage.
Es würde zu einem erheblichen Qualitätsverlust führen. Pflegeheime wird es auch in Zukunft geben müssen, auch weil viele Schwache nicht alleine leben können.

 

 


 

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